Der Frage nach der Wirklichkeit geht Benjamin Bartsch aus theologischer Perspektive nach und überführt sie in die religionsphilosophische Frage nach Gott. Eine Tagung in der Schweiz hat sich der Herausforderung rational verantworteter Gottesrede gestellt.
Die Frage danach, was unter „Wirklichkeit“ – zumal „Gottes Wirklichkeit“ – zu verstehen sei, ist weder neu noch originell. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dennoch schnell, dass trotz vieler Versuche im Laufe der Geistgeschichte, die Frage zu klären, keineswegs unmittelbar klar ist, was damit eigentlich gemeint ist. Ebenso fällt auf, dass diese Wirklichkeitsfrage ständig in andere theologische Fragen verwickelt ist, von denen sie mitunter verdeckt oder verschoben wird. So standen vor allem Fragen nach der Erkennbarkeit Gottes und der Möglichkeit der Rede von Gott im Mittelpunkt der religionsphilosophischen und theologischen Debatten seit der Aufklärung und der Moderne. Zu denken wäre hier zum Beispiel an die Diskussionen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Gottesbeweisen oder an die metapherntheoretischen Diskurse um die angemessene Sprachform religiöser Rede von Gott.
Eine vieldimensionale Suche nach Annäherungen an Gott.
Auf diesem schwierigen Frageterrain bewegte sich in diesem September eine Gruppe von Forscher*innen um Veronika Hoffmann.[1] Dass die Tagung „wirklich“ – und nicht nur „virtuell“ – stattfinden konnte, war ein Balanceakt, der ganz zum Schluss aufgrund der Coronabedingungen noch örtliche Verlegung erforderlich machte. Bei den angeregten Diskussionen der insgesamt zwanzig Teilnehmenden– unter ihnen zehn Referierende[2] – wurde das Feld aus sehr verschiedenen disziplinären Perspektiven ausgeleuchtet: theologisch, philosophisch und religionswissenschaftlich. Ein Konsens oder eine umfassende Bearbeitung des Themas waren dabei weder beabsichtigt noch wurden sie erreicht. Dem entspricht, dass auch im Folgenden weder eine Synthese noch Vollständigkeit angestrebt ist. Vielmehr wage ich den Versuch, aus meiner theologischen Perspektive einige Grundformationen in diesem Gelände zu benennen.
Wenn sich das Mögliche aktualisiert
Der Begriff des „Wirklichen“ tritt oft als Kontrastbegriff auf: In den vergangenen Monaten ist er auch als Gegenbegriff zum „Virtuellen“ begegnet. In der Philosophiegeschichte ist das „Wirkliche“ häufig im Gegensatz zu dem bloß „Möglichen“ dasjenige, was sich aktualisiert; das, wovon man sagen kann, es sei ein ‚etwas‘, das in der Wirklichkeit‚ da‘ ist. Es handelt sich dabei also nicht um etwas, das bloß sein könnte. Gleichzeitig grenzt der Begriff des „Wirklichen“ sich von dem des „Unmöglichen“ ab: Was wirklich ist, ist aktualisierte Möglichkeit, so die berühmte Begriffsbestimmung von Aristoteles. Die Metaphysik hat klassisch als die Wissenschaft fungiert, in der diese Fragen bearbeitet wurden. Mit Bezug auf Gott wäre von ihr her zu fragen, ob sich religiöse Sätze, die sich auf Gott beziehen, auf ‚etwas‘ beziehen, und falls ja, welcher Status diesem ‚etwas‘ zukommt.
Lässt sich von Gott sprechen?
Spätestens seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Erkenntniskritik ist solches Fragen schwierig geworden: Da, wo man Einsicht in die unhintergehbare Subjektgebundenheit aller Erfahrung gewonnen hat, kann man nicht mehr einfach unschuldig von Gott, so wie er für sich ist, sprechen. Hier kommt es zu den eingangs schon bemerkten Verwicklungen und Verschüttungen der Wirklichkeitsfrage in andere Fragen: Ist die Existenz eines Gottes, der von mir und der Welt verschieden ist, unter diesen Erkenntnisbedingungen überhaupt – erkennbar? Und: Steht uns überhaupt eine Sprache zur Verfügung, um von einer von Mensch und Welt verschiedenen Wirklichkeit zu sprechen?
Die Frage, wie etwas da ist
Schon der flüchtige Blick auf den Gebrauch des Wortes „wirklich“ zeigt, wie kultur- und standortgebunden schon dieses Fragen an sich ist: So warf der Fribourger Philosoph Filip Karfik anlässlich der Tagung die Frage auf, ob es sich hier nicht womöglich um eine typisch deutsche Frage handele: Wo man im Deutschen überrascht „wirklich?“ fragt, würden eine Engländerin „really?“ und ein Franzose „vraiment?“ fragen. Das Moment des überraschten Zurückfragens evoziert damit in den drei Sprachen durchaus verschiedene Assoziationen: im Englischen mit dem „Realen“, im Französischen mit dem „Wahren“ und im Deutschen eben mit dem „Wirklichen“. Nun wäre es sicher übertrieben, die Frage nach der „Wirklichkeit“ als eine ausschließlich deutsche zu kennzeichnen; aber zumindest – und darauf kommt es nun an – platziert sich dieser aus Meister Eckarts Mystik überkommene Begriff in einem bestimmten Vorstellungraum:[3] Es handelt sich nicht nur um die Frage, ob etwas ‚da‘ oder ‚real‘ ist und auch nicht nur um die Frage, ob etwas ‚wahr‘ und eben nicht ‚falsch‘ ist, sondern um die Frage nach der spezifischen Art, wie etwas da ist, wie es eben ‚wirkt‘. Bereits diese kleine Einsicht, wie sprachabhängig schon unsere Fragestellung ist, führt noch einmal zurück zu dem Problem, ob das Projekt einer Metaphysik und Ontologie nicht so sehr in andere Fragen verwickelt ist, dass es eigentlich aufzugeben wäre.
Die Annahme der Wirklichkeit Gottes.
Nun führt aber theologisch auch der Versuch, die Wirklichkeitsfrage konsequent zu verabschieden und sich ausschließlich an den erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten der Rede von Gottes Wirklichkeit abzuarbeiten, zu durchaus prekären Konsequenzen: Wo man nicht mehr zu sagen vermag, in welcher Weise das ‚wirklich‘ ist, was als Gott angesprochen wird und wie es sich zu aller Wirklichkeit verhält, setzt man sich leicht dem Verdacht aus, den Bezugspunkt theologischen Redens so sehr ins Ungefähre aufzulösen, dass dieses seine Referentialität verliert und damit sinnlos wird. Angesichts dieser Gefahr, die Folge der Verwicklung der Wirklichkeitsfrage in die Frage nach Gottes Existenz und nach der möglichen Sprache für ihn, bringt Veronika Hoffmann den Gedanken einer „hypothetischen Ontologie“ ins Gespräch: Wenn man die erkenntnistheoretische Problematik einmal für einen Moment einklammert, wie wäre dann Gottes Existenz ‚selbst‘ zu denken? Oder: „Welche Gesamtverständnisse von Wirklichkeit lassen es zu, eine Wirklichkeit Gottes zu denken, und in welcher Weise?“[4]
Weltentwurf – eine Form des Wirklichkeitsverständnisses
Diese Art zu fragen legt m. E. den Gedanken einer hermeneutisch orientierten und auf Modellbildungen angelegten Ontologie nahe: Das Projekt wäre keinesfalls der Entwurf eines großen Systems, in dem am Ende alles seinen Platz hätte und dessen Anspruch wäre, die Welt und gar Gott abzubilden. Vielmehr könnte das Ziel einer solchen „hypothetischen Ontologie“ sein, im Gespräch mit verschiedenen Wirklichkeitsverständnissen in Modellen zu beschreiben, was die Rede von Gottes Wirklichkeit bedeuten kann und wie diese Wirklichkeit sich zur Welt verhält. Nicht Weltabbildung, sondern Weltentwurf wäre also der hermeneutische Impetus solcher Modelle: Für die Verständlichkeit und Legitimität von Theologie hängt viel daran, dass sie zeigen kann, im Rahmen welchen Wirklichkeitsverständnisses ihre Aussagen über Gott stehen, was sie unter diesem Wort versteht. Weiterhin ist zu explizieren, wie dieses theologische Wirklichkeitsverständnis zu anderen Wirklichkeitsverständnissen verhält, wo es mit ihnen vermittelbar ist oder diese kritisch hinterfragt.
Mit der Frage nach Gott Annäherungen an die Wirklichkeit suchen
Wer so fragt, zieht freilich leicht den Vorwurf auf sich, dass er die eingangs bemerkten erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Verkomplizierungen der Gottesfrage einfach beiseite schieben und zu einer von diesen Fragen unberührten Metaphysik zurückkehren wolle. Dies ist natürlich hier keineswegs angestrebt, und ich sehe mindestens zwei Sicherungen gegen diese Gefahr, die im Vorschlag einer „hypothetischen Ontologie“ schon integriert sind: 1. Es geht um Modelle mit hermeneutischem Charakter und nicht um wirklichkeitsabbildende Systeme. Die Einsicht in die genannten erkenntnistheoretischen und sprachlichen Schwierigkeiten ist in ihnen schon „eingebaut“. Als Kriterium ihrer Tragweite könnte man ihre „explikative Kraft“ benennen: Wie weit sind unsere Modelle von Gottes Wirklichkeit in der Lage, Wirklichkeit zu erschließen und die Sinnhaftigkeit theologischer Aussagen über Gott zu explizieren? 2. Die Frage nach der Wirklichkeit Gottes lässt es auch zu, die Verwicklungen der Wirklichkeitsfrage in andere Fragen mitaufzunehmen und noch einmal für diese produktiv werden zu lassen: Eine ‚hypothetische Ontologie‘ hätte auch die Frage aufzunehmen, was es eigentlich über die Wirklichkeit sagt, dass ihre Erkenntnis nicht abgelöst von den Erkennenden möglich ist. Wenn Gott ist, dann hat eine Beschreibung seiner Wirklichkeit auch die Frage mitzubedenken, was es eigentlich über ihn sagt, dass er nicht ohne unsere Wirklichkeit und nur in unserer Sprache erkenn- und sagbar ist.[5]
Rationale Verantwortbarkeit theologischer Rede von Gott
Nun sind mehr Fragen aufgeworfen als Antworten in Sicht sind; dies entspricht auch dem Charakter der Fribourger Tagung als interdisziplinärer Suchbewegung. Es sind Fragen, bei denen es sich meiner Ansicht nach lohnt, weiterzufragen: Von ihrer Bearbeitung hängt die rationale Verantwortbarkeit theologischer Rede von Gott und seiner Wirklichkeit entscheidend ab.
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Autor: Benjamin Bartsch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik (Veronika Hoffmann) an der Universität Freiburg (Schweiz).
Foto: Joel Filipe / unsplash.com
[1] Die Tagung des Lehrstuhls für Dogmatik der Universität Fribourg unter dem Titel „Wirklich? Konzeptionen von Wirklichkeit und der Wirklichkeit Gottes“ fand vom 24.-26.9.2020 im Kloster Kappel statt.
[2] Referate wurden vorgetragen von: Christine Büchner, Veronika Hoffmann, Filip Karfik Isabelle Mandrella, Thomas Schärtl, Hartmut von Sass, Jens Schlieter, Hans Julius Schneider, Jürgen Werbick, Stephan Winter. Die folgenden Ausführungen sind nicht als Zusammenfassung dieser Vorträge zu verstehen, verdanken diesen aber zum Teil entscheidende Anstöße.
[3] Diesen Hinweis verdanke ich Christine Büchner.
[4] Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript von Veronika Hoffmann.
[5] Die Anregung zu diesem zweiten Punkt verdanke ich Christine Büchner.