«Das flüchtige Nu des Lebens» – unter diesem Titel ist vor kurzem ein Lesebuch mit Texten des Theopoeten Gottfried Bachl erschienen. Franziska Loretan-Saladin stellt es hier vor.
Von 1970 bis 1998 lehrte Gottfried Bachl Dogmatik, zunächst in Linz, dann in Salzburg. Dass ich seinem Namen und seinen Büchern[1] in meinem Theologiestudium nie begegnet bin, erstaunt mich rückblickend. Seit meiner einzigen und schönen Begegnung mit Gottfried Bachl bei der Aschermittwochsfeier in Salzburg im Jahr 2012, sprechen mich seine Texte immer wieder aufs Neue an. Zuerst waren es seine Gedichte und Gebete[2], später auch seine «Theologische Prosa» wie etwa Der beneidete Engel[3].
Es ist eine Freude, dass mit Das flüchtige Nu des Lebens nun ein Gottfried-Bachl-Lesebuch vorliegt.
Der Herausgeber Wilhelm Achleitner war Bachls Assistent in Salzburg und blieb mit diesem zeitlebens verbunden. Zusammen mit Heinrich Schmidinger und Alois Halbmayr publizierte er 2022 den Sammelband Zur Freiheit befreit[4], in dem Schülerinnen und Freunde Schwerpunkte von Bachls Werk würdigen. Neben den 21 Büchern, Rezensionen, Salzburger Briefen u.a. hatte Bachl weitere 132 Beiträge in diversen Publikationen veröffentlicht. Für das Lesebuch hat Achleitner «aus dieser Sammlung wichtige Abschnitte ausgewählt und zu zehn Schwerpunktthemen zusammengestellt»[5]. Ergänzt werden diese von Gedichten und Gebeten, sowie prägnanten Sätzen aus dem Nachlass und aus einem selbst gestalteten Jahreskalender mit kurzen Sprüchen, einem Geschenk Bachls an seinen Freund.
Mitten unter uns – Weihnachten 1966
Allen Texten voran stellt Wilhelm Achleitner den ersten Artikel des damaligen Kaplans Bachl zu Weihnachten 1966.
Was sich auf der Welt rührt, ist irdische Rührung. In allen Spiegeln sehen wir uns selber und nie erscheint das ganz andere, das letzte Gesicht. (11)
So beginnt sein Weihnachtsartikel. Auch danach: Keine Familienidylle an der Krippe – oder nur gebrochen: Die Kerzen am Weihnachtsbaum müssten flackern angesichts der Schuld der Vergangenheit:
Rund um Mauthausen stehen unsere warmen, trauten Häuser. Mehr davon zu sagen ist nicht ratsam, denn wehe dem, der noch so viel echte Scham besitzt, nicht nur von der guten alten Zeit zu trällern. (…) er ist ein Friedensstörer. (11f)
Danach fährt Bachl mit jener Sprachform weiter, die sein Denken geprägt hat: Er stellt Fragen. Zuerst die Frage an uns selbst: Weshalb es den Menschen nicht gelingt, ihre Freiheit zum Wohle aller und der ganzen Schöpfung zu nutzen. Und dann «die Frage, warum es so ist (…). Und sie ist immer, in der Wurzel wenigstens, eine Frage nach oben» (13):
Wenn es Gott gibt, warum tut Er nichts, warum schaut Er zu? Amüsiert Ihn das Spektakel etwa, oder ist Er ohnmächtig? Tut Er vielleicht wirklich das, wozu Ihn Seine Gläubigen, fromm gestimmt, einladen: schlafen in himmlischer Ruh? (13)
Da ist diese Direktheit zu finden, die Bachls Schreiben charakterisiert: Er kennt die Fragen der Menschen. Es sind auch seine eigenen. Keine frommen Floskeln können auf diese existenziellen Fragen eine Antwort geben. Gott hat nicht laut geantwortet, sondern so:
Dieses Wort kam zunächst wortlos, in der Gestalt des Kindes. Hilfloser geht es nicht. (13)
Schon in diesem Weihnachtstext findet sich ein kritischer Blick auf die «in letzter Zeit ein wenig redselige Kirche» (14), die sich wortreich um Erneuerung bemühe. Bibelgewandt erinnert Bachl an Paulus: «Das Reich Gottes besteht nicht im Wort, sondern in der Kraft», um am Ende darauf hinzuweisen, wer damals in Bethlehem an der Krippe stand:
… weder die Progressiven noch die Konservativen. Weder der fortschrittliche noch der Rückständige Klerus war da, es fehlten die Laien alten Stils und die mündigen. Abwesend war vor allem die Frage, was alt und neu ist. Denn wo die Wahrheit selbst erscheint, sind jene Begriffe sinnlos. (16)
Sprache, Ästhetik, Theologie
Im ersten Schwerpunktthema des Lesebuches mit dem Titel «Begutachtung einer Kreuzigung» sind Texte versammelt, die den Kennzeichen von Bachls Schreiben zugeordnet werden können: Sprache, Ästhetik, Theologie. Das klingt in einem kurzen Kalendertext etwa so:
Ich bin froh, dass
ich nicht weiss,
wer ich bin.
Gott wird es mir sagen. (18)
In einer Reflexion über die Predigt ist zu lesen, worin Bachl den Grund für deren Misere sieht: Der Spalt zwischen der religiösen Sprache und der Vorstellungswelt der Prediger (damals noch ausschliesslich zölibatäre Männer) und dem, was die Menschen wirklich bewegt. Dass die christliche Verkündigung kaum Anstosskraft besitze, rühre daher, «dass sie fragefeindlich ist oder, wenn es hochkommt, sich die Frage des anzusprechenden Menschen lieber selbst fingiert, statt sie mühselig zu erlauschen.» (20)
Beobachtungen beim Zuhören einer geistlichen Ansprache
Ebenfalls für jene, die predigen, können die Beobachtungen nützlich sein, die Bachl einst beim Zuhören einer geistlichen Ansprache anstellte, um sich gegen den Schlaf zu wehren: «Wie viele Ist-Sätze, wie viele Soll-Sätze, wie viele Frage-Sätze brachte der Redner?» Das Ergebnis aus der 15-minütigen Rede gab ihm zu denken. Er zählte «43 direkte oder indirekte Soll- und Befehlssätze, 5 rhetorische, also nicht wirkliche Frage-Sätze und gar keinen Ist-Satz.» (21)
Wie genau Gottfried Bachl nicht nur auf die Sprache achtet, sondern auch ästhetische Darstellungen des Gekreuzigten oder Hochhuths Theaterstück «Der Stellvertreter» betrachtet, kann ebenfalls unter diesem Schwerpunktthema nachgelesen werden.
Fragen und Fragebögen
Bei der Lektüre dieses Lesebuches muss ich immer wieder staunen und innehalten. Ich habe den Eindruck, Bachl formuliert nahe an meinen eigenen Erfahrungen, obwohl er aus einer anderen Generation stammt. Gleichzeitig lösen seine Reflexionen, Gedichte und Gebete bei mir Fragen aus, geben Anstoss zum Nachdenken. Zum Beispiel ein Satz wie dieser (aus dem selbstgemalten Kalender):
Mir scheint
man muss
Gott mehr fragen
als loben. (52)
Überhaupt die Fragen. Vielmehr als dogmatische Sätze und formelhafte Glaubensbekenntnisse führt die Frage auf die Spur Gottes. In meinen Vorlesungen zur Predigtausbildung gab ich den Studierenden in den letzten Jahren stets diesen Satz Bachls mit: «Gott wohnt mehr in der Frage, als in der Antwort.»[6] Was könnte – gerade Prediger:innen – mehr vor grossmäuligen Phrasen und anmassenden Antworten bewahren?
theologische Sprachgebung
Für das Schwerpunktthema «Herz, das rund um uns schlägt: Gott» hat Wilhelm Achleitner auch einige Fragen aus den in den «Salzburger Briefen»[7] erschienenen Fragebögen ausgewählt. Hier nur wenige Beispiele:
Für welche Sache brauchen Sie Gott hauptsächlich?
Wie oft in der Woche bitten Sie Gott um ein Wunder?
Hat es Sinn, Gott um etwas anderes zu bitten als um ein Wunder?
Haben Sie vor, Gott etwas zu fragen?
Sehen, hören, schmecken, tasten, riechen – mit welchem der fünf Sinne möchten Sie Gott am liebsten berühren? (59f)
Solches Fragen ist für mich zum einen theologische Sprachgebung, die mit dem Leben verbunden ist, und gleichzeitig Anregung, ja Ermächtigung zum Selber-Denken.
Wieviel Papst braucht der Glaube?
Die Frage Wieviel Papst braucht der Glaube? (60) führt mich zum Thema «Kirche», das unter dem Titel «Die ziehende Karawane» nicht nur das letzte Schwerpunktthema des Lesebuches bildet, sondern da und dort auch in anderen Kapiteln durchscheint. Für subtile Kirchen- oder Lehramtskritik prädestiniert sind die Kapitel: Die quasigöttliche Macht: Maria und Ordnungen der Liebe: Mann, Frau, Eros.
Rollenbilder
Im letzteren findet ein Beitrag aus dem Jahr 1989 Raum mit dem Titel «Die Überlegenheit des Mannes». Der theologisch sattelfeste Dogmatiker Bachl hinterfragt unter anderem die herkömmlichen Rollenbilder:
Was mich beim Studium theologischer und spiritueller Texte im wachsenden Mass verblüfft, das ist der enorme intellektuelle Aufwand für den Überlegenheitsbeweis, den die männlichen Theologen für den Primat des Mannes bringen, bis hin zu Karl Barth und Hans Urs von Balthasar. (…) Das Glück, überhaupt mit Gott zu tun haben zu können, ist offenbar nie stark genug, um die Sehnsucht nach dem Primat zu dämpfen. (…) Den Subjekten der Theologie, die so viel von der Endlichkeit sprechen, fällt nichts schwerer als das schlichte Erlebnis der Tatsache, dass sie selbst relativ sind. (130f)
Dazu passt die Beobachtung Wilhelm Achleitners im Vorwort zum Lesebuch: «Gottfried Bachl hat alte Sprachformen und enges Denken weggeräumt, die totalitäre römische, neuscholastische Theologie hinter sich gelassen, immerzu Leichtes, Luftiges in seine Gottesgeschichten eingebracht und so die Studierenden und die Lesenden angeregt, das Christliche als ‘zur Freiheit befreit’ zu verstehen.» (10)
Der müssige Menschensohn: Jesus
Schliessen möchte ich mit dem Hinweis auf die Ernsthaftigkeit und Liebe, die Gottfried Bachl dem biblischen Jesus entgegenbringt. Unter dem Titel «Der müssige Menschensohn: Jesus» stiess ich auf einige Perlen dieses Nachdenkens.
was wir nicht tun dürfen weil jesus es nicht getan hat
Darunter eine Auswahl der Sätze zum Thema was wir nicht tun dürfen weil jesus es nicht getan hat[8]. Als Anlass für diese Liste gab Bachl in der Einleitung an: «Weil in der Diskussion um die Ämter und Dienste in der Kirche immer wieder das simple Argument benützt wird, es sei unmöglich, heute zu tun, was Jesus damals nicht getan hat, also Frauen zu Priesterinnen zu weihen, weil Jesus keine Frauen in den Kreis seiner apostolischen Jünger aufgenommen hat (…).»[9]
Hier eine sehr kleine Auswahl:
wir dürfen die ausserehelichen zeugungen nicht verbieten
weil jesus ausserehelich gezeugt und geboren wurde
wir dürfen keinen zölibatären papst haben
weil jesus den verheirateten petrus zum felsen gemacht hat
wir dürfen zu niemand auf der welt heiliger vater sagen
weil jesus diesen titel für gott reserviert hat
wir dürfen nicht im bett sterben
weil jesus hingerichtet wurde
wir dürfen keine christen sein
weil jesus nur juden in seine gefolgschaft berufen hat
wir dürfen nicht weiss gott was alles nicht tun
weil jesus nicht alles getan hat (97f)
Möge das Lesebuch für Viele zu einer Entdeckung werden, wie Theologie auch zur Sprache kommen kann.
Franziska Loretan-Saladin, Luzern, Dr. theol., war bis im Sommer 2023 Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern; freiberuflich mit Predigtweiterbildung und Spiritualität unterwegs. Sie ist seit 2015 Mitglied des Redaktionsteams von feinschwarz.net.
Beitragsbild: Ana Municio auf Unsplash
[1] Mindestens zwei erschienen während meiner Studienzeit: Über den Tod und das Leben danach, Graz/Wien/Köln 1980 und Eucharistie – Essen als Symbol? (Theologische Meditationen 62), Zürich/Einsiedeln/Köln 1983.
[2] Vgl. Mailuft und Eisgang. 100 Gebete, Innsbruck/Wien 1998 und feuer wasser luft erde. neue psalmen, Innsbruck/Wien 2011.
[3] Freiburg i.Br. 1987; neu aufgelegt als: Der beneidete Engel. Theologische Skizzen, Innsbruck/Wien 2001.
[4] Wilhelm Achleitner/Alois Halbmayr/Heinrich Schmidinger, Zur Freiheit befreit. Gottfried Bachl und seine Gottesgeschichten, Innsbruck/Wien 2022 (Salzburger Theologische Studien, Band 68).
[5] Das flüchtige Nu des Lebens. Ein Gottfried Bachl Lesebuch. Ausgewählt von Wilhelm Achleitner, Innsbruck-Wien (Tyrolia) 2024, 8. Die Zahlen im Text beziehen sich auf Seitenzahlen dieses Buches.
[6] «Ich will in der Frage bleiben und lade dazu ein, es in ihr auszuhalten. Sie soll arbeiten in der inneren Werkstatt, am Geburtsort der Gedanken. Denn solange wir in der Welt sind, gilt: Gott wohnt mehr in der Frage als in der Antwort.“ Gottfried Bachl, Gott bewegt, Hg. von Alois Halbmayr, Würzburg 2012, 22.
[7] Vgl. Gottfried Bachl, Salzburger Briefe 8 (Oktober 2023).
[8] Vgl. Salzburger Briefe 19 (2009).
[9] Gottfried Bachl, Sieben Gedanken für heute und morgen, in: ders., Gott bewegt, hrsg. von Alois Halbmayr, Würzburg (echter) 2012, 121-132, 131.