Das (öffentliche und private) Interesse am Schicksal von sucht- und armutsbetroffenen Menschen ist gross. Aus der Sicht von Valentin Beck liegt dahinter eine theologische Erkenntnisquelle.
Immer wieder stelle ich fest, wie ungleich das Interesse auf meine beiden Anstellungen (60% Pfarreiseelsorge und 30% Gassenseelsorge) verteilt ist: Wenn Medien, Zufallsbegegnungen oder Menschen aus meinem Umfeld etwas über meine Arbeit wissen wollen, geht es fast immer um die Arbeit mit sucht- und armutsbetroffenen Menschen. Messbare Tendenzen aus dem Jahr 2023 bestätigen diesen persönlichen Eindruck:
- Die Luzerner Gassenarbeit führte eine Rekordzahl von Infoveranstaltungen durch: Fast 100 Schul- und Religionsklassen sowie andere Gruppen liessen sich durch die GasseChuchi, Konsumräume und öffentliche Szeneplätze führen und über die Hintergründe informieren.
- Die jährliche Gedenkfeier für Drogentote war so gut besucht, wie schon lange nicht mehr.
- Die mediale Berichterstattung zur Drogenthematik war erheblich.
Was sind die Gründe für dieses Interesse?
Das mediale Interesse wurde befördert vom Kokain-Überangebot und zunehmend öffentlichem Konsum in urbanen Zentren. Dazu kamen die Lancierung von Studien zur medizinischen Verwendung von Cannabis und LSD, sowie die andauernde Fentanyl-Krise in den USA.
Einblick ins Leben am existenziellen Rand
Ein Anteil des privaten Interesses muss wohl Sensations- und Schaulust zugeschrieben werden: Der passive exotisch-erschaudernde Einblick ins Leben am existenziellen Rand hat seine Faszination – vergleichbar mit dem Sonntagabendkrimi (fascinosum et tremendum). Hollywoods verzerrte Drogenmilieu-Darstellungen verstärken diesen Effekt.
Wenn ich aber z.B. mit Lesenden der 13‘000-mal gedruckten Luzerner „GasseZiitig“ spreche, dann vermute ich noch tieferliegende Gründe: Oft spüre ich hier ein echt anteilnehmendes Interesse am Schicksal sucht- und armutsbetroffener Menschen, sowie einen aufgeweckten Gerechtigkeitssinn. Dahinter steht häufig eine persönliche Bekanntschaft mit Betroffenen: Ein Nachbar, eine Verwandte, ein Jugendfreund oder eine regelmässige Einkaufs- bzw. Bettelbegegnung als konkretes Gesicht vor Augen. Es gibt in der Schweiz viele Formen von Elend. Dasjenige der Gasse ist lediglich sichtbarer, weil es sich öffentlich abspielt und tief ins Gesicht geschrieben steht.
wie schmal der Grat ist
Hinzu kommt ein weiterer Interessensfaktor: Die Identifikation. Das Leben auf der Gasse unterscheidet sich zwar gänzlich von Durchschnitts-Existenzen innerhalb der soziologischen Grossmilieus der Schweiz. Dennoch spüren viele Menschen, wie schmal der Grat ist, auf dem sie selbst wandeln: Einerseits, weil (substanzbezogenes oder anderes) Suchtverhalten in vielen Menschen angelegt oder ihnen bereits eigen ist. Viele ahnen, dass schon kleine Dekompensationen zum Kontrollverlust führen und grössere Krisen die Spirale des sozio-ökonomischen und gesundheitlichen Abstiegs schnell in Bewegung setzen können.
Das „exotische“ Gassenleben erfüllt damit eine Art memento mori-Funktion: Ein ständiges Erinnern an die eigene Vergänglichkeit (bzw. Absturzgefährdung) – mit dem Ziel, daraus Schlüsse für die aktuelle Lebensgestaltung zu ziehen. Ironischer Weise stimmen in Luzern die Standorte des modernen (Drogenszene am Kasernenplatz) und barocken memento mori (Totentanz-Bildserie auf der Spreuerbrücke) überein.
Unser „Dopamin-Hunger“
Auf eine ähnliche Spur führt uns die US-amerikanische Sucht-Psychiaterin Anna Lembke. In ihrem Bestseller „Dopamine Nation: Finding Balance in the Age of Indulgence“[1] beschreibt sie auf unterhaltsame und verständliche Weise aus naturwissenschaftlicher Sicht die grundsätzliche Sucht-Anfälligkeit der breiten Bevölkerung. Ihre Grundthese lautet, dass unser Hormonhaushalt evolutionär auf eine Mangelsituation ausgelegt ist und wir wegen unseres natürlichen „Dopamin-Hungers“ mit dem Überfluss moderner Gesellschaften überfordert sind: Das (insb. digital) präsentierte Dauerangebot aller möglicher Formen von Dopamin-Einschüssen (Süsses, Fettiges, Bewusstseinserweiterndes, Unterhaltendes, Sexuelles oder anderweitig Soziales) ist schlicht zu viel für uns Menschen. Lembke macht sich u.a. dafür stark, auch den Smartphone-Konsum selbst auf den medizinischen Suchtindex zu setzen.[2]
Bewältigungsstrategien für die Überfluss-Überforderung
Die Suchtmedizinerin präsentiert für diese Herausforderung diverse Lösungsansätze. Einer davon ist, dass wir bei Schwersüchtigen und ihrem (gelingenden oder nicht gelingenden) Umgang mit ihrer Krankheit viel über mögliche Bewältigungsstrategien für die Überfluss-Überforderung lernen können. Sprich: Suchtbetroffene sind Anschauungsbeispiele oder gar „Expert:innen“ für die suchtgefährdete Allgemeinheit.
Relevante und belastbare Glaubenselemente
Obwohl ich Lembkes spannende Gedanken mangels Fachwissens aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht beurteilen kann, möchte ich im Folgenden eine theologische Übertragung wagen: Von existenziell bedrohten Menschen und ihren gedanklichen „Überlebensstrategien“ können wir viel darüber lernen, welche Glaubenselemente relevant, belastbar und damit aus gläubiger Sicht vielleicht sogar „wahr“ sind – sprich: Gottes Wort vernehmen.
- Relevanz: Wer sich notgedrungen mit existenziellen Fragen auseinandersetzt, lässt „Nebensächliches“ beiseite: Dazu zählen theologischen Spitzfindigkeiten bis weit hinein in konfessionell-religiöse Spezifika. Eine Ausnahme bilden haltgebende Rituale (Kraft des Tuns vor Kraft des Interpretierens). Weggelassen werden auch Beschönigung und Schonung eigener oder fremder religiöser Gefühle: Ungeschminkt-radikale Offen- und Direktheit ohne Rücksicht auf Verluste sind Merkmale von Seelsorgegesprächen auf der Gasse, am Sterbebett oder (so höre ich) auch im Schützengraben. Wichtig wird die Frage: Was bleibt?
- Belastbarkeit: Paulus spricht vom „Schatz in uns zerbrechlichen Gefässen“ (2 Kor 4,7-9), der trotz aller äusseren Gefährdung nicht zerstört werden kann: „Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet.“
Menschen auf der Gasse sind intensiv und andauernd „von allen Seiten in die Enge getrieben“: Niedergestreckt in ihrer Gesundheit, ihrer finanziellen Existenz, ihrer Freiheit. Gehetzt durch Suchtdruck, Stress, Behördenzwang, Misstrauen und gesellschaftlichen Ausschluss. Weder ein noch auswissend bezüglich der Veränderbarkeit ihrer Lebenssituation und dem Sinn ihres Daseins.
quasi im Dauerkrisenmodus
Diese Menschen sind also quasi im Dauerkrisenmodus: an das gewöhnt, was vielen anderen Menschen nur wenige Male im Leben widerfährt. Durch diese „Gewöhnung“ entwickelt sich oft ein feines Gespür dafür, was im Leben alles zerbrechen kann (fast Alles) und was nicht. Dieser „unzerbrechliche übrigbleibende Rest“ lässt sich in bewährter Tradition mit „Menschenwürde“ benennen. Wer sich diese Würde bewusst erhält, kann mit Paulus sagen:
- Ich bin nicht kaputt, auch wenn alles an mir und um mich kaputt ist.
- Ich bin nicht verloren, auch wenn ich alles verloren habe.
- Ich falle nicht ins Bodenlose, auch wenn ich am Boden liege.
Diese verinnerlichte Unterscheidung ist m.E. der Hauptgrund, warum krisenerprobten Menschen eine eigene Qualität von Lebenserfahrung bzw. Weisheit zugeschrieben wird, die langfristig anziehender ist als jedes Spektakel.
Essenz des Glaubens
Wird die unverlierbare Würde (wie bei Paulus) mit einer Quelle begründet, die ausserhalb des Betroffenen selbst liegt, dann treffen wir meines Erachtens auf den Kern alle dessen, was Religion dem Menschen schenken kann: Die krisenerprobt herausgefilterte Relevanz und Belastbarkeit(s-Essenz) des Glaubens.
persönliche Beziehung zwischen der göttlichen Schöpfungsmacht und ihrem Geschöpf
Die monotheistischen Religionen begründen die Würde mit der persönlichen Beziehung zwischen der göttlichen Schöpfungsmacht und ihrem Geschöpf. Das Christentum fügt mit der Menschwerdung der Schöpfungsmacht eine maximale Nähe dieser Beziehung hinzu: Gottes Wort wird Fleisch und dadurch sehr konkret vernehmbar.
Wo genau in der weiteren Deutungskette (Traditio) die Irrelevanz und Nichtbelastbarkeit einsetzt, muss wohl individuell beantwortet werden. Der Kreuzestod jedenfalls setzt einen klaren Schnitt: Das maximale Elend als ultimative Komplexitätsreduktion. Der unzerbrechliche Schatz wird begraben und mit der Auferstehung endgültig ausgehoben.
Wird das Weihnachts- und Ostergeschehen als vergegenwärtigendes Geschehen verstanden, so wird klar, dass Gottes Wort gerade im fleischlichen Elend unseres Gegenübers besonders deutlich vernehmbar ist. Das geschriebene Gotteswort beider Testamente bezeugt dies in unzähligen Geschichten. Es braucht zum Beispiel keine grossartige Übersetzungsleistung, um die Räuber aus dem Samaritergleichnis mit Drogen gleichzusetzen.
genauso Suchende und Angewiesene
Zwei Fallstricke dieser Gedanken möchte ich zum Schluss benennen:
- Die Idealisierung: Die benannte Lebenserfahrung Sucht- und Armutsbetroffener (und anderer Leidgeprüfter) macht diese Menschen per se weder souveräner noch glaubenstiefer. Sie sind genauso Suchende und Angewiesene wie andere Menschen auch.
- Die Verzweckung: Existenziell gefährdete Menschen auf Anschauungsbeispiele für den Umgang mit schwierigen äusseren Bedingungen zu reduzieren („Lernlust am Objekt“), übertrifft die erwähnte Schaulust noch und pervertiert das Ideal der Menschenwürde.
Wahrscheinlich ist gerade das Wahr- und Ernstnehmen der Subjektivität jedes Menschen der eigentliche Schlüssel zu einem heilsamen Umgang mit allen möglichen Lebensumständen – und zwar sowohl für Betroffene als auch für Anteilnehmende. Denn wer über das Samaritergleichnis etwas weiter nachsinnt, wird entdecken, dass im Leben die Rollen des Notleidenden und des Helfenden nicht immer klar zugeordnet werden können. Weil letztlich jeder Mensch in seinem Leben zugleich Lernende:r und Expert:in ist. Wer dies erkennt, wird sich für jedes menschliche Schicksal interessieren – und sei es auf den ersten Blick noch so unspektakulär.
[1] Anna Lembke, Dopamine Nation: Finding Balance in the Age of Indulgence, New York: Dutton, 2021. Deutsch: Die Dopamin-Nation. Balance finden im Zeitalter des Vergnügens, Kandern: Unimedica-Verlag, 2023.
[2] Dies wird u.a. im Netflix-Dokudrama „The Social Dilemma“ vertreten.
Valentin Beck, MA Theologie & MA Religionslehre, Luzern.
Studium der Theologie in Fribourg i.Ue. und Berlin, 2010-2014 Assistent in Kirchengeschichte an der Universität Luzern, 2014-2020 Bundespräses von Jungwacht Blauring Schweiz, sowie nebenamtlich Religionslehrer und Psychiatrieseelsorger.
Seit 2020 Seelsorger beim Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern und seit 2021 Pfarreiseelsorger in St. Paul Luzern.
Porträtfoto: Jutta Vogel