Leserbrief zu Ingrid Fischers „Von der Fassungskraft der Gläubigen„. Von Stephan Schmid-Keiser.
Volle, bewusste und aktive Teilnahme beim Feiern des Glaubens. Das ist in knappen Worten gesagt die für die Welt der römisch-katholischen Liturgie nach dem II. Vatikanum Konzil (1962-1965) bedeutsam gewordene Devise. Sie führte zu einem Fächer von Kriterien, welche die von Ingrid Fischer diskutierte „Anpassung der Liturgie an die Fassungskraft der Gläubigen“ erst ermöglich(t)en.
Die Entwicklung zu einem ‘aggiornamento’, d. h. zur Heutig-Werdung der Liturgie wuchs heraus aus der Liturgischen Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Markant genug also, dass sich dieses Konzil der Welt des Gottesdienstes als erstem Thema zugewandt hat. Was ist davon geblieben? Hoffentlich ein neues Bewusstsein davon, dass nicht mehr allein die aus der Sakristei kommende Personengruppe mit dem damals noch zentralen Rollenträger des sacerdos die Feier einer Eucharistie gestaltet. Ganz im Sinne von dessen tridentinischer Überhöhung lautete die Formel in der bisherigen Messordnung „sacerdos paratus“, so das „incipit“ als altes Merkwort, mit dem gleich klar wurde, wer hier das Sagen hat.
Derart erlebte ich es als 1949 Geborener noch in meiner Kinder- und Jugendzeit. Dann aber schon während der zweiten Konzilshälfte wurde das Erlebnis der Gemeinschaft im Kreisrund um den Altar, in Hausliturgien oder neuen, offenen Räumen wichtig. Ohne hier die weiteren Konzilstexte (Liturgie- und Kirchenkonstitution) zu nennen, hatte die Wendung zu einer erneuerten, in den biblischen und patristischen Quellen begründeten Gottesdienstkultur stattgefunden. Ich merkte mir im Zuge der Arbeiten an meiner Dissertation diese Bezeichnungen über den Beginn einer Feier des Glaubens.[1] Von der Formel des „sacerdos paratus“ zur deutlich soziologisch gefärbten Rede vom „populus congregatus“. Wer sich am einzelnen Ort dazu eingeladen fühlt, findet sich ein zu einer gottesdienstlichen Versammlung. Sie und er werden sich darum weniger auf die den Ritus zelebrierende Person einstellen – oder doch? [Manchenorts geht die Rede: „Dahin gehe ich lieber in den Gottesdienst, weil der oder jene der Feier vorsteht.“]
In einem Gespräch skizzierte Stefan Kopp (Graz) 2019 dieses neue Verständnis der Liturgie wie folgt: „Man kann es vielleicht an den Anfangsworten des alten ,Ritus Servandus´ von 1570 bis 1962 sehen. Dort hat es geheissen ,Sacerdos missam celebraturus´, im Blick war also der Priester. Dem gegenüber heisst es dann im erneuerten Ordo 1969/70: ,Populo congregato´. Damit wird deutlich, dass, wenn das Volk versammelt ist, die Eucharistiefeier beginnt. Es gibt also einen Perspektivenwechsel, liturgietheologisch und auch ekklesiologisch, hin zum Volk Gottes als Subjekt der Liturgie.“[2]
Der konziliare Aufbruch in diese neu entdeckte liturgische Welt beinhaltete indes viel mehr als nur das Sich-Versammeln. Wenn sich dabei bis heute viele überfordert sehen, ist dies nicht nur den Zeitumständen oder einer gesellschaftlich zunehmenden Trägheit geschuldet, viel mehr auch einem Manko an liturgischer Bildung auf allen Ebenen. In den Hörsälen der Liturgiewissenshaft kam diese Bildung allzu kurz. In der Einführung in die Praxis kam sie nur am Rande vor. Ein Indiz dafür ist etwa, dass bis weit in die kirchliche und journalistische Berichterstattung über Liturgiefeiern immer wieder vom Gottesdienstbesuch und kaum von der dabei realisierten Teilnahme die Rede ist. Volk Gottes(!) Subjekt der Liturgie?
Zudem zeigt sich bis in die jüngsten Tage eine weitere Hürde, wo eine langjährige Gemeindeleiterin in den Modus der Konzelebration am Altar einbezogen ist – ob zu Recht oder nicht, sei hier dahingestellt –, dabei aber selbst in eine klerikalistische Zwickmühle gerät. Tendenziell kann der Modus einer Konzelebration schon Mal den Eindruck eines Gerangels am Altar entstehen lassen. Warum hier nicht zur Praxis der ‘stillschweigenden’ Konzelebration vor der Karolingerzeit zurückfinden? Der Mitvollzug des Hochgebetes durch die am Ort Versammelten würde auf diese Weise gestärkt. Man verstehe mich richtig: Die Feierkultur beim heiligen Spiel möge zurückhaltender werden, dafür weniger auf Solovorstellungen bedacht.
Alles in allem hatte sich bei der Einführung in das neu konzipierte Feiern ein intellektueller Zug der gottesdienstlichen Versammlungen bemächtigt. Während meiner beruflichen Praxis als (nichtordinierter) Seelsorger lag mir deshalb daran, auch im Zusammenwirken mit Ordinierten und allen Rollentragenden Gegensteuer zu geben. Und so die Umsetzung dessen zu realisieren, was etwa Andrea Grillo zum Zusammenspiel der theologischen Disziplinen, die vom Gottesdienst handeln, auf den Punkt brachte. Seine zentrale Aussage aus dem Jahre 2000 lautet: „Die Sakramente sind nicht Zeichen, die zum Lesen bestimmt sind, sondern Handlungen, die zum Tun bestimmt sind, sie sind sozusagen keine ‚-logie‘, sondern eine ‚-urgie‘.“[3]
Wie sich diese Haltung arrangieren lässt, hat darum seinen besonderen theologischen und spirituellen Sinn. In Kürzestformeln gebracht öffnet sich ein ganzer Fächer von Kriterien für ein zeitgemässes und angemessenes Feiern des Glaubens. Daran die eigene Gottesdienst-Praxis überprüfen, kann hilfreich sein, denn es soll in Liturgien möglich werden:
… in erster Linie Raum zu geben für das Wirken Gottes an uns und seiner Welt… auch durch schweigende Teilnahme in Kommunion zu treten mit Gott: sehend-innehaltend im Beten und Meditieren / hörend-rezipierend während des Vortrags der Schriften und einer Ansprache / feiernd-empfangend beim Mitvollzug des Hochgebetes und während der Kommunion
… und in gegenseitigem Respekt untereinander in Kommunikation zu treten, rituell zu handeln und das Fest eines Glaubens zu erleben, der mitten in Angst und Hoffnung, Trauer und Freude befreit…
… mitzugehen mit Auge, Mund und Ohr, mit dem Atem und dem Körper, mit Herz und Verstand…
Möglich werden soll dies alles in Wort, Gesang und Musik, die alle mittragen beim Lobpreisen, Bitten, Danken und Segnen, in Gebärden und Bewegung, Tanz und Spiel…
… und last but not least möge spürbar werden, dass die leitenden Personen und die übrigen Rollenträger*innen wahr werden lassen, was über Jahrhunderte verlorengegangen ist, dass nämlich die ganze lokale Versammlung zelebriert und kommuniziert…
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[1] Stephan Schmid-Keiser: Aktive Teilnahme. Kriterium gottesdienstlichen Handelns und Feierns Zu den Elementen eines Schlüsselbegriffes in Geschichte und Gegenwart des 20. Jahrhunderts. Bern, Frankfurt/M., New York 1985
[2] https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2019-04/50-jahre-roemisches-messbuch-liturgie-stefan-kopp-interview.html
[3] Andrea Grillo in seinem Aufsatz: «Intellectus fidei» und «Intellectus ritus». Die überraschende Konvergenz von Liturgietheologie, Sakramententheologie und Fundamentaltheologie, in: Liturgisches Jahrbuch 50 (2000) Heft 3, 143-165, 144
Stephan Schmid-Keiser (*1949), Dr. theol., in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie promovierter Theologe und Seelsorger war in mehreren Pfarreien des Bistums Basel leitend tätig. Vorgängig setzte er sich 1984-1992 ein als Geschäftsleiter der Missionskonferenz DRL und 1992-1995 als Zentralpräses des Schweizer Kolpingwerks. Nachberuflich publizistisch tätig war er u. a. 2016/17 als Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung
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