Warum sind wir so unfähig, mit den Krisen unserer Tage hellsichtig und unbefangen von Gott her und auf ihn hin in Widerstand und Ergebung umzugehen? Für mehr Gottesmut plädiert Joachim Negel in Teil drei unserer Monatsserie „Kirchenerneuerung“. Seine Form sind Interzessionen im Blick auf eine ersehnte Erneuerung nicht nur unserer Kirche(n).
Man traut sich kaum noch, die Zeitung aufzuschlagen. Wenn einem nicht gerade der Missbrauchsskandal um die Ohren fliegt, sind es die dem Zusammenbruch der Klerikerkirche geschuldeten Fusionen von Pfarreien zu unüberschaubaren Großeinheiten, die wenig hilfreichen Einlassungen zur Sexualmoral oder die nach wie vor völlig ungeklärte Frage nach einer angemessenen Einbindung der Frauen in die kirchlichen Machtstrukturen, die einem das Katholischsein verleiden.
Man beginnt sich zu entschuldigen, daß man noch dazugehört.
Aber betreffen diese Peinlichkeiten nur die Kirche? Es grinst einem bei der morgendlichen Zeitungslektüre ja auch das unvermeidliche Gesicht von Donald Trump entgegen; da zerlegt sich die älteste Demokratie der Welt in haßerfülltem Streit, und die lachenden Dritten sind die Herren Putin, Xi Jinping et compagnie sowie bei uns die AfD. Da propagiert man jahrzehntelang lustvoll die offene Sexualität und ist entsetzt, daß die Enttabuisierung im Namen der großen Libertinage auch Gewalt befördern kann. Und schließlich der Wohlstand der Welt – er hängt längst nicht mehr an uns, sondern an den Algorithmen der Börsencomputer. Wir ahnen, daß es mit der ungleichen Verteilung der Reichtümer so nicht weiter gehen kann, daß die Armenhäuser Afrikas sich gegen uns erheben, und haben doch außer wechselseitigen Schuldzuweisungen sowie ein paar Milliarden Entwicklungshilfe keine Antwort.
Interzessionen = Dazwischen-treten
Was passiert da eigentlich mit uns? Warum sind wir so unfähig, mit den auf uns einprasselnden Anfragen hellsichtig und unbefangen von Gott her und auf ihn hin in Widerstand und Ergebung umzugehen?
Statt in das allgemeine Lamento einzustimmen, möchte ich versuchen, in vier Interzessionen (lat. „intercedere“, dazwischen treten) wechselweise Fürsprache und Fürbitte einzulegen in den Anliegen, die Kirche und Gesellschaft derzeit umtreiben. Vielleicht lassen sich ja solcherart Spuren entdecken, wie von der allgemeinen Gottesmüdigkeit zu einer neuen Gottesmütigkeit zu finden wäre. Ob in der gegenwärtigen Situation „Gottesmut“ nicht überhaupt der passendere Begriff wäre, um der Frage nach einer Erneuerung der Kirche nachzugehen? [1]
1. Um theologische Auskunftsfähigkeit
Da ist zunächst daran zu erinnern, daß der christliche Glaube nicht Ideologie ist, Wahngebilde oder moralische Indoktrination, sondern dem menschlichen Einsichtsvermögen Genüge tun, ihm in seinen Verlegenheiten aufhelfen will. „Fides quaerens intellectum“ war einmal ein zentrales Stichwort der Glaubensverkündigung – der Glaube verlangt nicht nur nach Einsicht, er entspricht dem menschlichen Einsichtsvermögen in einer es erhellenden Weise: Im Horizont der Gottesbotschaft Christi wird der Mensch sich selber durchsichtig. Nun haben sich (vor dem Hintergrund einer zunehmenden Naturalisierung und Ökonomisierung der Vernunft) in den letzten Jahrzehnten freilich Gestalt und Horizont Gottes zunehmend verdunkelt, und so ist nicht nur der Transmissionsriemen zwischen Glaube und Vernunft immer lockerer geworden, sondern auch Religion und Alltag haben kaum noch etwas miteinander zu tun. Das läßt die Glaubensverkündigung nicht unberührt. Klassische Begriffe wie „Gnade“ und „Erlösung“, „Menschwerdung Gottes“, „Himmel, Hölle, Fegefeuer“, „Sünde und Erbsünde“, „Dreifaltigkeit“ und „Unbefleckte Empfängnis“ haben sich (wo sie in Predigt und Katechese überhaupt noch Erwähnung finden) für viele zu chimärischen Fremdwörtern verrätselt.
Naturalisierung und Ökonomisierung haben den Horizont Gottes verdunkelt.
Insofern wäre zunächst und vor allem um theologische Auskunftsfähigkeit jener zu bitten, die mit der Verkündigung beauftragt sind, denn Aufgabe aller Theologie ist es, existentiell darzulegen, was die Unerlöstheiten des Lebens erhellen könnte. Dazu müßte man freilich neugierig zur Kenntnis nehmen, was Philosophie, Psychologie, Soziologie sowie Geschichts- und Kulturwissenschaften zu den genannten Fragen zu bieten haben – so daß eine Art wechselseitige Erhellung von religiösem und säkularem Denken stattfände. Solche theologische Auskunftsfähigkeit würde nicht nur unserer eigenen Glaubensnot aufhelfen – die Theologie könnte zu einer leisen und doch markanten Stimme im polyphonen Gespräch der Wissenschaften werden, denn sie widerstreitet einem naturalistisch bzw. instrumentell verkürzten Wissenschaftsbegriff, wie er sich allenthalben breitmacht.
2. Um geistliche Kompetenz
Das Gesagte ist gegenzulesen unter dem Horizont der praktischen Vernunft. Neben dem Vermögen zu theologischer Kompetenz ist zu bitten um das Vermögen, diesem geistlich Ausdruck zu verleihen – zu bitten ist um die Fähigkeit zu einem glaubwürdigen Leben in Liturgie und Gebet. Die Kirchenkrise ist ja in weiten Teilen auch Krise einer Kultur, die sich schwer tut mit der Einsicht, daß alles Leben einer unvordenklichen Passivität entstammt; die sich deswegen auch schwertut mit der Einsicht, daß unser Leben neben den Rhythmen der Steigerung und des Aufschwungs auch solche der Minderung und des Niedergangs kennt. „Unser Leben währet siebzig Jahr, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig“ (Ps 90,10), das Verschattende ist unhintergehbarer Teil unserer Existenz; der Mensch ist nicht Gott. Zwischen Geschichte und Erlösung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Selbstverwirklichung und Sozialverpflichtung bleibt ein dimensionaler Sprung, ein Hiatus, der keiner Politik erschwinglich ist.
Teil der Kirchenkrise: Wir tun uns schwer damit einzusehen, dass alles Leben einer unvordenklichen Passivität entstammt.
Schon die elementaren Dinge (Geburt und Tod, Partnerschaft und Sexualität, Elternschaft und Erziehung, Schuld und Vergebung) überfordern uns – wie sehr dann erst die Probleme, die wir uns mit unseren technischen, wirtschaftlichen, politischen Problemlösungen aufhalsen (Klimaerwärmung und Androidisierung sind nur zwei von vielen möglichen Stichwörtern). Wie oft stehen wir uns selber im Weg – mit anderen Worten: Der Mensch müsste von sich selbst erlöst werden. Wo man sich dies einmal eingesteht, könnte die Haltung reinigender Demut Raum gewinnen – mit ihr beginnt eine Haltung geistlicher Kompetenz. Eine solche Haltung meint unter anderem auch dies: eine heilsame Selbstrelativierung menschlicher Ansprüchlichkeiten, egal ob religiöser, wissenschaftlicher, ökonomischer oder politischer Provenienz – denn alles Gelingen steht im Horizont Gottes, nicht in der schmalen Perspektive unserer selbstvermessenen Endlichkeit.
3. Um soziale Präsenz
Zu bitten wäre desweiteren für jene, an denen sich Leben und Menschen vergangen haben, ohne ganz zu vergessen, daß zur Endlichkeit auch Gewalt verüben und erleiden gehört. Das Ideal einer Kommunikativen Vernunft Habermas’scher Prägung hat etwas Utopisches; jede gefällte Entscheidung ist immer auch Scheidung; Verwundung und Versehrung bleiben niemandem erspart. Gerade deswegen ist daran zu erinnern, daß der biblische Gott sich den Opfern der Gewalt mehr zuneigt als den Siegern. Wie konnte das nur solange vergessen werden?![2] Und was hieße das für unser institutionelles Agieren?
Der biblische Gott neigt sich den Opfern der Gewalt mehr zu als den Siegern. Wie konnten wir das vergessen?!
Was, wenn die Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft, aber eben auch in der Kirche, sich jenes prophetische Wort der Gemeinschaft von Sant‘ Egidio zu eigen machten, demzufolge Christsein heute bedeuten müßte, mit wenigstens einem (materiell) Armen befreundet zu sein? Für einen Christenmenschen (aber nicht nur für solche Leute) ist es elementar, „die Perspektive von unten“ nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Perspektive von unten ist die Perspektive Jesu von Nazareth. Sie muß Maßstab allen kirchlichen Handelns sein – das aber heißt: Maßstab auch meines eigenen, persönlichen Handelns, so ich denn Christ sein will.
4. Um Mut zu ekklesialer Reform
Damit geraten wir vor eine letzte, nicht minder wichtige Interzession: Zu bitten wäre für die Kirche selbst. Wie, wenn sie sich von ihrer eigenen Botschaft etwas gesagt sein ließe: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus entspricht“ (Phil 2,5f.)?! Das Gericht, das derzeit über die Kirche ergeht, kommt ja nicht von ungefähr. Wir waren anderthalb Jahrtausende lang bestimmende Macht in Europa, haben die Seelen und Gewissen der Menschen nicht nur befreit, sondern (Dialektik aller Macht) auch belastet (vgl. hierzu den Text von Daniel Bogner). Ohne in den Gestus der Selbstculpabilisierung zu verfallen, wird man doch sagen müssen, daß da bis heute wenig glaubwürdige Trauerarbeit geleistet ist.
„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus entspricht“ (Phil 2,5f.)
Zu erinnern wäre ferner an jenen anderen, revolutionären Satz: „Da ist nicht mehr Jude und Grieche, nicht mehr Freier und Sklave, nicht mehr Mann und Frau, sondern ihr alle seid einer in Christus.“ (Gal 3,28). Wenn es denn stimmt, was Paulus da schreibt: Wozu dann die ganze Ontologisierung kulturell gewachsener, d.h. geschichtlich kontingenter Rollenschemata? Warum diese zwickmühlenartige Selbstlähmung der Kirche in der Frauenfrage? Es wäre ein Leichtes für Papst Franziskus, profilierte Laien, Männer und Frauen, gleichberechtigt an Bischofsernennungen zu beteiligen (bis ins 11. Jahrhundert war das, nebenbei bemerkt, ganz üblich). Sogar die Berufung von weiblichen Laien ins Kardinalskollegium ist aus der Sicht der dogmatischen Tradition völlig unbedenklich. Hier wäre vieles möglich – stattdessen sind wir nicht selten wie Blinde, die glauben, Halbblinde führen zu können.
„Da ist nicht mehr Jude und Grieche, nicht mehr Freier und Sklave, nicht mehr Mann und Frau, sondern ihr alle seid einer in Christus.“ (Gal 3,28)
Wie enden? – In den drei synoptischen Evangelien findet sich das große Wort: „Bei euch soll es nicht so sein!“ (Mk 10,43 parr) Wenn die Kirche nur die Unerlöstheit der Welt in ihren eigenen Räumen wiederholt, ist sie überflüssig; dann mag sie verschwinden, die Welt wird ihr keine Träne hinterherweinen. Deshalb sollten wir in der jetzigen Stunde zunächst um die Gabe der reinigenden Tränen bitten – eine bei den Mystikern hoch geschätzte Gabe. Freilich: Aller Trauerarbeit kann es nie um sich selber gehen. Was, wenn unser Bitten um theologische Auskunftsfähigkeit, geistliche Kompetenz, soziale Präsenz und ekklesiale Reform Erhörung fände bei Gott und den Menschen? Dann ginge womöglich ein Ruck durch die Gesellschaft. Denn Kirche – das sind alle, die es wagen, den Ehrennamen eines Christenmenschen für sich in Anspruch zu nehmen. Das tun in unserem Land immer noch viele. Und so wäre eine Kirchenreform, die diesen Namen verdient, nie nur eine Kirchenreform. Sie entfaltete – gesellschaftsverändernde Kraft. Was aber hätten wir nötiger als dies?!
[1] Die folgenden Überlegungen entlehnen ihre argumentative Grundfigur der „Intercessio“ einer Predigt von Elmar Salmann OSB, Mit der Stimme Abrahams. Beten in der gegenwärtigen Übergangszeit (25. Juli 2010), in: Glaube im Übergang. Predigten, geistliche Worte und Essays aus der Benediktinerabtei Gerleve, Warendorf 2013, 72-75.
[2] Martin Brüske hat hierzu letztens klare Worte gefunden.
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Joachim Negel ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Fribourg und gehört zu einer Gruppe Fribourger Theologen, die sich mit dem Thema „Kirchenerneuerung“ befasst. Er ist Priester und war als Studierendenseelsorger u.a. an der KHG Dortmund tätig.
Bild: lichtkunst73 / pixelio.de
Im Rahmen der Serie „Kirchenerneuerung“ erschienen bisher folgende Beiträge:
Steinernes Herz: Kirche erneuern in Zeiten der Selbsterhaltung?