Religiöse Sprache kann ein Hort von Missverständnissen sein. Doch wie wird Gott zur Sprache gebracht, ohne ihn zu benennen? In der Tradition der Negativen Theologie schlägt Stefan Silber eine Sprache des Schweigens, der Beziehung, der gelebten Praxis vor.
Karlheinz Ruhstorfer beschrieb vor einigen Monaten hier auf feinschwarz in einer kurzen biografischen Notiz das Spannungsfeld zwischen religiöser und säkularer Sprache: „Meine Theologie hat sich, seit ich in Dresden lebe, deutlich verändert. Mir wurde klarer, dass es nicht schon ein erfreuliches Zeichen ist, wenn Menschen religiös sind. Und dass es keine reine Katastrophe ist, wenn religiöse Sprachspiele fehlen. Vielmehr ist zu fragen, welchen Glauben jemand hat! Auch im christlichen Glauben kann ein gerüttelt Maß an Angst vor der Welt, Fixierung auf Gewohnheit oder Realitätsverweigerung virulent sein, und in allem Atheismus lebt ein Funke reinster negativer Theologie.“[1]
Ruhstorfer macht an Beispielen deutlich: Menschen, die religiöse Sprache verwenden, können für Werte eintreten, die der Religion widersprechen. Was die Religion ausmacht, wird manchmal durch die traditionelle Sprache eher verschleiert als zum Ausdruck gebracht. Vielmehr kann es sein, dass Menschen, die eine säkulare Sprache sprechen, genau das treffen und vermitteln, worum es im Christentum geht. Vielleicht ohne es zu wissen oder es zu wollen.
Religiöse Sprache ist ein Hort von Missverständnissen. Sie wird von vielen Menschen nicht mehr verstanden, falsch verstanden oder missbräuchlich verwendet. Sie ist wie zu einer Fremdsprache geworden: In Pastoral und Erwachsenenbildung bemühen wir uns, den Menschen Grammatik und Vokabular dieser Fremdsprache beizubringen. Dieses Vorhaben scheint mir jedoch gescheitert zu sein. Stattdessen könnten wir die religiöse Fremdsprache einfach mal beiseite legen und mit den Menschen in der Sprache sprechen, die sie selbst verwenden. Ich nenne das: Gottlos von Gott sprechen. Denn man kann Gott zur Sprache zu bringen ohne ihn zu benennen. Von Gott schweigen kann Gott angemessener sein als von ihm zu reden. Und macht mein Reden nebenbei meinen Gesprächspartnern häufig viel besser verständlich.
Denn nicht jeder, der das Wort „Gott“ nicht im Mund führt oder es sogar ablehnt, spricht nicht von Gott.
Das Stichwort „Negative Theologie“ aus dem Eingangszitat von Ruhstorfer kann uns auf die Spur bringen. Denn nicht jeder, der das Wort „Gott“ nicht im Mund führt oder es sogar ablehnt, spricht nicht von Gott.
Es gibt eine theologische Form, die dadurch von Gott spricht, dass sie Gott verschweigt. Sie bringt Gott zur Sprache, indem sie vor Gott und angesichts Gottes verstummt. In der Negativen Theologie werden alle Aussagen, die über Gott getroffen werden können, unter den grundsätzlichen Vorbehalt gestellt, dass sie Gottes Realität gar nicht treffen können.
Thomas Merton drückt diese Tradition so aus: „Keine Idee von [Gott], wie rein und vollständig auch immer, ist angemessen, um [Gott] so auszudrücken wie [Gott] wirklich ist. Unsere Vorstellung von Gott sagt uns mehr über uns selbst als über [Gott].“[2] Wer mit dem Wort Gott über Gott spricht, sagt möglicherweise mehr über sich selbst als über Gott aus. Umgekehrt öffnet diese Vorstellung die Möglichkeit, über Gott zu sprechen, ohne Gott beim Namen zu nennen.
Die biblische Tradition kennt dafür ein Vorbild. Beim lauten Lesen der hebräischen Bibel wird der Name Gottes nicht vorgelesen, sondern durch bestimmte andere Wendungen ersetzt. Auch in späteren Schriften der Bibel, in der griechischen Übersetzung des Ersten und im gesamten Neuen Testament findet eine solche Ersetzung statt. Meist wird hier der Gottesname durch den griechischen Hoheitstitel „kyrios“ – „der Herr“ – ersetzt. Gerade diese Ersetzung erweist sich wiederum als problematisch, weil dadurch die Vorstellung verstärkt wird, dass Gott männlich sei.
Die Bibel kennt darüber hinaus eine wichtige Sprachform, in der über Gott gesprochen wird, indem er verschwiegen wird: Das passivum divinum – die auf Gott bezogene Passivform. Wenn es in den Seligpreisungen heißt „Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4), so ist in der Passivform Gott als Handelnder gemeint, wird aber nicht genannt. Dasselbe gilt für den zentralen Satz: „Jesus ist auferweckt worden“ und viele andere Stellen. Mit dem passivum divinum kann über Gott gesprochen werden, ohne das Wort „Gott“ zu verwenden.
Diese theologische Sprachform ist nicht nur von der Absicht motiviert, das Aussprechen des Gottesnamens zu vermeiden. Es geht auch darum, die Andersheit, Größe und Unverfügbarkeit Gottes zu respektieren. Das passivum divinum ist ein Akt negativer Theologie.
Nicht zuerst ein Wesen an sich, sondern eine Beziehung.
Das passivum divinum ist Teil einer umfassenden biblischen Strategie der Rede von Gott und des Verschweigens Gottes. In der Bibel wird von Gott nicht in abstrakten Definitionen gesprochen, sondern Gott wird durch Beziehungen charakterisiert.
Gott wird Schöpfer genannt, weil Gott zu der Welt, die er geschaffen hat, in Beziehung steht. Gott ist der Befreier, weil das Volk Israel sich selbst als durch Gott aus Ägypten befreites versteht. Gott ist der Vater, weil Jesus der Sohn ist und weil wir alle Töchter und Söhne Gottes sind. Gott ist also in der biblischen Sprache nicht zuerst ein Wesen an sich, auf das man sich dann beziehen könnte, sondern eine Beziehung, in der sich Aspekte der Wirklichkeit Gottes offenbaren.
Die verdinglichende und verabsolutierende Rede von Gott, in der Gott ewig, unwandelbar und unberührbar ist, nimmt Gott die Freiheit, anders zu sein als wir Gott gerade wahrnehmen oder darstellen wollen. In diesem Sinn muss die Theologie sich um eine gott-lose Sprache bemühen. Die Sprache, die in den meisten Texten der Bibel verwendet wird, ist dafür ein Vorbild: Es werden Geschichten erzählt und Lieder gesungen, Gott offenbart sich in Beziehungen, und alltägliches Erleben wird durchscheinend auf die Offenbarung hin. Es gibt in der Bibel darum sogar ein Buch, das vollständig auf die ausdrückliche Erwähnung Gottes verzichtet: das Hohelied.
Dorothee Sölle schreibt, dass eine ihrer Töchter einmal „beim Besuch einer scheußlichen Kirche“, in die ihre Eltern sie „geschleppt“ hatten, „trocken gesagt“ habe: „Ist kein Gott drin.“[3] Was hier von religiösen Baulichkeiten gesagt wird, kann auch für die religiöse Sprache gelten: „Ist kein Gott drin.“ Denn Gott ist nicht an die Begriffe gebunden, mit denen er bezeichnet werden soll, sondern kann erfahren werden, wenn man sich für die Anwesenheit Gottes im Alltag öffnet.
Schweigen von Gott und Schweigen vor Gott.
Das Schweigen von Gott kann so zum Schlüssel für die Erfahrung Gottes werden. Wenn nicht Wissen oder vermeintliches Wissen über Gott vermittelt wird, wenn nicht einzelne Vorstellungen von Gott den Raum verstellen, um Gott zu erkennen, kann die Wirklichkeit, die größer ist als unsere Vorstellungen, in den Blick kommen. Dann kann durchaus die Erfahrung gemacht werden, dass Gott „drin ist“, auch wenn man diese Erfahrung vielleicht nicht benennen kann. Die ausdrückliche Rede von Gott kann dagegen den Weg zur eigenen Gotteserfahrung blockieren.
Das gottlose Sprechen von Gott besitzt also nicht nur kommunikative Vorteile, weil säkulare Menschen dann möglicherweise lieber zuhören und besser verstehen, sondern auch einen mystagogischen Sinn: Wer darauf aufmerksam machen will, dass Gott größer ist als unsere Vorstellungen von Gott und frei ist, anders zu sein als wir behaupten, tut gut daran, nicht das in den Vordergrund zu schieben, was wir von Gott zu wissen meinen.
Mit der Vermittlung von Wissen über Gott kann eine Beziehung zu Gott nicht unmittelbar hergestellt werden. Das Schweigen von Gott und das Schweigen vor Gott sind dazu in manchen Situationen besser geeignet. Eine gott-lose Sprache kann unter Umständen mehr von Gott sagen und deutlicher von Gott sprechen als eine elaborierte theologische Abhandlung. Entscheidend sind die Beziehung zu Gott und die Erfahrungen mit Gott, die im Prozess der Evangelisierung bezeugt und ermöglicht werden.
Diese Art der Bezeugung des Glaubens verwirklicht das traditionelle Konzept des Glaubenszeugnisses. Ein Glaubenszeugnis steht für Beziehungen, die gelebt und Erfahrungen, die ermöglicht werden, nicht dafür, dass jemand öffentlich seine Überzeugung von der Wahrheit einer Glaubensformel kundtun würde. Papst Paul VI. nennt es darum das „Zeugnis ohne Worte“ und versteht dieses wortlose Sprechen von Gott als eine „stille, aber sehr kraftvolle und wirksame Verkündigung der Frohbotschaft“ (EN 21). Dieses Zeugnis ohne Worte kommt ohne den ausdrücklichen Gottesbezug aus. Es eröffnet aber den Raum für die echte Gotteserfahrung.
Ein Beispiel dafür, wie die Kirche derzeit auch in Deutschland Glaubwürdigkeit unter Beweis stellt, ist, wenn sie den Glauben an den Menschen bekennt. Das hat man in den letzten Monaten deutlich gespürt: Das deutliche und kompromisslose Eintreten vieler Bischöfe für die Aufnahme von Flüchtlingen, unabhängig von ihrer Religion, wurde in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend sehr positiv gewürdigt. Das stille und alltägliche Engagement ungezählter Christinnen und Christen vor Ort, die Deutschunterricht geben, Kleidung und Unterkünfte besorgen, als Ansprechpartner und Begleitpersonen zur Verfügung stehen, hat möglicherweise sogar noch mehr Glaubwürdigkeit erbracht.
Beredter als eine gott-lastige Sprache spricht eine gotthaltige Praxis von Gott.
Der Glaube an den Menschen, an Menschenwürde und Menschenrechte, wird gerade in diesem Beispiel nicht nur praktisch unter Beweis gestellt. Er wird auch in Gesprächen, Diskussionen und Leserbriefen, sowie in Seminaren, Podiumsdiskussionen und Leitartikeln begründet, entfaltet und reflektiert. Der Name Gott muss in diesen Reflexionen nicht vorkommen. Es genügt, auf die eigene Überzeugung von der Würde jedes einzelnen Menschen zu verweisen und sie im praktischen Handeln zu demonstrieren. Die Öffentlichkeit nimmt es sehr wohl wahr, wenn es Christinnen und Christen sind, die sich in einer solchen Weise verhalten, und kann die theologische Begründung, die sich in diesem Handeln verbirgt, entschlüsseln, ohne dass sie explizit benannt wird.
Der Glaube an den Menschen zeigt sich nicht nur im Einsatz für die Menschenrechte. Er wird auch in der zupackenden Überzeugung sichtbar, dass Helferinnen und Helfer es sich selbst und den Flüchtlingen zutrauen, diese schwierige Situation zu meistern. Das Motto „Wir schaffen das!“ wurde gerade auch von Christinnen und Christen gerne aufgegriffen. Der Glaube an den Menschen bedeutet hier: Wir glauben, dass wir Menschen gemeinsam – Helfende und Geflüchtete – Subjekte dieser krisenhaften Situation sind oder sein können.
Diese Beispiele zeigen, dass die Rede von Gott auch in gott-loser Sprache glaubwürdig vermittelt werden kann. Es sind drei Beispiele, in denen auch zum Ausdruck kommt, was der Dichter Kurt Marti schreibt: „Dass Gott ein Tätigkeitswort werde.“[4] Beredter als eine gott-lastige Sprache spricht eine gotthaltige Praxis von Gott. Auch sie ist notwendig, damit unsere Rede von Gott überhaupt glaubwürdig sein kann.
Die ausdrückliche Rede von Gott ist deswegen nicht falsch und nicht unnötig. In manchen Situationen ist sie aber missverständlich oder kann missbraucht werden. Manche Menschen fühlen sich von dieser ausdrücklich religiösen Rede nicht eingeladen, sondern ausgeschlossen. In solchen Fällen ist es gut zu wissen: Es gibt Alternativen zur religiösen Sprache.
Papst Franziskus gehört zu den religiösen Autoritäten weltweit, die dies verstanden haben und praktizieren. Jeden Monat publiziert er ein kurzes Video, in dem die traditionellen „Gebetsmeinungen des Heiligen Vaters“ in einer neuen Sprache beworben werden. Sie sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man Menschen in einer gottlosen Sprache zum Gebet bewegen kann.
Stefan Silber ist Privatdozent am Institut für katholische Theologie an der Universität Osnabrück und Pastoralreferent in der Diözese Würzburg.
Photo: Rainer Bucher
Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung des Autors an der Universität Osnabrück, die hier als Volltext hier gelesen und heruntergeladen werden kann.
[1] Karlheinz Ruhstorfer: Die Gretchenfrage neu stellen. Suchbewegungen eines katholischen Theologen im Osten, Feinschwarz.net vom 15. April 2016.
[2] Merton, New Seeds of Contemplation 15 [meine Übersetzung. Im Original steht für [Gott] jeweils das männliche Personalpronomen].
[3] Publik-Forum, Sonderheft „Eine feurige Wolke in der Nacht…“ (Redaktion Britta Baas und Johanna Jäger-Sommer), Oberursel 2004, 22.
[4] Kurt Marti: Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen, Hamburg/Zürich 1979, 135.