SIGNA’s Performance-Installation „Das halbe Leid“ führt sein Publikum gekonnt an seine Grenzen. Sie verbringen die Nacht in einer Empathie-Schule. Ein Erfahrungsbericht von Nathalie Dickscheid.
Die Adventszeit ist angebrochen. Ebenso omnipräsent wie Glühweinduft und Lichterketten sind plakatierte und digitale Appelle an unser Gewissen. In dieser Zeit der Harmonie und des Kommerz‘ sollen wir auch diejenigen nicht vergessen, die unser Geld nötiger hätten als die Verkäuferin am Gebrannte-Mandel-Stand. Dabei muss man gar nicht weit gehen, um das Elend auf unseren Straßen zu sehen, diejenigen zu sehen, die an der Peripherie der Weihnachtsmärkte sitzen und hoffen, dass etwas von unserer Spendierfreude auf sie abfällt. Tatsächlich werden sie aber selten gesehen, eher beflissentlich ignoriert, auch von mir.
Legitimiert wird dieser Selbstschutzmechanismus häufig durch das Subsidiaritätsprinzip und die trügerische Annahme, in Deutschland müsse ja niemand auf der Straße leben, es gäbe doch genügend Einrichtungen, in denen man einen neuen Anfang finden könne. Der Zynismus dieses Trugschlusses wurde mir in der Performance-Installation „Das halbe Leid“ des dänisch-österreichischen Performance-Kollektivs SIGNA (uraufgeführt am 16.11.2017, gehostet vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg) nachhaltig vor Augen geführt.
Über Nacht: Ein fiktiver Verein bietet einen Kurs an, Zugang zu den Rändern unserer Gesellschaft zu finden.
Eine Handlung gibt es nicht, wohl aber eine Spielvereinbarung, und wer sich als Publikum für die 12 Stunden (die Performance startet um 19 Uhr und endet um 7 Uhr des Folgetages) in die ehemalige Fabrikshalle am Wiesendamm einfindet, spielt mit, übernimmt eine Rolle: Sie sind Kursist*in einer Empathie-Schulung. „Das halbe Leid e.V.“ ist ein (fiktiver) Verein, der für Leidende verschiedenster Art (Obdachlose, Drogenabhängige, Geflüchtete, you name it…) ein Zufluchtsort sein und ihnen im Leid beistehen will.
Der Verein bietet abgestumpften Außenstehenden – so das zynische Heilsversprechen – durch Vorträge, Aktivitäten und ein intensives Mentoring-Programm Zugang zu den Rändern unserer Gesellschaft und zur eigenen Empathiefähigkeit. Angeleitet wird der Kurs durch zwölf sogenannte „Mitleidende“, harmlos wirkende aber übergriffige Ehrenamtliche, die in auffällig pastelltönigen Strickpullundern und Karottenhosen zu Beginn des Kurses in einem lieblos gestalteten Vortragsraum vor uns stehen und alle Teilnehmenden auf 5 „Leidsätze“ verpflichten:
- „Ich trage deine Kleidung und deinen Namen.
- Ich ekle mich nicht vor dir.
- Ich darf dich nicht beurteilen.
- Ich versuche nicht, dir dein Leid wegzunehmen.
- Ich nehme teil an deinem Leid“
Joy führt mich zu ihrem Stockbett, deutet missbräuchliche Familienverhältnisse an und erklärt mir die Hackordnung unter den Leidenden.
Alles klar? Los geht’s! Hab und Gut wird in einen rostigen Spint geschlossen, ehe die Kursist*innen nach Geschlecht getrennt in die Schlafsäle geführt werden. In Reih und Glied aufgestellt werden wir nun einzeln von den rund 30 Leidenden erwählt, die sich uns als Mentor*innen annehmen werden. Joy stellt sich vor mich. Eine hübsche, blonde junge Frau mit verheulten Augen und verhärtetem Blick. „Willst du meine Kursistin sein?“ Sie führt mich zu ihrem Stockbett, das auch meine Ruhestätte für die Nacht sein wird. Während sie aus ihrem Kleidersack eine schwarze Jogginghose und einen Kapuzenpulli mit Pitbulldruck für mich heraussucht, erzählt sie mir, wie sie beim Verein gelandet ist. Sie deutet missbräuchliche Familienverhältnisse an, vor denen sie nach Hamburg geflohen sei, nur um dort wieder in die missbräuchlichen Hände eines vermeintlichen Freundes zu geraten.
Joy erklärt mir die Hackordnung unter den Leidenden, die von den Mitleidenden stillschweigend hingenommen wird: sie selbst gehört zu den „Deutschen“, den Privilegierten, die das Sagen haben; mit den „Zigeunern“, den „Stinkenden“ und den „Bekloppten“ spricht sie nicht. Auch ich soll sie ignorieren, denn ich bin jetzt Joy II.
Meine Aufgabe ist es mit Joy mitzugehen, mitzufühlen, ihre Perspektive einzunehmen.
Meine Aufgabe ist es, mit Joy mitzugehen, mitzufühlen, ihre Perspektive einzunehmen und zu verinnerlichen bis zum „Identitätswechsel“. Joys rassistische Grundhaltung irritiert mich dabei vor allem deshalb, weil ich die junge Frau mag. Ihr Leid hat sie stumpf werden lassen, das verstehe ich. Sie muss sich anderen gegenüber mächtig fühlen, um ihre eigene Ohnmacht nicht zu spüren. Auch die karge, kühle Einrichtung des Vereinsheims und die Gruppendynamik machen deutlich: Leid korrumpiert, schafft neue Strukturen des Leids.
So perfide wie das grundsätzliche Kurssetting sind auch die 20-minütigen Aktivitäten, die ich mit Joy besuche: In pseudotherapeutischen Gesprächen werden die Leidenden dazu gebracht, ihre schlimmsten Ängste, ihre schamhaftesten Gedanken preiszugeben, sich demütigen und so näher an die Realität ihres Leids heranführen zu lassen. Die Kursist*innen sind dabei angehalten, diese Gefühle zu verstärken und so den Leidenden „Rückenwind“ zu geben.
Dilemma: Wahre ich die Integrität der Spielvereinbarung, verliere ich meine moralische Integrität.
Permanent muss ich mich entscheiden, entweder die Integrität der Spielvereinbarung zu wahren und damit meine eigene moralische Integrität zu verlieren oder aktiv zu werden, einzuschreiten, Haltung zu beziehen. Die Tatsache, dass das alles nicht real ist, verstärkt das Dilemma, denn: ist es wirklich notwendig, bei einer – sicherlich authentisch wirkenden, aber dennoch gespielten – Prügelei zwischen zwei Performern dazwischen zu gehen? Andererseits: wenn ich es hier nicht schaffe, werde ich es draußen in der realen Welt tun? Und macht es mich nicht zur Leidensvoyeurin, nichts tuend daneben zu stehen?
Immer wieder kommen wir in den Aktivitäten auf Dolores zu sprechen. Die magere, dunkelhaarige, blasse Frauengestalt, die auf allen im betreuten Bastelraum gestalteten Bildern zu sehen ist, ist die Manifestation des Leids. Ein Phantasma, das mir nicht zugänglich ist, weil mein Leid nicht so groß ist wie das von Joy und den anderen Leidenden. Für Dolores wird gebastelt, eine Hütte gebaut, in Aktivitäten wird versucht, ihre Präsenz heraufzubeschwören und ihr mit – notfalls durch Zwiebelsaft forcierten – Tränen eine Liebesgabe darzubringen. Der geteilte Mythos, der dem Verein sektiererische Züge verleiht, treibt den ohnehin omnipräsenten Zynismus auf die Spitze.
Ein zynischer Kult um Dolores, die Manifestation des Leids – das Gegenteil von einem Heiland.
Denn Dolores ist das Gegenteil von einem Heiland: sie erlöst nicht, sondern will das Leid zutage fördern, wach halten und nähren. Dasselbe will der Verein, denn er ist auf das Leid der Leidenden angewiesen, um in den Empathie-Schulungen daraus Profit schlagen zu können. Während ich mich frage, wer im realen Leben einem so lebensabgewandten Glaubenssystem ernsthaft anhängen könnte, wird mir augenblicklich (erneut und auf neue Weise) bewusst, wie leidorientiert und auch masochistisch die christliche Frömmigkeitsgeschichte war und ist.
Am Ende dieser Performance-Erfahrung, die als Hybrid von Life-Rollenspiel und sozialem Experiment viel von seinem Publikum abverlangt, frage ich mich, was dieses immersive, postdramatische Theater von mir will. In der zynischen Zuspitzung erscheint „Das halbe Leid“ als kritischer Kommentar zur aristotelischen Katharsis-Lehre: die erlösende Empathie-Schule Theater wird auf die Schippe genommen
Die Pervertierung der Katharsis-Lehre wird zum Haltungstraining.
Absurderweise eröffnet sich aber gerade in der Pervertierung dieser Idee ein Extremraum, der permanent Mitfühle evoziert und tatsächlich einlöst, was er in der Fiktion verspricht. Er wird zum Haltungstraining, das mich nicht mehr auf dieselbe Weise wie zuvor an den Randständigen neben den Hamburger Weihnachtsmärkten vorbeigehen lässt, weil sie den Leidenden des Vereinsheims zum Verwechseln ähnlich sehen.
Wie zynisch sind Mitleid und Nächstenliebe?
Zugleich eröffnet sich ein ganzer Fragehorizont: Wie zynisch sind Mitleid und Nächstenliebe? Wo profitiere ich vom Leid anderer? Wie stigmatisierend und veränderungshemmend ist „Solidarität im Leid“? Und welche Ideologie, welcher Glaubenshorizont kann im Leid tatsächlich Hoffnung spenden und zu einem Neuanfang dynamisieren? Diese Fragen, so naheliegend und banal sie auch sein mögen, sind durch SIGNA’s Performance auf neue und greifbare Weise virulent geworden, weil sie im „halben Leid e.V.“ ein Gesicht bekommen haben.
Link zu Vorstellungsterminen und weiteren Informationen zum Stück (schauspielhaus.de)
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Nathalie Dickscheid ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften/Arbeitsbereich Religionspädagogik der Universität Hamburg. In ihrem fundamentaltheologischen Promotionsprojekt untersucht sie die Relevanz des Gegenwartstheaters für die Theologie.
Bild: Produktionsfoto von SIGNA’s »Das halbe Leid«, Uraufführung am 16.11.2017 in der alten Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck (Wiesendamm) / Deutsches Schauspielhaus Hamburg (Konzept: Signa Köstner; Regie: Signa und Arthur Köstner). Bild: SIGNA © Köstner
Von der Autorin bereits bei feinschwarz.net erschienen:
Wut und Rage im Theater: „Das Problem ist wie üblich, daß uns niemand liebt…“