Der Klimawandel ist eine globale Herausforderung quer durch die Religion. Lejla Demiri legt Spuren für eine grüne islamische Theologie.
Einer der Höhepunkte des muslimischen Kalenders ist die Himmelsreise des gesegneten Propheten. In muslimischen Schriften wird beschrieben, wie der Prophet aus dem Heiligtum in Jerusalem durch die sieben Himmel in die göttliche Gegenwart aufgenommen wurde. Dort bot ihm der Engel Gabriel zwei Becher an: einen mit Wein und einen mit Milch. Der Prophet entschied sich für die Milch, woraufhin der Engel zu ihm sagte: „Du bist zusammen mit deiner Gemeinschaft zur Natur geführt worden“ (überliefert von Bukhari).
Muslimische Theolog:innen stritten sich über die Bedeutung dieser Aussage. Es besteht jedoch allgemein Einigkeit darüber, dass die Religion des Propheten in einem wachen Sinn für die göttliche Immanenz in allen Dingen verwurzelt sein muss. Der Koran sagt: „Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Gottes Angesicht“ (Koran 2:115).[1] Obwohl es im Koran heißt, dass Adam und Eva aus dem Paradies entführt wurden, wurde dies nicht als Bruch in der Schöpfung angesehen, da Gott, der unter anderem den Namen al-Muhit, der Allumfassende, trägt, in jeder Ordnung der geschaffenen Welt vollkommen gegenwärtig ist. Was auch immer der Anschein sein mag, es gibt keinen beschädigten Bereich, der durch Gottes Ferne ausgezeichnet wäre, in den die Menschheit fallen könnte. Obwohl die Welt für uns oft schwierig und tragisch ist, weil Gott sowohl „Namen der Strenge“ als auch „Namen der Barmherzigkeit“ hat, bedeutet dies nicht, dass Er abwesend sein kann, im Gegenteil, Er ist uns näher als unsere Halsschlagader (Koran 50:16).
Der Koran verkündigt, dass alle Schöpfungsordnungen im Lobpreis begriffen sind
Die Welt wird daher als ein dynamisches Zusammenspiel göttlicher Qualitäten gesehen; es ist keine andere Macht am Werk. Sie ist eine Fortsetzung des paradiesischen Raums, jedoch unter Einbeziehung bestimmter Eigenschaften der göttlichen Strenge, die bei weniger erleuchteten Menschen das Gefühl der Entfernung von Ihm hervorrufen. Muslimische Denker:innen neigen dazu, unsere Notlage als eine des Vergessens und des mangelnden Verständnisses zu beschreiben.
Dem Propheten, der „zur Natur geführt“ wird, wird eine Schrift gegeben, die voller Hinweise auf die Welt als eine Fülle an Zeichen ist: „In der Erschaffung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Tag und Nacht sind wahrlich Zeichen für Einsichtsvolle“ (Koran 3:190). Darüber hinaus verkündigt der Koran, dass alle Schöpfungsordnungen im Lobpreis begriffen sind, und zwar in einer Form, die ihrem Wesen vollkommen entspricht: „Es lobpreisen Ihn die sieben Himmel und die Erde und wer darinnen ist. Es gibt nichts, was Ihn nicht lobpreist. Aber ihr versteht ihren Lobpreis nicht“ (Koran 17:44). Und: „Sahst du denn nicht, dass alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, Gott preist? Auch die Vögel, wenn sie ihre Schwingen ausbreiten. Alle wissen, wie sie zu beten und zu preisen haben. Gott weiß um das, was sie tun“ (Koran 24:41).
Die Heiligen des Islams werden dafür gefeiert, dass sie mit der Natur und insbesondere mit Tieren in Verbindung stehen.
Muslimische theologische Anthropologie ist der Auffassung, dass der natürliche und normale Zustand des menschlichen Wesens darin besteht, dieses Gebet zu hören und ein eigenes Gebet hinzuzufügen, um die Teilhabe der Menschheit am universellen Lobpreis des Schöpfers zu zeigen. Daher werden die Heiligen des Islams dafür gefeiert, dass sie mit der Natur und insbesondere mit Tieren in Verbindung stehen. Eine Reihe von prophetischen Sprüchen mahnt zur Tierliebe, einerseits aus ethischen Gründen, da die Sprüche darauf hinweisen, dass Gott Grausamkeit gegenüber jeglicher Kreatur bestrafen würde. Andererseits aber auch wegen der gepriesenen Fähigkeit des Propheten, die Art und Weise, wie Tiere Gott loben, zu erkennen. Es gibt viele Erzählungen über seine Fähigkeit, seinen Nachfolger:innen das Lob der Natur zu zeigen. So berichten einige, dass er Kieselsteine in der Hand halten konnte und seine Nachfolger:innen dann in der Lage waren, deren einzigartige Form des Lobes zu hören.
Wahrscheinlich liegt es an dieser Vorstellung einer kosmischen Symphonie, dass sich die islamische Kunst so oft auf die Natur beruft, und zwar nicht nur in Form von realistischen Darstellungen, sondern auch in Form von abstrakten pflanzlichen Motiven und Arabesken, die die kosmische geometrische Dynamik widerspiegeln, von der man glaubt, dass sie hinter der Oberfläche aller Dinge existiert. Die muslimische religiöse Praxis ist ebenfalls von der Natur geprägt, da die Gebete und anderen Rituale des muslimischen Kalenders von den Veränderungen der Sonne und des Mondes bestimmt sind. Indem die Gläubigen auf diese Weise in allgegenwärtige Erinnerungen an Gottes Schönheit einbezogen werden, sind sie dazu eingeladen, sich über Egozentrik und Unwissenheit zu erheben und sich jenen Heiligen anzuschließen, die, wie der größte Theologe des Islams, al-Ghazali, sagt, „nichts als den Einen in allen Dingen“ wahrnehmen.
Die Verbundenheit mit der Natur prägt viele der kleineren muslimischen Rituale.
Dies hilft uns zu verstehen, warum die heilige Poesie des Islam, einschließlich der Verse von Rumi, die im modernen Westen so populär geworden sind, eine Literatur der Freude ist, die uns dazu anspornt, wieder zu unserem angeborenen Bewusstsein für die göttliche Schönheit in der Welt zurückzufinden; jenem vollkommenen und ununterbrochenen Ausströmen Gottes heiterer und vollkommener Natur. Es ist eine Poesie der Liebe und sogar der Ekstase, die sich an unserer Zugehörigkeit zu Gott durch unsere Zugehörigkeit zur Welt erfreut. Wie der Dichter Sa‘di schrieb: „Ich freue mich an der Welt, weil die Welt sich an Ihm freut“. Diese Freude an der Welt sprach Goethe an und spiegelt sich in seinem bekannten West-östlichen Divan wider.
Die Verbundenheit mit der Natur prägt viele der kleineren muslimischen Rituale, die sich auf Anrufungen und Bittgebete zur Zeit des Regens, des Windes oder der Dürre beziehen, oder auf Essen und Trinken, auf eheliche Intimität, darauf, Kinder in der Welt willkommen zu heißen und darauf, Sterbenden zu helfen, die Natürlichkeit ihres Übergangs in die Barmherzigkeit Gottes zu akzeptieren.
Wir Menschen sind keine einzigartig andere Spezies, zu deren Nutzen allein andere Ordnungen der Schöpfung existieren.
Es wird jedoch angenommen, dass „zur Milch geführt werden“ noch eine weitere Dimension beinhaltet, die in vielerlei Hinsicht geheimnisvoll ist. Vögel und Tiere dienen unter anderem der Menschheit, was sich in der natürlichen Hierarchie der Dinge zeigt. Aber sie existieren auch als eigenständige Gemeinschaften mit eigenem Recht. Der Koran sagt uns: „Weder gibt es ein Tier auf Erden, noch einen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, die nicht, gleich euch, Gemeinschaften wären“ (Koran 6:38). Wir können die politische oder sprachliche Weltkarte betrachten, doch die islamische Schrift weist uns darauf hin, dass wir uns auch eine andere Karte vorstellen können: die Karte der Bären zum Beispiel, oder der Kaninchen oder der Tiger. Und diese sind in gewisser Weise „wie wir“. Das Ausmaß des tierischen Bewusstseins und sogar der tierischen Moral hat Ausleger:innen des Korans lange beschäftigt; aber eines jedenfalls ist für Muslim:innen klar: Wir Menschen sind keine einzigartig andere Spezies, zu deren Nutzen allein andere Ordnungen der Schöpfung existieren.
Menschen haben eine Verpflichtung, die Schöpfung zu bewahren und für sie zu sorgen (khilafa) (siehe Koran 35:39). Indem wir die Natur schützen, schützen wir Arten der Schöpfung, die dazu geschaffen sind, Gottes Herrlichkeit zu bezeugen. Jedes Geschöpf ist ein Hinweis auf Gott und ein Zeichen seiner Gegenwart, und deshalb hat es Rechte. Die Natur muss gehegt und gepflegt werden. Der Prophet sagte: „Kein Muslim pflanzt einen Baum oder sät einen Samen, und dann isst ein Vogel oder ein Mensch oder ein Tier davon, ohne dass es als ein Almosen von ihm erachtet wird“ (überliefert von Bukhari).
Jedes Geschöpf ist ein Hinweis auf Gott und ein Zeichen seiner Gegenwart, und deshalb hat es Rechte.
Die Gläubigen, die auf die Welt blicken, werden von der Schönheit Gottes inspiriert. Doch das khilafa-Prinzip wird so verstanden, dass es eine Verantwortung gegenüber dem bedeutet, was die Seele erfrischt und erhebt. Alle „Gemeinschaften“ der Natur existieren in einer Symbiose. So heißt es in der Schrift: „Den Himmel hob Er in die Höhe und stellte die Waage auf, auf dass ihr beim Wiegen nicht übertretet!“ (Koran 55:7-8). Wenn jede Ordnung der Schöpfung existiert, um Gott zu preisen und auf Ihn hinzuweisen, dann ist ihre Zerstörung ein Angriff auf die Quelle des Glaubens.
Die muslimische Welt ist aufgrund ihrer geografischen Lage besonders anfällig für die globalen Klimaveränderungen, die eine Folge des modernen Hedonismus und Materialismus sind. Muslimische Theolog:innen erkennen jedoch, dass es nicht ausreicht, wohlhabendere Länder zu bitten, ihren Konsum einzuschränken. Vielmehr spielen sie eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, dem lokalen Materialismus mit seinen falschen Glücksversprechen entgegenzutreten und von der dringenden Notwendigkeit, die Schöpfung zu bewahren, zu predigen.
Nur eine gemeinsame Rückbesinnung auf das Heilige uns davon abhalten kann, dem Wunder der Welt Gottes, das uns erhält, weiteren Schaden zuzufügen.
In Pakistan führte die religiöse Betroffenheit angesichts des Klimawandels kürzlich zu einer erfolgreichen Kampagne, bei der eine Milliarde Bäume gepflanzt wurden. In Marokko erhielten Tausende von Imamen eine spezielle Ausbildung, um über den Klimawandel zu predigen. In Indonesien übernahm die religiöse Führung eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Umweltzerstörung, indem sie beispielsweise das Entzünden von Feuern in Wäldern für religiös verboten erklärte. Überall in der muslimischen Welt fordern islamische Gelehrte trotz administrativer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten ihre Gemeinden auf, weniger zu konsumieren und sich mehr zu engagieren. Im Islam, wie auch in anderen Religionen, glaubt man, dass der Schlüssel zur Lösung der Klimakrise im Herzen liegt: Es ist klar, dass rein materialistische Lösungen versagen, und nur eine gemeinsame Rückbesinnung der Menschen auf das Heilige uns davon abhalten kann, dem Wunder der Welt Gottes, das uns erhält, weiteren Schaden zuzufügen.
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Text: Lejla Demiri ist Professorin für Islamische Glaubenslehre am Zentrum für Islamische Theologie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Übersetzung vom englischen Original ins Deutsche fertigte Lea Schlenker an.
Bild: mhrezaa / Unsplash
[1] Die Übertragung der koranischen Passagen ins Deutsche erfolgte in Anlehnung an Hartmut Bobzin, Der Koran, aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, 3. Aufl., München: Verlag C. H. Beck, 2019.
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