Der Dialog mit Ergebnissen moderner Empathieforschung bedeutet für die Exegese biblischer Texte neue Chancen und Herausforderungen. Ein Beitrag von Nancy Rahn.
Über Empathie nachzudenken, kann heissen, Emotionspolitiken in Kirche und Gesellschaft auf den Grund zu gehen: Wie werden Emotionen sozial verhandelt? Was prägt ihre Wahrnehmung, den Umgang mit ihnen, die wechselseitige Bezugnahme auf sie in (nicht nur) menschlichen Beziehungen? Empathie steht zur Debatte, immer wieder, in vergangenen und aktuellen Krisen und Diskursen. Empathie ist vielfältig in dem, was sie ist, was sie beeinflusst und was sie aus sich heraus setzt. Empathie hat bei aller Breite der Begrifflichkeiten zu tun mit der Suche nach dem Zugang zur emotionalen Welt anderer und meiner selbst. Die Beschäftigung mit Empathie kann ein Weg sein, den zahlreichen kulturellen, historischen und politischen Aspekten von Emotionen auf die Spur zu kommen.
Empathie steht zur Debatte
In der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft wird im letzten Jahrzehnt verstärkt zu Emotionen und ihrer Kommunikation geforscht. Auch in anderen theologischen Disziplinen, sowie in den Neurowissenschaften, der Pädagogik und weiteren Forschungszweigen rücken Emotionen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Langsam werden harsche Polaritäten von Denken und Fühlen, Affekt und reflektierter Reaktion, Universalität und kultureller Rückbindung, Körper und Geist kritisch bedacht, hinterfragt und aufgebrochen. Trotzdem wurde ich vor wenigen Jahren, als ich im Kolleg*innen-Kreis von meinen Plänen erzählte, eine Habilitation zu Empathie im Alten Testament zu schreiben, mit der Aussage konfrontiert, dass das ja „ein richtiges Frauenthema“ sei. Empathie, vor allem in ihren fürsorglichen Ausprägungen, wird mit dem Weiblichen, dann auch mit dem idealisiert-überhöht Mütterlichen assoziiert. Empathie mit dem Ziel des strategisch-klugen Agierens, der emotionalen Kontrolle, gar des Missbrauchs zur Absicherung eigener Macht, ist wohl eher nicht im Blick. Autor*innen wie die Linguistin Luise Pusch und der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt haben auf solche Polaritäten und auf die „dunklen Seiten“ der Empathie hingewiesen.
Langsam werden harsche Polaritäten aufgebrochen
Geschlechterdynamiken sind nur ein Bereich der Reflexion über Emotionen und ihre Kommunikation. Dieser ist nicht nur für moderne Diskurse und das Navigieren durch gesellschaftlich herausfordernde Zeiten relevant. Auch historisch arbeitende Wissenschaften wie die biblische Exegese können ihren Teil produktiv dazu beitragen. Umgekehrt profitieren Theologie und Exegese für ihre Beschäftigung mit Emotionen von anderen Disziplinen mit ihren jeweiligen Fragestellungen.
Das Spektrum der Definitionen von Empathie ist breit. Genaue begriffliche Entsprechungen in den hebräischen, aramäischen und griechischen Texten verschiedener biblischer Kanontraditionen gibt es nicht. Das hält zur methodischen Vorsicht an, muss uns aber nicht abhalten, einen offenbar produktiven modernen Diskurs mit antiken Texten zu verbinden. Auch bei einem Begriff wie „Gerechtigkeit“ oder „Hoffnung“, für den sich schnell verschiedene altsprachliche Übersetzungen finden lassen, bleibt offen, ob das, was wir heute damit verbinden, (genaue) Entsprechungen in antiken Kontexten findet und umgedreht.
Einen offenbar produktiven modernen Diskurs mit antiken Texten verbinden
Angelehnt an moderne Konzeptionen des Empathiebegriffs, z.B. in Form eines breiten Horizonts von Empathiedimensionen,[1] die von leiblich-körperlichen Phänomenen über affektiv-emotionale bis hin zu kognitiven Ausprägungen reichen, lässt sich ein Suchraster entwickeln, mit dem antike Texte auf eine Sinnebene des Empathischen hin befragt werden können. Dabei kommen sowohl Begegnungen von Akteur*innen auf Textebene, als auch die Relation zu den Rezipient*innen der Texte in den Blick. Ein paar wenige kleine Text-Vignetten aus der alttestamentlichen Literatur können das illustrieren:
Ein paar wenige kleine Text-Vignetten
Wir begegnen immer wieder einer Basisform von Empathie: der emotionalen Ansteckung, vor allem im „echten Leben“ aber durchaus auch in Texten und Bildern vergangener Zeiten. Spielarten emotionaler Ansteckung finden nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und der sie umgebenden Schöpfung statt – trauerndes Land, schreiende Steine, bebende Erde – und lassen sich weiterdenken in Bezug auf die emotionale Kommunikation zwischen Gott und den Menschen. Texte wie 2 Sam 3,31-37 (Davids Trauer um Abner, den Heerführer Sauls und dessen Begräbnis)[2] zeigen nicht nur die Nähe zwischen Emotion und Ritualisierung, sondern auch, dass Literatur uns Emotionen nie ungefiltert präsentiert. Emotionen werden ausgewählt, gezeigt, wahrgenommen, sie werden gedeutet und es wird auf sie Bezug genommen. Zwischen diesen Stationen liegen Räume der Reflexion und Entscheidung.
31Und David sagte zu Joab und zu all dem Volk, das bei ihm war: Zerreißt eure Kleider und gürtet euch mit Sacktuch und haltet Totenklage vor Abner her! Und der König David ging hinter der Bahre her.
32Und sie begruben Abner in Hebron. Und der König erhob seine Stimme und weinte an Abners Grab, und das ganze Volk weinte.
33Und der König stimmte ein Klagelied über Abner an und sprach: Musste, wie ein Gottloser stirbt, Abner sterben?
34Deine Hände waren nicht gebunden, und deine Füße nicht in bronzene Fesseln gelegt. Wie man vor Verbrechern fällt, so bist du gefallen! Da weinte alles Volk noch mehr über ihn.
35Und alles Volk kam, um David Brot zu reichen, während es noch Tag war. Aber David schwor und sprach: So soll mir Gott tun und so hinzufügen, wenn ich vor ⟨dem⟩ Untergang der Sonne Brot oder ⟨sonst⟩ irgendetwas genieße!
36Und alles Volk nahm es wahr. Und es war gut in ihren Augen, wie alles, was der König tat, in den Augen des ganzen Volkes gut war.
37Und das ganze Volk und ganz Israel erkannten an diesem Tag, dass es nicht vom König ⟨ausgegangen⟩ war, Abner, den Sohn des Ner, zu töten.
Dieser Ausschnitt steht zugleich exemplarisch für die durchgehend wichtige leiblich-körperliche Dimension von Emotionen und Empathie. Über den Körper, seine Teile, seine Wahrnehmung, sein Handeln werden Emotionen für andere zugänglich und eine empathische Bezugnahme möglich. In der modernen Diskussion werden affektiv-emotionale Dimensionen von Empathie von leiblich-körperlichen Dimensionen unterschieden.
Leiblich-körperliche Dimension von Emotionen
In der Sprach- und Denkwelt alttestamentlicher und anderer antiker Texte (auch in der griechischen Literatur ist die bekannte Trennung zwischen Körper und Geist nicht von Anfang an vorgegeben) lassen sich die Ebenen kaum gänzlich auseinanderdividieren. Trotzdem gibt es heuristisch sinnvolle Abstufungen: Zwischen Gefühlsansteckung/Synchronisierung oder unmittelbarem Ausdrucksverstehen (s. als Beispiel Neh 2,2) und fortgeschritten reflektierter Empathie als expliziter emotionaler Bezugnahme in Mitfreude oder Mitleid. Diese Anteilnahme, auch wenn sie dem Wahrgenommenen entgegengesetzt ist wie bei der Schadenfreude oder dem Neid, ist häufig körperlich vermittelt – in Gesten, Handlungen und Mimik. Dasselbe gilt auch für andere Gefühle wie etwa die Wut angesichts des Leides eines*einer Anderen, denen sich ganze Gruppen von (Klage-)Texten verschrieben haben.
Anteilnahme … ist häufig körperlich vermittelt
Die Vorstellung, dass Gott emotional Anteil nimmt am Ergehen der Schöpfung ist z. B. in der Jona-Erzählung greifbar und wird dort verbunden mit einer Reflexion auf die grundsätzliche Möglichkeit der Empathie zwischen Gott und Mensch, Mensch und Umwelt (nicht nur der menschlichen, vgl. Jon 3,7-10), Mensch, Umwelt und Gott. Mit einer wohl relativ späten Entstehung des Jona-Buches in persisch-hellenistischer Zeit befinden wir uns hier schon an einem fortgeschrittenen Punkt des Nachdenkens über diese Zusammenhänge – aber noch lange nicht an seinem Ende.
9 Und Gott sprach zu Jona: Ist es recht, dass du wegen des Rizinus zornig bist? Und er sagte: Mit Recht bin ich zornig bis zum Tod!
10 Und der HERR sprach: Du bist betrübt wegen des Rizinus, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zugrunde ging.
11 Und ich, ich sollte nicht betrübt sein wegen der großen Stadt Ninive, in der mehr als 120 000 Menschen sind, die nicht unterscheiden können zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und eine Menge Vieh?
Jon 4,9-11 bietet einen Diskurs um empathische Bezugnahme: Gott und Jona sprechen über ihre eigenen Emotionen, nehmen diejenigen des Gegenübers wahr und gehen darauf ein. Auch kognitive Dimensionen von Empathie werden damit in diesem Dialog deutlich. Alttestamentliche Texte machen sich solche empathisch-nachdenklichen Auseinandersetzungen zunutze. Sie laden zur Selbstreflexion ein, aber auch zum kollektiven Lernen der Tora als Meditation der Geschichte Gottes mit seinem Volk und der ganzen Schöpfung. Zu solchen kognitiven Dimensionen von Empathie gehören beispielsweise mentale Zeitreisen, so im bekannten Text Ex 23,9:
9 Und den Fremden sollst du nicht bedrücken. Ihr wisst ja selbst, wie es dem Fremden zumute ist, denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen.
Die mentale Zeitreise führt nach Ägypten in die Sklaverei, noch für Generationen und Jahrtausende später. Zu der durchgehend leiblich-körperlichen Verankerung von Empathiephänomenen in alttestamentlichen Texten, die aber (und das läuft unserem modernen, westlich-europäischen Denken häufig entgegen) „emotionale“ und „rationale“ Ebenen verbindet, tritt hier ein weiterer roter Faden: Empathie als nicht primär individuelles Erleben, sondern als kollektives Handeln. „Ihr wisst ja selbst, wie es dem Fremden zumute ist“ (bei Luther 2017: „Ihr wisst um der Fremdlinge Herz“) weist im hebräischen Text auf die näfäsch des Menschen, seine Kehle, die Grundbedürfnisse kommuniziert: Essen, Trinken, Atem, Gemeinschaft und die über den Kontakt mit der griechischen Antike zur Seele wurde. So macht Hiob seinen Freunden in Hi 16,4a deutlich:
4a Auch ich könnte reden wie ihr. Wäret ihr doch an meiner Stelle!
Heute würden wir sagen: Stecktet ihr doch in meinen Schuhen! Würdet ihr nur einen Tag das Leben durch meine Augen (oder meine Brille) sehen! Könntet ihr euch in mich hineinversetzen! Hiob sagt auf Hebräisch: Wäre doch eure Kehle anstelle meiner Kehle! Übersetzungsprozesse sind immer wieder Teil von Empathiedynamiken – auch deshalb sind antike Texte ein so reicher Schatz für die historische Emotionenforschung.
Stecktet ihr doch in meinen Schuhen!
Was erhoffen wir uns von Untersuchungen der emotionalen Kommunikation in Texten und ihrer Geschichte? Wir versuchen Fenster zu öffnen in die Entstehungszeit der Texte. Wie konnte Erlebtes und Reflektiertes in Sprache verdichtet werden? Welche Begriffe, welche Sprachformen, welche Bilder standen dafür zur Verfügung? Wir versuchen die Geschichte der Texte besser zu verstehen. Welche Bedeutung hatten emotionale Dynamiken für verschiedene theologische Interpretationen der Texte? Schämten sich die ersten Menschen im Garten Eden in der Hebräischen Bibel vielleicht anders, lachte Sara anders, trauerte David anders, als in verschiedenen Übersetzungen der Erzählung in verschiedenen Zeiten und verschiedenen anthropologischen Grosswetterlagen? Emotionen und ihre Kommunikationsformen haben eine Geschichte die sich immer wieder materialisiert hat – nicht nur in Texten, sondern auch in Musik, Kunst, Architektur. Dasselbe gilt für die grundlegende Fähigkeit von Lebewesen, auf die Emotionen eines Gegenübers Bezug zu nehmen und damit Zusammenleben zu ermöglichen und zu gestalten.
Dr. Nancy Rahn ist Postdoktorandin und Assistentin am Institut für Altes Testament der Universität Bern und zusätzlich ab 1. August 2024 Dozentin für Semitische Sprachen (Schwerpunkt Biblisch-Hebräisch) an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
Beitragsbild: Engin Akyurt / pixabay.com
[1] So z.B. in den Analysen des Kölner Philosophen Thiemo Breyer.
[2] Alle Texte sind der Übersetzung der Elberfelder Bibel entnommen.