Ein interdisziplinäres Team hat sich auf die Suche nach Spuren von Religion in den Alpen gemacht. Entstanden ist ein Dialog von Musik, Fotografie und Wissenschaft. Anna-Katharina Höpflinger und Daria Pezzoli-Olgiati geben Einblicke in das Projekt vor, zu dem auch eine in Gestaltung und Inhalt vielfältige multimediale Publikation vorliegt.
Das unwegsame italienische Bergdorf Bordo, das aufgrund seiner verkehrstechnisch ungünstigen Situierung fast ganz aufgegeben war, erfuhr in den 1980er Jahren eine Transformation: Häuser wurden aufgekauft und restauriert, um ein buddhistisches Zentrum zu eröffnen. Die abgelegene Lage, die das Dorf entsiedelt hatte, war nun der Grund für seine Wiederbevölkerung. Bordo bietet heute eine Auszeit aus dem hektischen Alltag für Menschen, die sich mit buddhistischen Praktiken auseinandersetzen wollen. Es wird genau wegen seiner Lage und seiner einfachen Infrastruktur zu einer Gegenwelt zum verbreiteten Leistungsleben.
Ebenfalls ein Ausbrechen aus dem Alltag ermöglicht die Belle Epoque Woche in der Berner Gemeinde Kandersteg. Eine Woche lang pro Jahr werden die Besuchenden mit einem Gottesdienst, einem Markt, verschiedenen Kursen und Ausstellungen in das „goldene Zeitalter“ um die Jahrhundertwende entführt. Umringt von einem sagenhaften Bergpanorama bietet die Erlebniswoche eine Zeitreise in eine idealisierte Vergangenheit jenseits der Alltagshektik.
Der alpine Kontext ermöglicht die symbolische und emotionale Aufladung des jeweiligen Ortes.
Das einfache buddhistische Leben in Bordo und das Eintauchen in ein „goldenes Zeitalter“ sind gar nicht so unterschiedlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: In beiden Fällen ist es der alpine Kontext, der die symbolische und emotionale Aufladung des jeweiligen Ortes ermöglicht. Bordo eignet sich genau wegen seiner Lage jenseits des motorisierten Verkehrs als Ort der Einkehr. Kandersteg entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem touristischen Zentrum, in dem die Alpen als Sehnsuchtsort erfahren wurden.
Indem sich Menschen heute in entsprechender Kleidung und mit passenden Accessoires auf die Suche nach dem „goldenen Zeitalter“ machen, gönnen sie sich ein Erlebnis, das in einer vergleichbaren Tradition steht. Trotz aller Unterschiede sind in beiden Orten die jeweiligen Auszeiten religiös untermauert. In Bordo wurde das Dorf durch eine buddhistische Bewegung wiederbelebt, in Kandersteg wird die Belle Epoque Woche durch einen evangelischen Gottesdienst eröffnet, der die Zeitreise als transzendentes Erlebnis thematisiert. Diese Beispiele deuten auf unterschiedliche Weise auf die Dynamik von Religion im alpinen Kulturraum hin.
Religiöse Traditionen und Praktiken spielen oft eine zentrale Rolle
Berge sind zugleich nützlich und gefährlich, sie werden verehrt und gefürchtet, alpine Dörfer verlassen und wiederbelebt, genutzt und umgenutzt. Dabei spielen religiöse Traditionen und Praktiken oft eine zentrale Rolle. Neben Vorstellungen und Ritualen, die seit Jahrhunderten belegt sind und stets adaptiert wurden, findet man neue Formen des Religiösen. Religiöse Gemeinschaften und Rituale können prominent alpines Leben gestalten wie in Bordo oder eher als Rahmung dienen wie in Kandersteg.
Spannung zwischen dem Kontrollierbaren, und dem, was sich der Kontrolle widersetzt
Die Vielfalt an religiösen Gemeinschaften, Vorstellungen, Praktiken und Ritualen, Traditionen und symbolischen Deutungen, die in den Alpen zu beobachten sind, lässt sich nicht unter dem Konzept einer homogenen „alpinen Religion“ zusammenfassen. Sucht man jedoch nach Tendenzen oder Gemeinsamkeiten durch den Vergleich von Fallstudien, dann erscheinen die Ambivalenz und die Spannung zwischen dem, was Menschen kontrollieren können, und dem, was sich der Kontrolle widersetzt, als ein verbreitetes Leitmotiv.
Zur Illustration kann man auf das unter anderem in der Innenschweiz verbreitete Wetterläuten hinweisen. Die harmonischen Glockenklänge alpiner Kirchen dienten nicht nur dazu, den Tagesrhythmus der Gemeinde zu bestimmen oder den Gottesdienst anzukündigen, sondern wurden auch dazu verwendet, um gefährliche Wesen zu vertreiben, die für das Unwetter verantwortlich gemacht wurden.
Die Spannung zwischen Kontrollierbarem und Unkontrollierbarem wird auch in Bündner Legenden thematisiert, in denen von gefährlichen Bergfeen erzählt wird. Sie wurden für das menschliche Gedeihen und Verderben in den alpinen Gegenden verantwortlich gemacht. Diese unkontrollierbaren Figuren wurden mit Phänomenen verbunden, denen die Gemeinschaften ausgeliefert waren. Heute werden die Bergfeen verniedlicht und als Bezeichnungen für touristische Angebote verwendet. Familien fahren etwa zum Freizeitpark Madrisa und geniessen die Berge, die dank modernster Infrastruktur leicht zugänglich und sicher gemacht wurden.
Wissenschaftlich wenig erforscht
Obwohl die Vielfalt an religiösen Formen in alpinen Kulturen eine zentrale Rolle spielt, ist dieses Thema wissenschaftlich wenig erforscht, was – gerade angesichts zeitgenössischer Herausforderungen – erstaunt. In den Berggebieten spielen Nachhaltigkeit und die Auswirkungen der Klimakrise, die Entwicklung der Mobilität und der touristischen Nutzung eine prominente Rolle.
Dabei werden diese Themen häufig mit religiösen Traditionen, Reflexionen und Praktiken verwoben. Rituale zum Schutz gegen den Gletscher werden umgestaltet in Rituale für den Erhalt des Eises. Körperliche (Extrem-)Erfahrungen im Alpinismus liefern die Möglichkeit, die eigenen Grenzen zu transzendieren. In Alpentälern, die als idyllische Orte der Erholung und des Naturerlebnisses aufgesucht werden, können sich in kürzester Zeit eine unbeschreibliche Zerstörungskräfte entfalten. Steigende Mobilität erfordert neue Verbindungswege durch die Alpen: In der Unterwelt des Tunnelbaus wird der Erfahrung des menschlichen Ausgeliefertseins sowohl mit präzisen Sicherheitsmassnahmen als auch mit religiösen Praktiken begegnet.
Unkontrollierbares und Bedrohliches wird in Vertrautes überführt
Die Alpen sind also ein Raum, in dem Grenzen zwischen Erhabenheit und Fragilität ständig ausgehandelt und symbolisch aufgeladen werden. Die Spannung zwischen Faszination und Gefahr, zwischen Eroberung und Katastrophe, dem Ausgeliefertsein und der Domestizierung spiegelt sich in religiösen Reflexionen und Praktiken. Rituale, Gegenstände und Erzählungen überführen Unkontrollierbares und Bedrohliches in Vertrautes. Gefürchtete jenseitige Dimensionen werden so kontrollierbar und erfahrbar gemacht.
Religion in den Alpen als interdisziplinäres Projekt
Um die Vielfalt an historischen und gegenwärtigen Aspekten von Religion zu erkunden, hat das interdisziplinäre Projekt Grenzgänge. Religion in den Alpen bei konkreten Orten angesetzt, jenseits positiver oder negativer Vorurteile und Klischees gegenüber Religion. Im Sinne von „Tiefenbohrungen“ suchen Fachleute aus unterschiedlichen, religionsbezogenen Disziplinen nach Spuren von Religion in den Alpen.
Das Motiv der Grenze als dynamische Spannung wurde als strukturierendes Element des Projektes verwendet und in verschiedene Richtungen entwickelt. Grenzen zwischen dem Hier und Jetzt und transzendenten Dimensionen sind symbolische Auseinandersetzungen mit dem Alpenraum, sie sind nicht in der Landschaft angelegt.
- Damit sie wahrnehmbar werden, müssen Grenzen erzählt werden. In Legenden, Romanen, Dichtungen oder politischen Programmen werden diese Grenzen angelegt. Auffallend ist, dass in diesen Narrativen transzendente Momente der Alpen, die sich oft im Spannungsfeld zwischen Nutzen oder Verehrung und Gefahr bewegen, hervorgehoben oder erklärt werden. Dabei wird die ambivalente Verwendung religiöser Motive ersichtlich, die sowohl als alltägliche Praxis der Kontingenzbewältigung in einer herausfordernden Umwelt erfahren als auch als Überhöhung des Berges in der Begründung totalitärer Visionen eingesetzt werden.
- Grenzen sind auch in der materiellen Kultur eingeschrieben: Gegenstände und Praktiken gestalten die ambivalente Beziehung des Menschen zu den Alpen. In unserem Projekt wurde insbesondere auf Wetterglocken und Gipfelkreuze sowie auf Passionsspiele fokussiert. Auch die Belle Epoque Woche in Kandersteg, die zu Beginn erwähnt wurde, gehört als Wiederbelebung einer vergangenen Zeit in diesen Teil des Projektes.
- Die Alpen mit ihren hohen Massiven und tiefen Schluchten trennen. Und dennoch wirken historische Wege über die Höhen und gegenwärtige technologische Bauten durch die Berge dem entgegen, indem sie die natürlichen Hindernisse umgehen. Diese Erschliessungen des Alpenraums verdichten die Erfahrung der Grenzen, weil sie sie zugleich sichtbar machen und überwinden. Dabei sind religiöse Deutungen des Berges notwendig, um diese Erschliessung überhaupt zu ermöglichen.
- Grenzen sind mobil und werden ständig verschoben, Transformationen und Adaptionen sind auch in den Alpen beobachtbar, und zwar oft gerade dort, wo sich urbane Menschen vielleicht unbewegliche Traditionen vorstellen oder sich sogar danach sehnen. Religiöse Symbolsysteme gehen einher mit Innovations- und Anpassungsprozessen. In filigranen Austauschprozessen verändern sich religiöse Gemeinschaften und Weltbilder im Laufe der Zeit. Das bereits genannte buddhistische Zentrum in Bordo ist ein prägnantes Beispiel für einen solchen Wandel und eine religiöse Adaption eines alpinen Ortes.
Texte, Musik und Bilder im Dialog mit der Wissenschaft
Ausgehend von diesen pluralen Wahrnehmungen der alpinen Gebiete wurde das Forschungsprojekt von Anfang an „vielstimmig“ angelegt, nämlich in Kooperation mit wissenschaftlichen Fachleuten aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, Musik und Fotografie. Visuelle und akustische Erkundungen religiöser Motive, Narrative und Praktiken in den Alpen erweitern mit ihren spezifischen Herangehensweisen den Horizont der kulturwissenschaftlichen Studien.
Der Fotograf Marco Volken bietet mit einem visuellen Essay eine sensible, beschreibende Darstellung von materiellen Objekten, die auf ein spannungsvolles Verhältnis mit jenseitigen und transzendenten Mächten hinweisen. Sein Blick auf Religion in den Alpen erkundet das ambivalente Verhältnis zu Religion, das Menschen ausgeformt haben und im Laufe der Zeit transformieren.
Der Dialog mit der zeitgenössischen Musik ist ein weiterer zentraler Aspekt. Matthias Arter und Darija Andovska haben Musikstücke komponiert zu ausgewählten Forschungsarbeiten aus unserem Projekt. Ihre Musikstücke sind von den Klängen inspiriert, die in den untersuchten Quellen mitschwingen. Ein berstender Gletscher, die Stimmen der bösen Geister, die vom Glockenläuten eingeschüchtert werden, oder die Schritte eines mutigen Mönchs, der den Alpinismus ante litteram praktizierte, werden aufgenommen und akustisch weiterentwickelt.
Die Musikstücke bilden eine Brücke zwischen dem beschreibenden Charakter der kulturwissenschaftlichen Studien und der Fotografie. Sie eröffnen einen akustischen Raum, in dem Angst und Faszination, Katastrophe und Überhöhung musikalisch erkundet werden können.
In diesem Zusammenspiel von Musik, Fotografie und Wissenschaft haben wir versucht, Religionen in den Alpen als vielschichtige Sinngebungssysteme zu rekonstruieren, in denen die Grenzen zwischen Unkontrollierbarem und Kontrollierbarem gesucht, ausgehandelt, verdichtet, verschoben oder infrage gestellt werden.
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Die multimediale Publikation zum Thema: Höpflinger, Anna-Katharina/Pezzoli-Olgiati, Daria/Previšić, Boris/Volken, Marco (Hg.), Grenzgänge. Religion und die Alpen, mit Fotos von Marco Volken, Zürich: Pano 22024, mit QR-Codes zu den Musikaufführungen der Preart Soloists Matthias Arter (Oboe und Lupophon), Karolina Öhman (Violoncello) und Vladimir Blagojević (Akkordeon).
Anna-Katharina Höpflinger, PD Dr., ist akademische Oberrätin am Lehrstuhl für Religionswissenschaft und Religionsgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Körper, Kleidung und Religion, Religion und Tod, europäische und antike Religionsgeschichte sowie Heavy Metal.
Bilder: Marco Volken