Religiösen Fragen in konzentrierten Dialogen nachzugehen, erscheint Tim Kortendieck als wichtige und unterschätzte Form gemeinsamer Suche nach Antworten. Er findet sie bei Stefan Seidel und dessen Buch „Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen“.
Buchstäblich mit ans Lagerfeuer nehmen möchte Stefan Seidel die Leser:innen seines kleinen Interviewbandes „Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen“, um nichts anderes zu tun, als dort mit ihnen und religiös affinen Menschen wie Tomáš Halík, Daniela Krien oder Jürgen Moltmann über die berühmte „Gretchenfrage“ nachzusinnen. Insgesamt 19 Persönlichkeiten, vornehmlich aus dem Bereich der zeitgenössischen Literatur und Theologie, hat sich Seidel in eigens dafür geführten Schreibgesprächen vorgenommen – ein Format, das dem religiösen Suchen und Fragen durchaus gut steht. Denn um zu ergründen, was persönlichster Urgrund jener Hoffnung ist, die religiös sensible Menschen in der Gegenwart bewegt und abseits akademisch-schriftstellerischer Motive in ihrem eigenen Glauben auszeichnet, braucht es vor allem eines: Zeit und Gelegenheit religiös sprachfähig zu werden.
Der in Leipzig lebende evangelische Theologe und Psychologe Stefan Seidel, nimmt sich diese Zeit, da der existenzielle „menschliche Bedarf nach [transzendenter] Sinngebung“ heute weitgehend vom „therapeutischen Feld“ sowie der „Wellness-Industrie“ (8) absorbiert worden und damit zur Geisel einer „kapitalistischer Entertainments- und Therapeutenkultur“ (10) geworden sei. Unabhängig davon, ob man diesem etwas zu holzschnittartig geratenem Zeitgeist-Pejorativum zustimmen mag, führt Seidels einleitender Problemaufriss doch zu einem kritischen Punkt: Wer sich in westeuropäischen Gesellschaften heute über Göttliches und Transzendentes verständigen will, begegnet einer großen „Fremdheit, Stummheit und Hilflosigkeit“ (12). Die erodierten, krisengeschüttelten Kirchen dringen mit ihren Versuchen, das Weisheitswissen der jüdisch-christlichen Tradition zu vermitteln nicht mehr durch; auf Seiten der Skeptiker:innen reicht es oft schon nicht mal mehr für einen philosophisch fundierten Atheismus. Kurzum: Religion ist im Abendland in der Bedeutungslosigkeit versunken, „sie ist Sache einiger Weniger und den meisten derart gelichgültig, dass sie nicht mehr Gegenstand gemeinschaftlichen Gesprächs ist – das Vokabular und die gemeinschaftlichen Koordinaten für eine Verständigung sind abhandengekommen“ (12).
Spuren des Religiösen
in Schriften und Äußerungen.
Es ist daher das noble Ziel des Autors, den Leser:innen aus seinen Gesprächen heraus gewissermaßen einen „Wortschatz“ der „Sprache Religion“ zur Verfügung zu stellen. Ein Wortschatz, der dabei jedoch nicht auf einer rein deskriptiven Ebene stehen bleibt. Formen des Gebets und religiöse Praxen umfasst er genauso, wie das – mit Tomáš Halík mal religionsphilosophische, mit Christian Lehnert mal poetische und Pierre Stutz mal mystische – Nachdenken darüber, was mit dem einfachen Wort „Gott“ überhaupt gemeint sein soll. Kenntnisreich führt Seidel dabei in das Werk seiner jeweiligen Interviewpartner:innen ein, ergründet Spuren des Religiösen in ihren Schriften und Äußerungen und nutzt diese als behutsamen Einstieg ins Gespräch, das schnell an Tiefe gewinnt. Es schenkt Freude und Erkenntnis, wenn etwa die Grande Dame der Analytischen Psychologie, Ingrid Riedel, theologisch schwer gewordene Kategorien wie Erlösung in wenigen, prägnanten Sätzen psychoanalytisch fundiert ohne sie auf rein immanente Vorgänge zu reduzieren. Es berührt und motiviert, wenn der hochbetagte Jürgen Moltmann davon erzählt, wie er als junger Flakhelfer im Frühling 1945 im Hamburger Bombenhagel trotz oder gerade wegen des Sterbens um ihn herum zum Gott seines Lebens fand.
Biographische Resonanzerfahrungen
Herausgekommen ist dabei ein Portfolio unterschiedlicher Sprachspiele, Bilder, Erinnerungen und biographischer Resonanzerfahrungen – eine „bunte Tüte“ religiöser Sprechversuche, in der mit ihren oft tastend-mystischen Umschreibungen vielleicht nicht allen alles schmeckt, doch in der für jede:n Anregendes und Unerwartetes zu finden sein wird. Es ist die große Leistung von Seidels kleiner Sammlung, dass in ihr nicht einfach Worte und Ideen nachgebetet werden, sondern „in Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst […] durchbuchstabiert wird, was das Glauben an das Aufgehobensein in der größeren Liebe Gottes bedeutet“ (137). Für Gläubige und Zweifler ist dies vielleicht der intellektuell redlichste Weg, von einem „übernommenen Glauben“, der – so schreibt Seidel im Gespräch mit Hanne Ørstavik– nicht selten Gefahr läuft, eine „Spielart der Macht und Manipulation und Lenkung“ durch andere zu sein, hin zu einem „wahrhaftigen Glauben, einer ureigenen Rückbindung an das göttliche Ganze“ (82f.) zu finden. Wer Seidel und seinen Gesprächspartner:innen zuhört, dem wird das Diktum Rahners von der Mystiker:in als der Frommen von Morgen als nur allzu vertrautes Echo im Ohr klingeln.
Jüdische und islamische Perspektiven
hätten die Grenzgänge komplettiert.
Offen bleibt, warum Seidel in diesem im besten Sinne katholischen, weil umfassenden Buch, nur Menschen eine Stimme gegeben hat, die sich aus dezidiert christlicher Prägung heraus auf der Gottessuche befinden. Eine jüdische oder muslimische Perspektive hätten seine konfessionell bewusst undogmatisch gehaltenen Grenzgänge gewiss nicht ausufern lassen, sondern eher komplettiert. Generell spiegelt die Auswahl der Gesprächspartner:innen die Affinität des Autors zu hoher Literatur, Lyrik und Psychologie wider. Voraussetzungslos ist das nicht, bietet zugleich aber einen ergiebigen Fundus an literarischen Anregungen und weiterführender Lektüre.
Seidels Buch mag in seinem starken Hang zum Wort protestantisch sein, es ist jedoch genau darin ein wichtiges Buch. Denn wenn Sprache – so antwortet die kroatische Schriftstellerin Marica Bodrožić an einer Stelle – eine „Funkenkraft der Wirklichkeitsstrukturierung“ (43) besitzt, profitiert jede:r, die/der den „göttlichen Funken“ (Meister Eckhardt) in sich nicht erlöschen lassen will, vom großen Sprach- und Erfahrungsschatz dieses Buches.
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Stefan Seidel: Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen. Claudius-Verlag München 2022. 26,00 €.
Tim Kortendieck, geb. 1996, ist katholischer Theologe und wissenschaftliche Hilfskraft am Seminar für Dogmatik und Dogmengeschichte sowie am Sonderforschungsbereich für Recht und Literatur der WWU Münster. Daneben befindet er sich in Vorbereitung auf das erste juristische Staatsexamen.
Titelbild: Edan Cohen / unsplash.com
Portätbild: T. Kortendieck privat