Die katholische Kirche Kirche kann nicht nur, sie muss sogar für ihre Handlungsfelder andere Ansprüche stellen als die demokratisch verfasste Gesellschaft, in der sie existiert. Doch ihr „Dritter Weg“ wäre nur als Projekt der gleichberechtigten Zusammenarbeit aller Beteiligten glaubwürdig. Richard Hartmann zum Entwurf einer neuen Grundordnung für den kirchlichen Dienst.
Vor fast 20 Jahren fragte ich in einem Seminar die Generaloberin einer sozial tätigen Ordensgemeinschaft nach dem „Mehrwert“ ihrer Tätigkeiten in Sozialstationen, Kranken- und Pflegeheimen. Sie war zunächst ratlos, weil auch ihre Organisation bei den erstattungsfähigen Regelleistungen blieb. Erst im Laufe des Gespräches wurde deutlich, welchen Mehrwert sie doch erbrachten. Kirche muss in ihren Handlungsfeldern einen anderen Anspruch erfüllen als säkulare Träger.
In Deutschland wird das Selbstbestimmungsrecht der Kirche verfassungsmäßig garantiert (Art. 140 GG i. V. m. Art 137 WRV). Das ist noch gesellschaftlicher Konsens. Es gewährt den Religionsgemeinschaften Handlungsfreiheit in vielen Feldern. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird in politischen Aushandlungssystemen gesichert, obliegt aber auch gerichtlicher Prüfung in der Konkurrenz zu anderen Rechten, v. a. den Grund- und Menschenrechten.
Selbstbestimmungsrecht der Kirche
Die Gesellschaft anerkennt besondere Ausprägungen im Miteinander der Religionsgemeinschaften, die durch ihr Selbstverständnis geprägt sind. Andererseits prüft sie – auch gerichtlich – , ob die betroffenen Menschen dadurch nicht benachteiligt werden. Für die Kirche bietet das Selbstbestimmungsrecht eine Chance und zugleich eine Herausforderung. Ihre Glaubwürdigkeit steht nämlich in der Ausgestaltung auf dem Prüfstand. Nur einen irgendwie verbrieften Rechtsanspruch zu sichern, wird mittelfristig nicht tragen.
Im Umgang miteinander und in der Darstellung nach außen müssen Wege gefunden werden, die die Kirche aufgrund von Offenbarung, in Schrift und Tradition und unter Erwägung der Zeichen der Zeit beschreiten kann. Dazu gehört auch, gesellschaftlich anders bewertete Themen durch klare Positionierung zu kontrastieren. Dies zeigt sich u. a. in den ethischen Urteilen zu Fragen nach dem Schutz menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zu seinem Ende und der Achtung der Würde der Toten, nach Krieg und Frieden, nach sozialer Gerechtigkeit und weltweiter Solidarität (Kirchenasyl).
Spannungsreich bleiben die Prozesse des Aggiornamento der Kirche: Galt, zugespitzt im 19. Jahrhundert, die monarchische Alleinbestimmung des römischen Lehramtes, haben inzwischen die Anerkennung der vielen Loci theologici (Melchior Cano) und die Neuakzentuierung der Konziliarität und Synodalität zu einer Pluralität und einer geringeren Eindeutigkeit der kirchlichen Lehre geführt. Sie differenziert sich regional aus und führt auch zur innerkirchlichen Pluralität. Es ist nicht mehr eindeutig zu beschreiben, was kirchlich handlungsleitend ist.
Neue Grundordnung für den kirchlichen Dienst in Vorbereitung
Eine neue Grundordnung für den kirchlichen Dienst ist in Arbeit, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Initiative #outinchurch und verschiedener Gerichtsurteile auf europäischer Ebene. Eine Kommission der Bischofskonferenz unter Leitung von Kardinal Woelki hat einen Entwurf vorgelegt, der jedoch viele Kritikpunkte nicht aufnimmt, so z. B. die strukturelle Benachteiligung der Arbeitnehmerseite in Verhandlungen. Sowohl aus traditionell konservativer Seite wie von gesellschaftsoffen liberaleren Positionen wird das Projekt insgesamt infrage gestellt.
Während die einen die privaten Loyalitätsverpflichtungen der Mitarbeiter:innen unbedingt erhalten wollen, auch und gerade in Fragen der Lebensführung und moralischen Anforderungen von Ehe und Familie, halten andere die Möglichkeiten des zivilen Arbeitsrechts für ausreichend, zumal diese durch weitere Betriebsvereinbarungen und darin vereinbarte Regelungen zur Loyalität konkretisiert werden können.
Anspruch der gemeinsamen Sendung nicht hinreichend operationalisiert
Es gibt sehr viele Gründe dafür, die Idee der gemeinsamen Sendung der Kirche und der Art, wie sie in ihren Projekten zum Ausdruck kommt, festzuhalten. So sehr auch die Kirche „weltlichen Bedingungen“ unterliegt, so sehr soll und will sie zugleich eine andere Form der Kooperation vorlegen. Das gemeinsame Tun aller Christgläubigen und aller Menschen guten Willens soll in paritätischer Verantwortung und Gleichheit erkennbar werden. Dass dafür der nationalsozialistisch geprägte Begriff der Dienstgemeinschaft gewählt wurde und in der weiteren Ausführung gerade die Gleichrangigkeit der Mitarbeitenden nicht ausreichend verankert ist, deckt die ideologische Färbung auf. In Theorie und Praxis ist der Anspruch der gemeinsamen Sendung in dieser Form arbeitsrechtlicher Ordnungen nicht hinreichend operationalisiert.
Die alte Vokabel von der Vorfeldarbeit scheint immer noch im Hintergrund zu stehen.
Die alte Dichotomie von kirchlichem Handeln im engeren Sinn und „Vorfeldarbeit“ taucht in unterschiedlicher Weise wieder auf. Höhere Ansprüche an religiöse und kirchliche Bindung und Identifikation auch mit den moralischen Konsequenzen werden an „pastorale“ Mitarbeiter:innen gestellt, dahinter verbergen sich in den Texten vorrangig Tätigkeiten in Gottesdienst und Glaubensverkündigung, auch in kirchlicher Leitung, nur nachrangig die diakonischen Felder. Die alte Vokabel von der Vorfeldarbeit scheint immer noch im Hintergrund zu stehen, das Verstehen von Diakonie als Herz der Kirche, wie es sowohl im Pontifikat Benedikts XVI. als auch bei Franziskus aufgewertet wurde, ist wohl noch nicht rezipiert.
Veraltete Vorstellungen von Kirchenzugehörigkeit
Dazu zeigt sich eine Vorstellung von Kirchenzugehörigkeit und religiöser Bindung aus einer anderen Epoche. „Gut katholisch“ sind dabei wohl vorrangig die Menschen, die in allen Lehrpositionen und in ihrem gewissenhaften Verhalten eine Totalidentifikation mit dem Lehramt in seiner Ausprägung des Katechismuswissens zeigen. Gewissensfreiheit und kritische Loyalität sind ebenso wenig zugelassen wie eine ausdifferenzierte Bewertung der Lebensweisen, wie sie selbst innerkirchlich offen und synodal diskutiert wird. Woran macht sich die Loyalität mit der Kirche deutlich? Man versucht zwar die Frage von geschlechtlicher Identität zu vermeiden und selbst das Scheitern von Lebensentwürfen wird nicht mehr zum K.o.-Kriterium. Muss dann neu ein Eid zum Gehorsam in Lehrfragen und die Kirchenmitgliedschaft in Form der Kirchensteuer das vorrangige Kriterium werden? Wie ist das in einer Landschaft kirchlich-theologischer Pluralität zu bewerten? Geht dies in einer fluide gewordenen und nicht eindeutig an äußeren Kriterien zu messenden kirchlichen Wirklichkeit überhaupt?
Peter L. Berger hat – deutsch 1980 – den Begriff des „Zwangs zur Häresie“ geprägt. Er versteht unter Häresie die Notwendigkeit zu Wahl und Selektivität im Blick auf die vorgelegte Tradition. Es ist gesellschaftlich nicht mehr möglich, einen Katalog von Wort-Wahrheiten im Sinne von Katechismus-Antworten vorzulegen, der – auch wenn vielleicht in einer gestuften hierarchischen Relevanz – von allen angenommen wird. Von daher ist der Rahmen der erwarteten Identifikation mit der Kirche selbst unter Aushandlungsprozessen zu verstehen. Die Spannung von „belonging without believing“ (vgl. Grace Davie) lässt erkennen, dass die (formale) Zugehörigkeit zur Kirche noch längst keine Sicherheit über die Glaubensanerkenntnis nach sich zieht, dass umgekehrt aus verschiedensten Gründen glaubende Menschen zur Institution Kirche nicht mehr dazugehören wollen. Das einfache Kriterium der Kirchengliedschaft reicht darum nicht, um etwas über die innere Dienstbereitschaft auszusagen.
Wie wird kontrolliert?
Kritisch wird dies jedoch dann, wenn Menschen dienstlich Glauben verkündigen, die in ihrem privaten Umfeld z. T. das Gegenteil leben und behaupten. Dies zu beurteilen, bedarf dann doch wieder einer Kriteriologie und des damit verbundenen Versuchs von Grenzziehungen. Welche Themenfelder brauchen eine solche Identität? Wie kann ich sie fixieren (vgl. Treueeid der Kleriker) und vor allem wie kann ihre Einhaltung geprüft werden, ohne eine Kirche der Spitzel zu errichten? Und in welcher Weise kann eine solche Haltung festgestellt und bewertet werden? Wer schreibt die Zeugnisse, wie werden die Verhaltensnormen kontrolliert, ohne in eine neue Form von Überwachung zu kommen verbunden mit der dann unumgänglichen Atmosphäre von Angst und Unsicherheit?
Rechtsunsicherheit durch Ermessensentscheidungen?
Nicht wenige freuen sich über die vielen möglichen Ermessensentscheidungen, die ermöglichen, jenseits aller Kasuistik jeden Fall einzeln zu beurteilen. Doch entsteht dadurch nicht eine viel größere Rechtsunsicherheit? Wessen Ermessen entscheidet über Pro und Contra im angezweifelten Arbeitsverhältnis? Sind diese Entscheidungen ebenso gleichrangig zwischen Mitarbeiter:innen und Dienstgeber gestellt? Haben sie nicht viel mit allgemeinem Wohlgefallen und Anpassungsbereitschaft zu tun? Die Formen der kooperativen und gleichberechtigen Zusammenarbeit in MAV und KODA müssen m. E. auch hier neu bewertet werden. Nicht selten sind die Mitarbeitenden allein durch den schwächeren Zugriff auf Verwaltungswissen und durch geringere personelle Ressourcen strukturell benachteiligt, v. a. wenn es keine direkte gewerkschaftliche Beteiligung geben darf.
Ein vom „Zweiten Weg“ unabhängiges Procedere zeigt sich selten.
Im Blick auf die tarifrechtlichen Bedingungen orientiert sich der Dritte Weg auch jetzt schon an den auch durch Streik ausgehandelten Tarifen außerhalb des kirchlichen Weges. Zwar werden, auch aus Konkurrenzgründen, immer wieder darüber hinausgehende Boni gewährt, doch ein tatsächlich vom Zweiten Weg unabhängiges Procedere zeigt sich selten.
„Dritter Weg“ ist nur als Projekt gleichberechtigter Zusammenarbeit aller Beteiligten glaubwürdig.
Die Weiterentwicklung des bisherigen „Dritten Weges“ wäre nur dann glaubwürdig, wenn sie von vornherein als Projekt der gleichberechtigten Zusammenarbeit aller Beteiligten entwickelt würde und nicht als Ausführung eines Procederes, das die Bischöfe gesetzt haben. Einen Mut, der solches eröffnet, traue ich bis heute den Bischöfen nicht zu. Auch bin ich mir nicht sicher, ob die Bischöfe bei entsprechendem Vorgehen nicht deutlich durch den Heiligen Stuhl ausgebremst werden. Insgesamt scheint es, dass unter derzeitigen Verhältnissen darum der „Dritte Weg“ nicht durchführbar sein dürfte..
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Richard Hartmann ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Theologischen Fakultät in Fulda.
Bild: Rainer Bucher (Autobahnkirche Medenbach)
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