Die Botschaft Jesu hat prinzipielles Gewicht. Sie stärkt das Gewissen. Sie ist der Anfang einer Hoffnung für die Welt und die Aussicht auf eine endgültige Zerstörung des Bösen. Von Elmar Klinger.
In Deutschland gibt es keine allseits anerkannte Widerstandstradition. Man ist gewohnt, im Streit zwischen Obrigkeit und Untergebenen sich hinter die Obrigkeit zu stellen und nie für die Untergebenen einzutreten. Wir glauben an das Gute im Vorgesetzten. Der nationalsozialistische Staat mit seinen Menschenrechtsverbrechen war für uns daher eine unvorstellbare Erfahrung. Man hat sie nicht für möglich gehalten und auch nie vorher als Möglichkeit gedacht. Sie ist auch heute unbewältigt. Denn was hat zu geschehen, wenn unter den Vorgesetzten das Böse, das Übel nistet und sie Verbrechen begehen? Wie muss sich der Untergebene zu dieser Obrigkeit verhalten?
Wann muss das Volk Widerstand leisten und der Einzelne in ihm?
Vor einiger Zeit geschah an einem bayerischen Gymnasium Folgendes: Die Lehrerin hat die Schüler ihrer siebten Klasse Fotografien aus dem Familienalbum von zu Hause mitbringen lassen. Die Schüler sollten lernen, sich als Kinder einer Verwandtschaft zu verstehen. Dabei tauchte
ein Bild aus dem Zweiten Weltkrieg auf: ein deutscher Soldat vor dem Hintergrund eines Haufens gestapelter Leichen. Der Onkel hat von sich ein Bild machen lassen und es nach Hause geschickt. Dort klebt es im Familienalbum bis auf den heutigen Tag. Eine makabre Situation: Massenmord im Familienalbum. Der Onkel und seine Erinnerung an den Holocaust. Gruppenbild mit Leichen.
Ich erzähle diese Geschichte nicht, um mich zu entrüsten, aber sie ist symptomatisch. In ihr wird ein Stück politischer Intimsphäre sichtbar, ein Stück moralisch-politischen Verstands des Volkes. Die Frage lautet: Wie verhält es sich zu seiner Vergangenheit? Denn in dieser Vergangenheit steckt seine Zukunft. Sie ist sein Existenzproblem. Wann muss das Volk Widerstand leisten und der Einzelne in ihm?
Der Glaube der Christen ist weder ein Obrigkeitsglaube noch ein Glaube dekadenter Unterwürfigkeit des Menschen.
Christen haben es schwer in dieser Frage. Denn es heißt ja, dass man dem Bösen nicht widerstehen soll, dass man die linke Wange hinhalten muss, wenn die rechte geschlagen wird, und der Leib-Rock abzutreten ist, wenn einem der Mantel genommen wurde. Was also ist zu tun bei einem Verbrechen? Standhalten und sich ihm widersetzen oder es geschehen lassen und ihm entfliehen? Darf man also nicht zurückschlagen, wenn man geschlagen wird, nicht zurückholen, was einem genommen wird, sich nicht verteidigen, wenn man angegriffen wird, keine Anklage gegen den Angreifer erheben?
Aber der Glaube der Christen ist weder ein Obrigkeitsglaube noch ein Glaube in Sinn dekadenter Unterwürfigkeit des Menschen. Er steht sowohl gegen das Obrigkeitsgehabe wie gegen jede Unterwürfigkeitsmentalität. Er ist weder ein Argument für die Weltherrschaft der Verbrecher noch eine Entschuldigung für die Feigheit und Würdelosigkeit ihrer Gefolgsleute, Mitläufer und Untergebenen. Denn er ist ein Festhalten an der Botschaft Jesu vom Reich Gottes und an seiner Predigt von der Würde des Menschen.
Beide Themen sind die Pole der Verkündigung Jesu und ihrer Eschatologie. Diese hat zwei Prinzipien, nämlich Gott und den Menschen; Gott, sofern er in Jesus dem Menschen nahe ist und sich mit seinen Anliegen identifiziert; und der Mensch, der dem in Jesus nahen Gott begegnet, seiner Berufung durch ihn folgt und dadurch in seiner ursprünglichen Würde neu bestätigt und gefördert wird. Gott ist jemand, der beschlossen hat, seine Herrschaft auf der Erde zu errichten, ein Reich, in dem es keinen Tod und kein Unglück, keine Sünde und keine Krankheit und überhaupt nichts gibt, was den Menschen zerstört. Der Mensch ist jemand, der von Gott berufen ist, der Partner Gottes zu sein, der Sohn Gottes, der Gottes Willen vollbringt.
Gott steht ein für den Menschen und der Mensch steht ein für Gott.
So wenig es die Reich-Gottes-Predigt ohne den Menschen gibt, so wenig gibt es die Bergpredigt ohne Gott. Beide sind in beiden gleich wesentlich. Gott steht ein für den Menschen und der Mensch steht ein für Gott. In einer Welt jedoch, in der man dieses Einstehen für den Menschen als Bedrohung von Staat und Gesellschaft betrachtet, wird die Botschaft Jesu zu einem Prinzip des Widerstandes. Wo immer jemand die Menschenrechte verletzt und die Menschenwürde missachtet, muss er diese Botschaft als Herausforderung empfinden. Sie ist ein Prinzip der Anklage jeden Verbrechertums nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Staat.
Der Christ und die Christin werden in einer verbrecherischen Welt unweigerlich zu einem Hort des Widerstandes. Denn sie unterwerfen sich nicht dem Bösen. Sie treten ihm entgegen und hindern es an seiner Herrschaft. Aber das Prinzip des Kampfes gegen die Ungerechtigkeit ist jene Gerechtigkeit, die Jesus selber verkündet hat. Sie ist das Gute im Menschen schlechthin. Sie ist das Prinzip seiner Würde.
Christsein als Hort des Widerstands in einer verbrecherischen Welt
Daher sagt Jesus zu den Menschen: Seid gut, wie Gott im Himmel selbst gut ist. Tut das Gute, tut immerfort das Gute! Hört nie auf, es zu tun und dafür einzustehen. Es ist das Prinzip eurer Würde und eures Glücks. Bekämpft das Böse daher nicht mit dem Bösen! Bekämpft es mit dem Guten. Lasst euch nicht dadurch zum Bösen verführen, dass ihr es mit bösen Mitteln bekämpft. Denn ein guter Zweck heiligt sie nicht, sondern wird von ihnen zerstört.
Widersetzt euch dem Bösen lieber nicht, als dass euch der Widerstand selbst zum Bösen verführt. In diesem Fall ist es besser, geschlagen zu werden als Schläger zu sein, sich bestehlen zu lassen als selbst zu stehlen. Es ist besser, sich dem Zwang zu unterwerfen als selber Zwingherr zu sein. Wer versucht, das Böse mit bösen Mitteln zu bekämpfen, treibt den Teufel durch den Beelzebub aus. Er wird folglich dessen Reich nicht zerstören, sondern erweitern und vergrößern.
Die Botschaft Jesu hat prinzipielles Gewicht. Sie stärkt das Gewissen. Sie ist der Anfang einer Hoffnung für die Welt und die Aussicht auf eine endgültige Zerstörung des Bösen.
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Elmar Klinger ist emeritierter Professor für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg.
Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen: Elmar Klinger, Ein Sämann ging aus zu säen. Denkanstöße, hrsg. von Günther M. Doliwa, Herzogenaurach 2021. Günther Doliwa ist Autor und Liedermacher.
Eine Neuausgabe des Buches wird im Frühjahr 2022 unter dem Titel Ein Kapital, mit dem man wuchern kann ‒ die Botschaft vom Reich Gottes bei Echter, Würzburg, erscheinen.
Zum Autor:
„Der Glaube des Konzils. Ein dogmatischer Fortschritt“ – zum 80. Geburtstag von Elmar Klinger
Photo: Rainer Bucher