Seit Herbst 2021 deuteten Truppenansammlungen an der Westgrenze Russlands auf einen Angriff hin, der erst am 24.02.2022 erfolgte: Eine große Atommacht überfällt ein unabhängiges Land, die Ukraine. Noch immer fehlen mir die Worte angesichts der unsäglichen Gräueltaten, die noch andauern. Ich ringe um Fragen und Antworten, auch seitens der Theologie. Von Thomas Hieke.
Der Prophet Habakuk
„Habakuk“ ist eine kleine Prophetenschrift innerhalb des Zwölfprophetenbuchs. Mit diesem kurzen Text hat es eine merkwürdige Bewandtnis. Er ist offen und vieldeutig formuliert. Der Grundbestand entstand um 600 v. Chr. – nach dem Erstarken der neubabylonischen Großmacht unter ihrem König Nebukadnezar. Es war zu ahnen, dass größere Militäraktionen stattfinden werden (Jahrzehnte später wurde Jerusalem von den Babyloniern erobert und der Tempel zerstört). Diese Ereignisse werden nicht ausdrücklich beschrieben, als käme es gar nicht auf Jahreszahlen und Namen von Königen an. Auch weiß man nicht so genau, wer die Frevler und die Gerechten sind. Es entsteht eine Botschaft, die zu vielen Zeiten gehört werden kann und – Mut machen soll.*
Der Kommentar aus Qumran
Eine jüdische Gruppierung, die sich im 2. Jh. v. Chr. vom Judentum in Jerusalem und dem Tempel losgesagt hat, hat in den einzelnen Sätzen der Prophetenschrift direkt ihr Schicksal wiedergefunden. Diese Leute schrieben einen „Kommentar“ zu Habakuk (Hab), einen Pescher (p, daher 1QpHab). Das Wort Pescher leitet sich ab von pischro – „seine Bedeutung“. Nach dem zitierten Vers aus Habakuk schrieb man pischro – „seine Bedeutung:“, und dann folgt, welche Probleme der Zeit, fünf Jahrhunderte nach dem Propheten Habakuk, von diesem Vers angesprochen werden. Uns spricht das nicht an, aber wir leben weder um 600 v. Chr. noch im 1. Jh. v. Chr.
Die besondere Bewandtnis mit Habakuk
Die Sätze Habakuks entwickeln jedoch angesichts des russischen Angriffskriegs eine bestürzende Aktualität. Man muss sie einfach mal lesen. Zunächst spricht der Prophet:
Hab 1,2 Wie lange, JHWH, soll ich noch rufen und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.
3 Warum lässt du mich die Macht des Bösen sehen und siehst der Unterdrückung zu?
Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.
4 Darum ist die Weisung ohne Kraft und das Recht setzt sich nicht mehr durch.
Ja, der Frevler umstellt den Gerechten und so wird das Recht verdreht.
(Hab 1,2–4, EÜ 2016, modifiziert)
Der Prophet schreit „Hilfe, Gewalt!“ – und Gott (JHWH, der Herr) hilft nicht. So sehe ich das auch. Warum sieht Gott der Unterdrückung zu? Das Recht setzt sich nicht mehr durch, das Recht wird verdreht – in den russisch besetzten Gebieten werden Scheinreferenden durchgeführt, es wird vorgegaukelt, die Bevölkerung wolle den Anschluss an Russland, die Gebiete werden völkerrechtswidrig annektiert. Man steht daneben und kann nur noch schreien.* – Habakuk sieht einen rätselhaften Gott, der die Menschen wie Fische im Meer behandelt (Hab 1,12–17).
Der Prophet und die Antwort Gottes
Der Prophet hält weiter Ausschau nach einer Antwort Gottes – und hier finde ich einen ersten Trost.
Hab 2,1 Ich will auf meinem Wachtturm stehen, ich stelle mich auf den Wall und spähe aus, um zu sehen, was er mir sagt und was ich auf den Vorwurf gegen mich antworten soll.
2 JHWH gab mir Antwort und sagte:
Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann!
3 Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst;
aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung;
wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt,
es kommt und bleibt nicht aus.
4 Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin,
der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. (Hab 2,1–4)
Endlich antwortet Gott dem Propheten. Schreib nieder, was du siehst – das ist der Auftrag. Seine Bedeutung ist: Beobachtungen des Unrechts dokumentieren. Das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands und die verübten Gräueltaten müssen aufgeschrieben werden, deutlich, im Internet, gespeichert, nicht vergessen. Das alles muss festgehalten werden!
Erst zu einer bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst – nun sieht der Prophet das kommende Handeln Gottes, das sich noch verzögert. Warte darauf, denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus – das ist die Hoffnung, die uns aufrecht hält, wie damals den Propheten: Gottes Gerechtigkeit wird kommen. Warte darauf: Wir dürfen nicht nachlassen, nicht nachgeben, nicht vergessen.
Die große Hoffnung
Die große Hoffnung bricht sich Bahn, formuliert als Gottes großes Versprechen: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. Die Gewalttäter, die hinterhältig und grausam sind – schwinden dahin. Die Gerechten, die Gottes Gebot der Liebe und des Friedens treu bleiben – bleiben am Leben. Das ist die Hoffnung. Wenn es sich verzögert, so warte darauf. Wir hoffen, dass diese Verbiegung des Rechts beseitigt wird. Bleiben wir treu – unseren Werten und Überzeugungen, dem Recht, das nicht das Recht des Stärkeren ist, sondern das zum friedlichen Zusammenleben der Völker dient, bleiben wir dem treu, mit aller Kraft.
Die Hoffnung reißt mit
Ist das Tor zur Hoffnung aufgestoßen, so findet der Prophet – oder spricht noch immer Gott? –weitere ermutigende Worte. Ich wünschte, sie würden sich heute noch erfüllen.
5 Wahrhaftig, reiche Beute täuscht den hochmütigen Helden; er wird keinen Erfolg haben, reißt er auch wie die Unterwelt seinen Rachen auf und ist er auch wie der Tod unersättlich.
Dann werden alle Völker sich gegen ihn versammeln
und alle Nationen sich gegen ihn zusammenrotten.
6 Werden sie nicht alle ein Spottlied auf ihn und einen Rätselspruch gegen ihn anstimmen?
Ja, sie werden sagen: Weh dem, der zusammenrafft, was nicht ihm gehört, wie lange noch? – und sich hohe Pfänder geben lässt. …
8 Du hast viele Völker ausgeplündert; deshalb plündern jetzt die Völker dich aus, die übrig blieben, wegen der Bluttaten am Menschen und der Gewalttaten an Land, Stadt und ihren Bewohnern. (Hab 3,5–8)
Auch hier würde ich am liebsten sagen: pischro – „seine Bedeutung ist“. Der hochmütige Held im Kreml wird keinen Erfolg haben. Die Völker werden gemeinsam ihn in die Schranken weisen: Weh dem, der zusammenrafft, was nicht ihm gehört – wie lange noch?
Diese Worte Habakuks möchte man eins zu eins ins Heute holen.* Trotz der historischen Distanz lasse ich mich vom Text mitreißen – er gibt mir Mut, Geduld und Hoffnung. Vielleicht spricht Gott zu mir, zu uns, zu den Menschen in der Ukraine heute durch die Worte des Propheten in seinem Gebet am Schluss:
16 Ich zitterte am ganzen Leib, als ich es hörte, ich vernahm den Lärm und ich schrie.
Fäulnis befällt meine Glieder und es wanken meine Schritte.
Doch in Ruhe erwarte ich den Tag der Not, der dem Volk bevorsteht, das über uns herfällt.
17 Zwar blüht der Feigenbaum nicht, an den Reben ist nichts zu ernten,
der Ölbaum bringt keinen Ertrag, die Kornfelder tragen keine Frucht;
im Pferch sind keine Schafe, im Stall steht kein Rind mehr.
18 Ich aber will jubeln über den Herrn und mich freuen über Gott, meinen Retter.
19 Gott, der Herr, ist meine Kraft.
Er macht meine Füße schnell wie die Füße der Hirsche
und lässt mich schreiten auf den Höhen. (Hab 3,16-19)
Nachbemerkung:
* Man muss vorsichtig sein, Aussagen der Religion und der Bibel auf tagesaktuelle Ereignisse zu beziehen. Schnell kann daraus eine legitimierende Ideologie werden. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. lässt sich vor den Karren der Kriegspropaganda des Kreml spannen. Es macht aber einen Unterschied, ob man seine religiösen Traditionen und heiligen Schriften als Arsenal für die Legitimation von Gewalt benutzt (so Kyrill I.), oder ob man die Wirklichkeit in all ihren gewaltsamen Verwerfungen wahrnimmt und diese im Licht der eigenen religiösen Traditionen und heiligen Schriften deutet (so mein Versuch hier).
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Thomas Hieke, Prof. Dr., ist Professor für Altes Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er versteht sich als Anwalt der Bibel, müht sich um ein angemessenes Verstehen der Texte und kämpft gegen deren Missbrauch zur Legitimation zweifelhafter Ziele.
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