Von Afrika-Erfahrungen als Bibliolog-Trainerin in Tanzania berichtet Maria Elisabeth Aigner (Graz). Die Differenzerfahrungen zwischen Europa und dem Afrika südlich des Äquators, aber auch zwischen dem „Innen“ kirchlicher Räume und dem „Außen“ der Gesellschaft in Tanzania führen sie auf eine Spurensuche eigener und afrikanischer Identität.
Die schon so vertraute Morgenstimmung am Flughafen von Addis Abeba strömt mir entgegen, als ich verschlafen und ein wenig muskelverspannt die Maschine der Ethiopian Airlines verlasse. Gemeinsam mit den anderen Fluggästen bewege ich mich halbwegs zügig Richtung Flughafengebäude. Bis zum Anschlussflug nach Kilimanjaro Flughafen dauert es noch vier Stunden.
Es ist meine mittlerweile fünfte Reise nach Tanzania. Seit 2014 komme ich regelmäßig nach Maji ya chai, nahe Arusha, um Bibliolog – eine im deutschsprachigen Raum mittlerweile sehr etablierte, kreative Form der Verkündigung – zu praktizieren und TrainerInnen vor Ort auszubilden.
Mit jedem Mal scheint die Kluft der Gegensätze größer zu werden.
Zumeist bin ich gut drei Wochen auf der anderen Seite des Äquators. Mit jedem Mal scheint die Kluft der Gegensätze größer zu werden. Ich frage mich, wie es möglich ist, das Leben der Menschen eines anderen Kulturkreises als so gewöhnlich und zugleich ungewöhnlich zu erleben. Die Wucht der Unterschiede zeigt sich subtil und gräbt sich erst langsam in alle Bereiche der Wahrnehmung.
Vorstellungen, Ideen, Gedanken, Gefühle, Wünsche… all das erfährt ständig von Neuem eine zum Teil schmerzhafte Durchbrechung. Diese eigenartige Ungleichzeitigkeit beginnt sich in mir breit zu machen und sich tief in meinem Inneren zu verankern. Mit jedem Aufenthalt erscheint das Leben auf diesem Fleckchen Erde ein Stück weit vertrauter, wenngleich sich ständig neue Fragen auftun.
In der kirchlichen Einrichtung … ticken die Uhren anders als „draußen“
Noch eben war ich bei Minus sechzehn Grad mit dem Bus von Graz Richtung Wiener Flughafen abgefahren, jetzt wird es Zeit, mich der Gore-Tex Jacke samt Fleece zu entledigen und sie in meinen Rucksack zu stopfen. Heuer ist es hier gar nicht kühl, an diesem frühen Morgen Anfang Februar. Die aufgehende Sonne bricht sich durch die Morgennebelschwaden und erhitzt die Luft in schnellem Tempo.
In der kirchlichen Einrichtung, in der ich unterrichte, ticken die Uhren anders als „draußen“, außerhalb der dicken Betonmauern, die das große Grundstück umgeben. Strom, Wasser, Photovoltaik, Essen, Bildung, Krankenversorgung etc. haben hier Platz gefunden. Die kurzen Auszeiten, die es mir ermöglichen, andere Orte in der Nähe von Arusha oder in Tanzania zu entdecken, zeigen mir auch mehr vom „anderen Afrika“: Hunger, Gewalt, Erkrankungen, Existenzängste, Depression…
Tourismus, das Einfallstor der Versuchungen im Kontext interkultureller Begegnung
Die Gegend um Arusha ist geprägt vom Tourismus. Viele Reisende, vor allem aus Europa und den USA, wollen hier auf Safari, den Kilimanjaro besteigen oder nach Zanzibar, dem naheliegenden Inselparadies. Für einige Einheimische bedeutet das die Chance, der ganz bitteren Armut zu entkommen. Tourismus, das Einfallstor der Versuchungen im Kontext interkultureller Begegnung schlechthin, und zwar für beide Seiten. Sehr rasch erhalten die Kommunikationsprozesse auf Augenhöhe im touristischen Setting eine Schieflage. Die Kolonisation ist hier in einem anderen Gewand zum Greifen nahe. Es scheint kein Entkommen zu geben. Im gegenseitigen Austausch der psychischen Dimension von Entfremdung und Identitätsgewinn beidseitig auf die Schliche zu kommen, darin liegt ein Schatz vergraben. Dasselbe gilt übrigens auch für die „kirchliche Welt“.
Sind Gore-Tex Jacke und Fleece erst einmal weggepackt und die Begrüßungsworte und -gesten ausgetauscht, beginnt mein Alltag „innerhalb“ der Mauern. Am Institut, in dem ich unterrichte, kommt mir die gewohnte Herzlichkeit entgegen. Der braune, erdige Staub unter den Füßen ist mir mittlerweile ebenso vertraut wie das leuchtende Orange der vollreifen Mangos oder die Buntheit der Bohnentöpfe, die täglich mittags und abends in der Dining Hall die Tische zieren neben ugali, dem so typischen, weißen Maisbrei, Reis und sukuma wiki, einem bitter schmeckenden Blattkohl-Gericht.
„Woman is the nigger of the world, yes she is“
Im Areal hinter den Mauern spiegelt sich die kirchliche Welt Afrikas wider, die auch hier trotz wohltuender singulärer Durchbrechungen an strikten Hierarchien festhält und in der die gesellschaftspolitische wie binnenkirchliche Virulenz der Frauenfrage offenkundig zu Tage tritt. Seit ich zwei afrikanische Ordensschwestern zu Bibliologtrainerinnen ausbilde, geht mir diese augenscheinliche Anfrage nicht mehr aus dem Kopf. „Woman is the nigger of the world, yes she is“ sangen John Lennon und Yoko Ono in den 1970igern. Yes she is… – auch noch im Jahr 2017.
Beschämt denke ich daran, womit ich mich hier an der Universität Graz als Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen tagtäglich herumschlage: Die Universitätsangehörigen darauf hinzuweisen, dass die Umsetzung von Gleichstellung und Gleichbehandlung zu den in Österreich gesetzlich verankerten Pflichten gehört. Wie lächerlich und zugleich wie ungemein wichtig erscheint mir diese gesetzliche Maßnahme hierzulande, wenn es andernorts noch Genitalverstümmelung, sexuellen Missbrauch, Gewalt und Todschlag gibt.
Maria, die im Institut in der Küche arbeitet und Reinigungsarbeiten vornimmt, ist wieder schwanger. Sie erwartet ihr fünftes Kind. Als ich sie darauf anspreche, nimmt sie mich am Arm, blickt mir tief in die Augen und sagt: „Pray for me.“ Wenn in Afrika bei einer Geburt nicht alles glatt geht, wird es sehr schnell lebensbedrohlich.
Spurensuche zwischen den Polen von Ignoranz und Paternalismus
Je öfters ich nach Afrika komme, desto intensiver beginne ich zu begreifen, wie doppelbödig das Leben hier wie dort sein kann, wie sehr das Helle und Dunkle zusammengehören, miteinander ringen, tagtäglich. Wie kann die Spurensuche zwischen den Polen von Ignoranz und Paternalismus in der Begegnung mit einem afrikanischen Land überhaupt gelingen? Haben Grundwerte wie Toleranz, Gerechtigkeit und Freiheit nicht nur politisch, sondern auch in den alltäglichen Begegnungen auch nur ansatzweise eine Chance, wenn die existentielle Grundlage ständig in Frage gestellt oder beinahe zur Gänze abhanden gekommen ist?
An einem feuchtkalten Morgen Ende Februar warte ich wieder auf einen Anschlussflug. Dieses Mal geht es von Frankfurt zurück nach Graz. Die Gore-Tex Jacke ist meinem Kälteempfinden nach jetzt eindeutig ein zu spärlich wärmendes Kleidungsstück. Hierzulande hat sich der Winter noch nicht verabschiedet, was mich sehnsüchtig nach der afrikanischen Sonne werden lässt.
Mein Cappuccino im kleinen Bistro gleich neben dem Bording-Gate ist mittlerweile nur mehr lauwarm, als ich aufblicke und entdecke, dass zwei Afrikaner am gegenüberliegenden Tisch Platz genommen haben. Die typischen afrikanischen Englischlaute dringen bis zu mir durch – ab und zu auch ein Kisuaheli-Wort. Wie diese Menschen wohl unsere Art zu leben hier empfinden? „Habari za asubuhi“ – bei meiner Fahrt über die Insel Zanzibar zum Flughafen hat der driver mir diesen Ausdruck beigebracht und ich ihm im Gegenzug die Übersetzung: „Guten Morgen!“ Nun kommt mir der Gruß auf der anderen Seite des Äquators wieder entgegen. Er erinnert mich an die farbige Buntheit der Welt, in der ich soeben vor gut vierundzwanzig Stunden noch war – ein herber Kontrast zum hiesigen kalten Grau des Frankfurter Flughafens.
Afrika wird mich noch länger nicht loslassen.
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Autorin: Maria Elisabeth Aigner ist Ao.-Univ.-Professorin für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie in Graz sowie Bibliolog- und Bibliodramatrainerin.
Beitragsbild: Aigner