Ohne dass er berührt wird und selbst berührt, ist der Mensch nicht ganz. Reinhold Esterbauer analysiert, was uns fehlt in Zeiten von Home-Office und Distance-Learning.
In Anbetracht der ersehnten Lockerungen nach den Einschränkungen, die das Eindämmen des Corona-Virus bedingte, fragen sich so manche, was einem denn in Zeiten des Home-Office und des Lock-Down eigentlich gefehlt habe bzw. fehle. Zunächst fallen den meisten die begrenzten Freiheitsrechte ein. Viele freuen sich aber auch darauf, Menschen wieder von Angesicht zu Angesicht sehen und treffen zu können.
Offensichtlich hat die verstärkte mediale Vermittlung in der Begegnung von Menschen ein Manko erzeugt. Waren in Vor-Corona-Zeiten Telefon, SMS, Social Media und Email neben der direkten Begegnung die vorherrschenden Kommunikationsmittel, so versuchte man während der eingeschränkten Begegnungsmöglichkeiten, Medialität zu steigern, indem Bildtelefonie in ihren unzähligen Formen und Angeboten empfohlen und als Mittel der Wahl vorgestellt wurde.
Das unmittelbare Gespräch ist nicht zu ersetzen.
Das Bild sollte bloß akustische Begegnung verdichten und damit einen Ersatz für Treffen schaffen, die früher in räumlicher Nähe möglich waren. Das schien sogar ökologisch sinnvoll zu sein, nahm man doch vormals hohe Kosten und große Entfernungen in Kauf, um jemanden zu sehen oder bei Konferenzen miteinander direkt diskutieren zu können. Doch selbst Zuschaltungen von fern, Sichtbarkeit des Gegenübers oder Bilder anderer in Echtzeit konnten und können das unmittelbare Gespräch nicht ersetzen, geschweige denn körperliche Nähe – das hat man bald bemerkt. Warum aber ist das so, und was fehlt einem denn wirklich, wenn man die anderen am Notebook ohnehin hört und sieht und die Bilder sogar beweglich sind?
Medien setzen immer etwas zwischen Menschen, das sagt schon ihr Name. Seltsamerweise schafft ein Medium durch seine Vermittlung zugleich zweierlei, nämlich Nähe und Distanz. Auf der einen Seite können zwar räumliche Entfernungen überwunden werden, und jemand steht einem am Bildschirm direkt vor Augen, zugleich aber bleibt er entfernt und hinter einer „gläsernen“ Wand, insofern das Medium eine Berührung unmöglich macht. Das Anfassen des Bildes einer Person ist nicht schon die Berührung der Person selbst. Mediale Vermittlung versetzt einen nämlich immer in die Position von Orpheus: Die andere Seite entschwindet, sobald man sie anblickt.
Was fehlt: sinnliche Ganzheit und Unmittelbarkeit
Offensichtlich gehört zu wirklicher Begegnung, dass man sich nicht nur hört und sieht, sondern dass man sich auch gegenseitig die Hände schüttelt oder sich umarmt. Medien machen nicht nur Körperkontakt unmöglich, sondern verändern, verfälschen, verzögern oder unterbrechen auch den Ton und den optischen Eindruck. Was also in Zeiten medial vermittelter Begegnung fehlt, ist zum einen die sinnliche Ganzheit und zum anderen die sinnliche Unmittelbarkeit. Denn zu menschlicher Begegnung gehört offensichtlich, andere Menschen nicht nur zu hören und zu sehen, sondern auch zu berühren und wohl auch zu riechen.
Damit aber nicht genug. Denn im eigentlichen Sinn sieht nicht das Auge, hört nicht das Ohr und berührt nicht die Fingerkuppe, sondern sieht, hört und berührt der Mensch selbst. Umarmten nur die Hände, man selbst aber nicht, unterschiede sich das direkte Gegenüber nicht von seinem medialen Phantom. Man wäre nicht in der Welt, sondern schaute nur von einem Blickpunkt hinter der Welt dem Treiben zu, das sich dort ereignet, die Bewegung der eigenen Hände inklusive.
Man bleibt Zuschauer/in.
Seltsamerweise können Menschen beides, sich zu sich in Distanz setzen und sich dem anderen dadurch vorenthalten oder sich sinnlich ausdrücken und dadurch dem anderen unmittelbar begegnen. Zweiteres verhindert mediale Vermittlung aber. Während einer Skype- oder Zoom-Konferenz bleibt man vor allem Zuschauer und Zuschauerin. Das Gegenüber bleibt haptisch unerreichbar, und man selbst kann für den anderen Menschen nicht leiblich präsent werden.
Es zeigt sich, dass das, was in Corona-Zeiten – besonders im persönlichen Bereich – vermisst und halbiert wird, vor allem die menschliche Leiblichkeit ist. Im Deutschen lässt sich der Begriff „Leib“ von jenem des „Körpers“ unterscheiden. Folgt man Helmuth Plessner, so ist Körper dasjenige von einem selbst, dem man gegenübertreten kann, während der Leib dasjenige ist, in dem man sich selbst ausdrückt. Anders gesagt: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) […] und hat diesen Leib als diesen Körper.“[1] Wenn sich der eigene Weltbezug in dieser unauflösbaren „Polarität“ vollzieht, „in der wir uns ständig zwischen dem Leib-Sein und dem Körper-Haben hin- und herbewegen“[2], gehört zum unversehrten Selbstvollzug auch, sich unmittelbar zu äußern und umgekehrt anderen in deren Unmittelbarkeit zu begegnen.
Die Differenz von Körper und Leib
Wird einem diese Möglichkeit genommen, ergeht es einem wie Orpheus, über den Ovid in seinen „Metamorphosen“ (Met. X, 59) sagt: „nil nisi cedentes infelix arripit auras / nichts als einen entschwindenden Schimmer erhascht der Unglückliche.“[3] Aus der Ganzheit der anderen entschwindet ihre Leiblichkeit, wie man selbst umgekehrt für sie bloß schemenhaft erscheint.
Gewöhnlich sind Leib und Körper deckungsgleich. Der Leib, der die alleinige Möglichkeit bildet, sich unmittelbar auszudrücken, ist zugleich der objektivierbare Körper, den man von außen beobachten kann. Im alltäglichen Lebensvollzug fallen sie meist zusammen. Freilich kann diese „grundsätzliche Syntopie“[4], nach der der Leibkörper eine Einheit ist, auch dissoziieren. Das scheint in Video-Konferenzen der Fall zu sein: Der eigene Leib, in dem jemand sich selbst mitteilt, kommt nur als Körper auf der anderen Seite an. „Die […] Leute merken [auch], dass der digitale andere nicht der wirkliche andere ist.“[5] Zur leibkörperlichen und damit auch zur personalen Ganzheit ist nämlich auch der Tastsinn unabkömmlich. Das spürt man in der derzeitigen Situation immer deutlicher.
Ohne dass er berührt wird und selbst berührt, ist der Mensch nicht ganz. Daher ist es verständlich, dass eine Begegnung zwischen Menschen nur dann wirklich gelingt, wenn gegenseitiger leiblicher Kontakt möglich ist. Anderenfalls bleibt der Mensch halbiert, und es wird Entscheidendes vermisst. Besonders schmerzlich wird einem die fehlende Begegnungsmöglichkeit im Privaten bewusst, sofern der Tastsinn ausgeschlossen bleibt, weil er gegenüber Gehör und Gesichtssinn, die die Videotelefonie bedienen kann, für die eigene Existenz nicht dispensierbar ist.
Ohne dass er berührt wird und selbst berührt, ist der Mensch nicht ganz.
Man kann zwar taub oder blind leben, nicht jedoch, ohne etwas spüren zu können. Sieht oder hört man jemanden nur, merkt man mit zunehmender Dauer solcher Kommunikation, dass gelingende Begegnung Berührung notwendig mit einschließt.
Als Orpheus das zweite Mal in die Unterwelt gelangt, nun für immer, gelingt es ihm zwar, Eurydike zu finden, er ist nun aber selbst Schatten wie sie. Leibhaftige Umarmung ist nicht mehr möglich (vgl. Ov. Met. XI, 63–66). Wäre er von Eurydike hingegen nur per Skype getrennt, dürfte er – wie Getrennte in COVID-19-Zeiten – hoffen, ihr bald wieder wirklich begegnen zu können. Ihre leibliche Berührung machte beide wieder ganz.
Reinhold Esterbauer ist Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.
Photo: Bernard Hermant / Unsplash
[1] Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: ders.: Gesammelte Schriften. 7. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, 201–387, 238. (Hervorh. im Original)
[2] Fuchs, Thomas: Zwischen Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, 82–93, 84. (Hervorh. im Original)
[3] Lat. Text nach: Ovid, Metamorphoses. Liber X. (https://la.wikisource.org/wiki/Metamorphoses_(Ovidius)/Liber_X; 15.5.2020).
[4] Fuchs, Thomas: Die Koextension von Leib und Körper. Von Phantomgliedern, Gummihänden und anderen Rätseln, in: Volke, Stefan / Kluck, Steffen (Hg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit, Freiburg/Br.: Alber 2017 (= Neue Phänomenologie 27), 96–115, 107. (Hervorh. im Original)
[5] Grunwald, Martin: „Jede Berührung öffnet eine hauseigene Apotheke“. Social Distancing. Interview von Hannes Leitlein mit Martin Grunwald, in: ZEIT-ONLINE (8.5.2020) 1–8, 6. (https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/social-distancing-fehlender-koerperkontakt-psychologie-haptikforschung; 16.5.2020)