Matthias Gronover berichtet von seinem letzten Religionsuntericht vor Shutdown und Distance Learning.
Ein Auszubildender rief das in die Klasse hinein, als ich über das Corona Virus aufklärte. Es handelte sich um Industrie- und Zerspanungsmechaniker im dritten Lehrjahr. Es war meine letzte Stunde in dieser Klasse bevor in Baden-Württemberg die Schulen geschlossen wurden. Ich kam meiner Dienstpflicht nach, als ich in der Vorbereitung beschloss, das Coronavirus zu thematisieren, zu erklären wie ein Virus sich verbreitet und was man dagegen tun könne. Dabei kam mir zugute, dass ich auch Biologielehrer bin. Die Landesregierung bat alle Lehrerinnen und Lehrer, das zu tun.
Krisen stellen immer auch in Frage. Ich dachte lange über diese Stunde nach. Sie ist Anlass für mich, über mein Selbstverständnis als Religionslehrer und damit auch über die Eigenlogik des Religionsunterrichts nachzudenken. Im Folgenden will ich einige Stationen dieses Denkens wiedergeben.
Religiöse Bildung ist viel mehr als die Vermittlung religiöser Kompetenz.
Was ich in der Berufsschule immer wieder mit aller Deutlichkeit erfahren habe, wurde mir auch in dieser Stunde wieder sehr klar. Religiöse Bildung an diesem Lernort ist viel mehr als die Vermittlung religiöser Kompetenz. Weil Auszubildende ihren Unmut und auch ihr Interesse nie lange für sich behalten, bekommt man als Lehrkraft unmittelbar mit, ob ein Thema auch in den Augen der Klasse interessant ist. Bildung geschieht hier wie überall nur in dem Maße, wie die Auszubildenden sie sich selbst gegenüber zulassen. Deswegen muss religiöse Bildung relevanzsensibel sein und ihre Grundanliegen in einer einfachen und klaren Sprache ausdrücken können. Die Frage nach Gott, die es wachzuhalten gilt; die Frage nach dem Glauben des einzelnen Auszubildenden, der religiös urteilsfähig sein muss; und die Frage nach einem Leben in gelingenden Beziehungen und Gemeinschaften dürfen nicht die Fragen der Religionslehrkraft bleiben, sondern sollen zu den Fragen der Klasse werden. So der Anspruch.
Relevanz in Zeiten von Corona?
Doch was heißt „Relevanz“ in Zeiten von Corona? In dieser Stunde, so mein Eindruck, hatten ausnahmslos alle Auszubildenden das Gefühl, dieses Thema ernst nehmen zu müssen. Vor diesem Hintergrund hatte der in der Überschrift zitierte Ausruf eines Schülers mich aber überrascht. Die Nachdrücklichkeit und Ernsthaftigkeit seiner Forderung nach Ruhe war neu für mich. Im bisherigen Unterricht, von dem ich annehme, dass er für die Klasse gefruchtet hat und dass er bildsam war, hatte ich solch einen pädagogischen Imperativ noch nicht vernommen. Dem Rufer in der Klasse ging es nicht um Religion und auch nicht darum, dem Lehrer zu gefallen. Ihm ging es ganz um sich selbst und seine Bildung im angesichts des Corona-Virus. Seine Maßregelung eines Mitschülers geht deswegen einher mit dem Wunsch nach Klarheit.
Mit Bildung gegen die Pandemie
Intuitiv hatte der Auszubildende begriffen, dass man dieser existenziellen Unsicherheit, die diese Epidemie mit sich bringt, durch Bildung begegnen könne. Ihm und seinen Mit-Auszubildenden war es dabei wahrscheinlich egal, dass ich der Reli-Lehrer bin und insofern gar nicht „zuständig“ für diese Frage. Das Thema war einfach, und das bringt mich verstärkt ins Nachdenken, unmittelbar relevant und wurde direkt ins Streben nach Bildung übersetzt. Religionsunterricht dient nicht zuerst den Fragen der Gesunderhaltung. Aber dort, wo er gut ist, bearbeitet er existenzielle Fragen im Modus existenzieller Erfahrungen. „Halt mal die Schnauze“ steht dann genau dafür, nämlich im Blick auf die Unschärfe, die eine Virusinfektion mit sich bringen kann, Schärfe – und sei es in der eigenen Sprache – einzubringen.
Die Unschärfe der Viren
Viren generieren seelische und körperliche Unschärfe. Viren sind keine Lebewesen. Sie benötigen lebende Zellen, um sich vermehren zu können. Sie haben einen komplexen Aufbau aus einer Virenhülle und der darin enthaltenen Viren-Erbinformation. Diese Erbinformation schleusen Viren in Körperzellen ein, wo sie abgelesen werden und wo die Bauteile für neue Viren erstellt werden. Die Zelle verliert ihre Autonomie und ihre Produktion wird ganz auf die Produktion von Virenbauteilen umgestellt. In der Folge platzt die Zelle und entlässt viele neue Viren in die Zellumgebung und damit den Körper. Die scharfe Grenze, die die Zellmembran einer gesunden Zelle normalerweise bildet, wird zerstört. Ordnungsstrukturen, die das Fortleben einer gesunden Zelle sicherstellen, greifen nicht mehr. Geschieht dies massenhaft und der Körper wehrt sich nicht rasch genug gegen die Invasion der Viren, erkrankt der Organismus. Krankheiten sind krisenhafte Lebensphasen, sowohl für einen Organismus als auch für das erlebte Leben. Menschen, die außerhalb von Pandemie-Zeiten erkranken, werden sich oft erst dann dem Verlust ihrer Gesundheit bewusst. Gesundheit ist ein hohes Gut, aber viel zu oft wird sie als solche kaum bemerkt.
Die Epidemie macht uns deutlich, dass Gesundheit von der Krankheit nur durch eine schmale Differenz abgegrenzt ist. Diese membranöse Differenz kann von einem Virus durchdrungen werden – nicht nur körperlich, auch psychisch. „Lasst uns das klären!“ heißt auch, dass der Auszubildende an den Gemeinsinn appelliert. Er möchte die Differenz zwischen einer prekären Gesundheit und einer existenzbedrohenden Krankheit nicht alleine verstehen. Er möchte, dass alle verstanden haben, worum es geht.
Liebe zum Leben, darum geht es religiöser Bildung
Religiöse Bildung in der Schule muss einen Aufbruch wagen und die Grenze zwischen der Eigenlogik des Religionsunterrichts und der Liebe zum Leben für sich neu definieren. Die Bildungspläne in Deutschland sind in katholischer Religionslehre durch sechs Bereiche strukturiert: Kirche, Bibel, Jesus Christus, Gottesfrage, Religionen und Weltanschauungen und soziale Herausforderung/Ethik. In den Empfehlungen für die Umsetzung dieser Bereiche in konkrete Bildungspläne ist man dabei stets bemüht, im Sinne der Schülerorientierung an den Erfahrungen der Subjekte anzuknüpfen und die in den Bereichen zum Ausdruck kommende religiöse Tradition damit ins Gespräch zu bringen. Ob dies nun zum Beispiel performativ, korrelativ, problemorientiert oder auch instruktiv geschieht, sei hier dahingestellt.
Entscheidend ist für meine Beobachtung, dass die oben genannten Bereiche den Religionsunterricht ganz entscheidend profilieren und als Religionsunterricht kenntlich machen. Sie begrenzen in einem positiven Sinn das, was Religionslehrerinnen und Religionslehrer wollen sollen. Sie lassen zugleich aber auch die entgrenzende Dimension offen, was die Schülerinnen und Schüler existenziell bewegt. Die Auszubildenden und Schülerinnen und Schüler können das oft nicht präzise ausdrücken oder trennscharf artikulieren. Sie wissen aber je für sich, wie wirkmächtig diese Offenheit ist. Nicht zuletzt, weil die Unklarheiten, die damit einhergehen, durch Bildung bewältigbar erscheinen.
Das Virus durchkreuzt den Religionsunterricht
Es ist so gesehen für solche Stunden nicht entscheidend, der Religionslehrer oder die -lehrerin zu sein. Vielmehr geht es um ein Selbstverständnis, das Religion als Möglichkeitsraum versteht, der Offenheit in Klarheit, Indifferenz in Differenz oder Unwägbarkeit in Abschätzbarkeit übersetzt. In diesem Sinne stellt die Corona-Epidemie für den Religionsunterricht eine Entgrenzung dar, weil auch von der Seite der Auszubildenden meine eigene, klare Positionierung innerhalb der mein Fach profilierenden Bereiche nicht mehr relevant war. Das stillschweigende Einvernehmen zwischen der Klasse und mir, unser modus operandi, dass ich nämlich für einen katholischen Christ stehe, der als Dialogpartner bereitsteht, war durchkreuzt. Wir mussten dringend diese Frage, wie ein Virus sich verbreitet und was man dagegen tun kann, „klären“.
Angesichts der Krise etwas tun zu können
Ich habe in diesem Unterricht das getan, was die Landesregierung von mir forderte. Ich ging sehr zufrieden aus der Stunde, weil ich den Eindruck hatte, dass sie etwas gebracht hat. Angesichts der Krise etwas tun zu können und sich ihr nicht einfach hinzugeben, ist in meinen Augen auch eine Frucht des Vertrauens, dass Gott es letztlich mit uns gut meint. In diesem Vertrauen stand ich vor der Klasse. Aber dieser implizite religiöse Gehalt der Stunde wurde an keiner Stelle explizit beobachtbar. Die Entgrenzung dieser Stunde war gewollt und bewusst. Die mannigfaltigen Entgrenzungen in anderen Stunden – zum Beispiel in Religionsstunden in Klassen zur Vorbereitung auf Arbeit und Beruf mit geflüchteten Menschen – sind sehr oft ungewollt und ungeplant. Hat das Fach diese Unschärfe und Indifferenz, die sich in dieser Beobachtung ausdrückt, schon genügend reflektiert? Ich bin mir unsicher. Zugleich ist mir klar, dass eine wesentliche professionelle Kompetenz guter Religionslehrerinnen und -lehrer darin besteht, mit den Entgrenzungen und Indifferenzen einer Stunde produktiv umzugehen. Sie sind – um es biologisch auszudrücken – Katalysatoren des religiösen Kompetenzerwerbs.
War meine Corona-Stunde Religionsunterricht? Ich bin mir sicher, dass sie das war.
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Matthias Gronover ist Privatdozent für Religionspädagogik und stellv. Leiter des Kath. Instituts für berufsorientierte Religionspädagogik an der Universität Tübingen.
Bild: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay