Peter Handke wird mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Dessen Solidarität mit Slobodan Milošević sorgt international für Kritik. Lukas Pallitsch über einen anstößigen Schriftsteller mit theopoetischer Affinität.
Am 10.10.2019 wurde bekannt gegeben, dass der österreichische Schriftsteller Peter Handke den Nobelpreis für Literatur erhalten wird. Vier Tage später wurde der Deutsche Buchpreis an Saša Stanišić für seinen Roman Herkunft verliehen. In seiner Dankesrede äußerte Stanišić völliges Unverständnis in Richtung Handke. Er selbst stehe für eine Literatur, die „nicht zynisch ist, nicht verlogen und die uns Leser nicht für dumm verkaufen will, indem sie das Poetische in Lüge verkleidet“. Das sind harte Worte. Auch international zog die Preisvergabe an Handke eine kaum enden wollende und in der Wortwahl durchaus untergriffige Kritik nach sich. Handke reagierte entsprechend brüskiert.
Kritiker erzürnt seine Parteilichkeit für Milošević. Sein literarisches Schaffen bleibt unangetastet.
Bei aller Kritik bleibt Handkes literarisches Schaffen im Grunde unangetastet. Kritikerinnen und Kritiker erzürnt vielmehr seine dezidierte Parteilichkeit für den als Völkermörder verurteilten serbischen Staatschef Slobodan Milošević im Jugoslawienkrieg. Die Ehrung des anstößigen Literaten mit dem Nobelpreis sorgt entsprechend für Irritationen.
Peter Handke ist vieles: ein Mann der Irritation, einer, der für Anstoß sorgt, politisch eigenwillig, Klassiker zu Lebzeiten, ein sanfter, gar langatmiger Autor, Nestbeschmutzer, glänzender Stilist, Sprachskeptiker, Sprachartist und Wandersmann. Aber der Reihe nach:
Vorwurf: „Beschreibungsimpotenz“
1966, es war der 22. April, erhob sich in Princeton ein junger Mann im Publikum, dessen Wortmeldung für Furore sorgen sollte. Denn die „Beschreibungsimpotenz“, die er der berühmten „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter vorwarf, machte Karriere in den Literaturgeschichtsschreibungen. Beschreibungsimpotenz ist nur jener kleine Pars, der pro toto für konventionelle Formen, öde Stilmittel und eine läppische Prosa steht. Es vergingen 30 Jahre, bis der Jüngling, welcher der Gruppe 47 mit diesen Worten das Genick brach, die Öffentlichkeit erneut irritierte.
1996 erschien Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Sava, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Im Jahr zuvor war Handke durch die vom Jugoslawienkrieg gezeichneten Landstriche gereist. Weniger die lokalen Bestimmungen und Eindrücke der Winterreise als vielmehr die bereits im Titel anklingende Parteinahme für die serbischen Nationalisten lösten einen Skandal aus. Damit setzte ein von Spannung getragenes Wechselspiel ein, das bis zum heutigen Tage anhält: Je heftiger die Kritik gegenüber Handke wurde und je vehementer die Medien das dichotome Narrativ von Gut und Böse, von der Wahrheit und ihrer verzerrenden Leugnung vorantrieben, desto stärker suchte Handke Schlupflöcher, die ihm erlaubten, die Sachen aus anderen Positionen in den Blick zu nehmen.
Vorwurf: Geschichtsrelativismus
2006, nochmals zehn Jahre später, lagen nicht nur starke Vorwürfe hinter Handke, sondern über die Jahre geschriebene und geflügelte Buchtitel wie Gestern unterwegs, Die Angst des Torwarts beim Elfmeter, Wunschloses Unglück oder Der kurze Brief zum langen Abschied. Als in diesem Jahr Slobodan Milošević starb, hielt Handke bei seinem Begräbnis die Rede. Weil er die politischen Zustände parteiisch aus serbischer Sicht perspektivierte, führte das zu heftigen Diskussionen und trug ihm den Vorwurf des Geschichtsrelativismus ein.
Doch es ist schwer, das facettenreiche Schaffen und Leben dieses Schriftstellers im Stile einer der Objektivität verpflichteten Biographie nachzuzeichnen. Man wird ihm kaum gerecht, wenn man einen einseitigen Moralismus, den Handke selbst durchaus forcierte, gegenüber seiner Schreib- und Sprachartistik auszuspielen versucht.
Prosa, die alltägliche Gegenstände mit einer Aura des Außeralltäglichen ausstattet.
Komplementäre Einseitigkeiten führen lediglich in Sackgassen, beispielsweise, als nach der Bekanntgabe in der NY Times ein Beitrag mit „The Bob Dylan of Genocide Apologists“ tituliert wurde. Dies zeigt, wie sehr sich der Blickwinkel verengt und schließlich in einer doppelbödigen Metaphorik erblindet. Dadurch wird nicht nur Handkes innovative Form subjektiven Schreibens ignoriert, mit der er dem Theater zu einer neuen Sprache verholfen hat, sondern auch seine von Poesie getragene Prosa, die alltägliche Gegenstände mit einer Aura des Außeralltäglichen ausstattet.
Über den religiösen Einfluss in Handkes Werk, von der frühen Abwendung religiöser Muster bis zur sakralen Signatur seiner späteren Prosa, ist oftmals gerätselt worden. Bemerkenswert sind abermals die Kehren, die der Schriftsteller geschlagen hat und die sich durch sein Gesamtwerk ziehen. Dabei ist interessant zu beobachten, dass es ab den 60er-Jahren bei prominenten Autoren wie Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Peter Handke zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den katholischen Wurzeln in der eigenen Biographie kam.
Auseinandersetzung mit den katholischen Wurzeln der eigenen Biographie.
Von den genannten Autoren verfährt in der Auslotung der spannungsvoll geladenen religiösen Selbstverständigung keiner so radikal wie Peter Handke. Bereits in der Lebensbeschreibung (1965) schreibt er nicht nur die Tradition des literarischen Jesus fort. Er reflektiert vielmehr einerseits auf das Problem, sich überhaupt ein kohärentes Bild vom Leben Jesu machen zu können. Andererseits überstrapaziert er die formale Seite der Beschreibung, bis sie zu einer vollkommenen Persiflage holpriger (judizierender) Protokollsätze depraviert. Besonders befremdlich wirken die inhaltlichen Inkongruenzen und der Bruch mit den biblisch-theologischen Diskursregeln.
Handkes Entwicklung vom Früh- bis zum Spätwerk charakterisiert stärker als die Transformationsakte religiöser Sprachhandlungen eine Umprägung der eigenen Stilkonventionen. Trotzdem lässt sich eine kontinuierliche Linie seiner poetischen Ausrichtung skizzieren, die aber von starken Brüchen getragen ist. Fraglos offeriert dabei die religiöse Sinnfrage einen großen Schatten in den Texten.
Die ästhetische Sprachstruktur nimmt eine liturgische Diktion an.
Seit dem Roman Langsame Heimkehr (1979) ist das religiöse Spannungsfeld aus dem Bereich der radikalen Sprachkritik enthoben und in den eines Re-Sakralisierungsversuches gestellt. So wird auch eine schlüsselhafte Stelle zu Beginn des Romans verstehbar: „Die Wiederholung als die Erfüllung, die Fülle der Zeit – siehe auch die Wiederholung des Alten Testament im Neuen.“ (Langsame Heimkehr, S. 9) Diese Theo-Poetik erhält im Licht biblischer Motive eine subtile Durchlässigkeit auf die religiöse Dimension.
In diesem Roman wie auch in Die Wiederholung stiftet die Religion dem entwurzelten Wanderer Geborgenheit. Nicht nur, dass motivische Bezüge zum Ritual und zur Eucharistie hergestellt werden, auch die ästhetische Sprachstruktur nimmt eine liturgische Diktion an: „Ein Schwanken ging durch die Welt, als das Brot in den göttlichen Leib und, ‚simili modo’, der Wein in das göttliche Blut verwandelt wurde. ‚In ähnlicher Weise’ ging das Volk zur Kommunion. In ähnlicher Weise stolperte ich, Sorger, wieder über den Teppichrand.“ (Langsame Heimkehr, S. 196f)
Modellierungsversuche des Kunstreligiösen werden beobachtbar.
Ging es in der Lebensbeschreibung noch um eine persiflierende Nachbildung des Bibeltextes, wird Handkes Prosa in den 70ern gerade deshalb theologisch interessant, weil sie entweder biblische oder liturgische Bezüge aufnimmt oder überhaupt weltliche Erfahrungsmomente in sakrale Sprache hüllt. Religiöse Denkfiguren wie die Wandlung grundieren seine Schreibweise, sodass eine Umprägung der anfänglich sprach- und kirchenkritischen Ausdrucksform als Modellierungsversuche des Kunstreligiösen beobachtbar werden.
Wie bei kaum einem anderen Gegenwartsautor ziehen die Protagonisten ihre Spuren quer durch die Weiträumigkeit von Orten und Landschaften. Beim Durchstreifen unterschiedlicher Topographien im Harz oder Karst, in französischen Vorstädten, entlang der Morawa oder der Sierra de Gredos suchen sie nicht zuletzt Spuren ihrer eigenen Geschichte.
Eigentümliche Synthese von Wandern, Betrachten und Erzählen.
Immer wieder geht es um eine eigentümliche Synthese von Wandern, Betrachten und Erzählen. Im Roman Der Bildverlust (2002) kulminiert dies an jener Stelle, an der die Zeit vom Erzähler stillgelegt wird und der Reisende sich einer intensivierten Betrachtung widmet: „Fortgesetze Liturgie des Behaltens beim Sichentfernen aus der Siedlung und Hinaufsteigen zur Sierra-Gipfelflur. Denn sie ging weg mit der Vorstellung, sie sähe die Gegend von Pedrada zum letzten Mal.“ (Der Bildverlust, S. 492)
Hier einen religiösen Zusammenhang erkennen zu wollen, ergibt sich allein schon durch das Vokabular des Erzählers, der den Vollzug des Gehens an das liturgische Programm von Behalten und Abschiednehmen bindet. Doch es bleibt nicht bei diesem gottesdienstlichen Muster. Seine Prosa kann sich mit den Anmerkungen des Kulturwissenschaftlers und Jesuiten Michel de Certeau erhellend erweisen:
„Der Spirituelle ist ein Reisender, ein Wanderer. […] Sein Gepäck ist nicht üppiger als das seiner Zeitgenossen. Was er […] von ihnen empfängt und was er ihnen zurückgibt […], das begreift er als eine Frage, die sich in jeder Begegnung immer wieder neu stellt, als eine glückliche Wunde im Herzen […].“ (de Certeau: GlaubensSchwachheit, S. 56)
Nur wer sich in die Risikobereiche vortastet und bereit ist, sich befremden, in diesem Sinne verwunden zu lassen, ist ein wahrhaft religiöser Mensch. Treibt diese Wunde auch die einsam wandernden Protagonisten an? Vermutlich ebenso, wie es Handke selbst zu einem absichtslosen Gehen anstiftet, um am Wegesrand Momente eines augenblickgesättigten Handlungsstillstands auszukosten.
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Lukas Pallitsch, Literaturwissenschaftler und Theologe, ist Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Burgenland.
Bild: © Lillian Birnbaum, Suhrkamp.de
Bereits zu Peter Handke bei feinschwarz.net erschienen:
„Man muss etwas anderes sehen können als das Kanonisierte“: Zu Peter Handkes 75. Geburtstag