Könnte die Antwort auf diese Frage tatsächlich auch ‚Nein’ lauten? Dies zu denken bleibt eine Herausforderung für alle, die mit der Predigt zu tun haben. Vielleicht eine heilsame, findet Katrin Kusmierz.
Könnte die Antwort auf diese Frage tatsächlich auch ‚Nein’ lauten? Der Gedanke erschreckt mich, oder besser: schreckt mich auf. Ich will mich ihm aber nicht verweigern. Ich probiere hiermit aus, wie es sich anfühlt, so zu denken, als gäbe es für die Predigt keine Zukunft. Ich bin überzeugt: Auf diesen Gedankengang muss ich mich immer wieder begeben – als praktische Theologin, als Ausbildnerin, die Studierende und Lernvikar:innen auf ihrem Weg zu Prediger:innen begleitet und als eine, die selbst predigt. Denn die Frage bringt mich dazu über Funktion und Stellenwert der Predigt nachzudenken und darüber, wie sie sich als öffentliche Rede verbessern kann und verändern muss.
eine eher exklusive Freizeitbeschäftigung
Dass es die Predigt als Redeform nicht leicht hat, ist offensichtlich. Sich Reden anzuhören, ist zu einer eher exklusiven Freizeitbeschäftigung geworden, auch wenn Podcasts, Ted-Talks und Radiobeiträge Hörende zu begeistern wissen. Der fixe Zeitpunkt (meist) am Sonntagmorgen erleichtert die Sache nicht, und ja: nicht jede Predigt kann formvollendet und geistreich glänzen; dafür ist bei vielen Predigenden die Predigtfrequenz zu hoch und das Zeitkonto zu gering. Immer wieder stellen sich Pfarrpersonen die Frage, ob der grosse Aufwand, den sie für eine Predigt treiben, gerechtfertigt ist angesichts der Anzahl Personen, die sie hören und angesichts der Aufgaben, die sonst bewältigt werden sollen.
Die Welt der biblischen Texte ist weit weg gerückt.
Die Sachlage ist komplex. Und dass wir uns die Frage nach der Zukunft der Predigt überhaupt stellen müssen, liegt an Faktoren, die nur teilweise durch die Predigenden beeinflussbar sind. Dennoch müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Verschiedene gesellschaftliche Veränderungen tragen dazu bei. Für viele Menschen (die meisten?) ist es nicht mehr einfach per se nachvollziehbar, warum man das Leben mit Hilfe eines religiösen Denk- und Glaubenssystems deuten sollte. Die Welt der biblischen Texte, die für Insider und Profis so bezaubernd und tief ist, ist weit weg gerückt. Dies ist mit eine der grössten Herausforderungen der Zukunft: Kann die Predigt eine öffentlich relevante Rede bleiben, oder dient sie exklusiv der Selbstvergewisserung der Gemeinde der Gläubigen?
vom Monolog zum Dialog
Wie es ist, wenn im Gottesdienst – zumindest über einen begrenzten Zeitraum hinweg – auf die Predigt verzichtet wird, hat das Pfarrteam im St. Gallischen Straubenzell im Februar 2022 erprobt.[1] Ein wirkungsvoller symbolischer Akt hat diesen Schritt begleitet: Eine kaum mehr verwendete Kanzel wurde von einer der Pfarrpersonen im Rahmen einer Kunstaktion mit der Motorsäge zersägt. Nicht planlos zerstückelt, sondern sorgfältig in zwei gleichförmige Teile getrennt. Diese bilden nun die Endstücke, bzw. Füsse eines langen Tisches, der zuerst in der Kirche stand und jetzt im Pfarrgarten zum Sitzen einlädt. Und an diesem Tisch wurde und wird, so Carl Boetschi, einer der Mitinitianten, viel gesprochen und diskutiert. Auch im Gottesdienst. Entsprechend lässt sich die Erkenntnis nach vier Wochen Predigtabstinenz folgendermassen zusammenfassen: Ein Weg in die Zukunft der Predigt könnte vom Monolog zum Dialog führen. Dennoch lautete das beruhigende Fazit der Gemeinde: Sie möchte auch weiterhin Predigten hören. Aber es wäre schön, wenn auch sie aus dem Dialog entstehen und in den Dialog führen würden.
Gebt den Predigenden mehr Zeit!
Das Erschrecken über die Verneinung der Frage, ob die Predigt Zukunft hat, weist darauf hin, dass etwas fehlen würde, wenn es sie nicht gäbe. Für die Kirche als Institution, für die Menschen, die sich dieser zugehörig fühlen und für diejenigen, die die Predigten ausarbeiten und halten. Ebenso im Blick auf das Gemeinwesen, die Gesellschaft als Ganzes. In der Predigt findet eine sorgfältige, vor- und rückwärts durchdachte, theologisch fundierte Auseinandersetzung mit den biblischen Texten statt. Diese alten Texte werden in neuen Worten aktualisiert. Sie werden mit den Lebenswelten heutiger Menschen verknüpft. Jedes Zeitalter, jede Generation muss sich diese Texte neu zu eigen machen. Dieser unablässige Prozess bildet eine Art Lebensader für die Kirche. Kein Zweifel, die Kirche lebt und gedeiht auch durch anderes, durch Beziehungen oder durch ihr seelsorgerliches und soziales Engagement. Aber die Predigt und das gottesdienstliche Feiern insgesamt, die Liturgie, sorgen für die stetige Rückkoppelung an diese Lebensader. Diese Rückkoppelung ist insbesondere auch für das geistliche Personal wichtig – die Predigtvorbereitung ist also nicht verschwendete und zu kostspielige Zeit, sondern erhält einen Wert an sich: als Raum der theologischen Arbeit, aber auch der spirituellen Herzensbildung, als Ort des eigenen geistlichen Wachsens und Findens. Deshalb: Gebt den Predigenden mehr Zeit! Mehr Zeit, in den Texten das aufzuspüren, was sie existentiell bewegt; mehr Zeit, herauszufinden, was die Hörenden existentiell bewegt; mehr Zeit, sich mit Theologie und mit aktuellen Gegenwartsfragen auseinanderzusetzen, mehr Zeit ihre Stimme zu finden, ihre Position, ihr inneres Feuer.
Dialogisches Predigen ist auch eine Haltungsfrage.
Angesichts sich verändernder Hör- und Sehgewohnheiten muss man sich auch die Frage stellen, inwiefern sich die Form der Predigt verändert oder verändern soll, wenn sie zukunftsfähig sein will. Hier hat sich in den letzten Jahren viel bewegt; neue homiletische Ansätze haben viel Bewegung in die deutschsprachige Predigtlandschaft gebracht und die Predigt aus starren Korsetten befreit. Jüngst hat die Corona-Pandemie die kirchliche Verkündigung in die digitale Welt hinein katapultiert und einen Innovationsschub ausgelöst, der mutmasslich auch das analoge Predigen beeinflussen wird. Wie, ist eine offene, aber spannende Frage.
Social media Formate, insbesondere Podcasts, Vlogs oder gelungene Predigtformate, wie sie während Corona entstanden sind, sind beispielsweise stark dialogisch angelegt, unabhängig davon, ob eine Person alleine spricht oder ob zwei miteinander im Gespräch sind. Das fordert auch die Predigt heraus, sich noch bewusster in einen Dialog mit den Hörenden zu begeben und diesen zu suchen. Dialogisches Predigen ist auch eine Haltungsfrage. Es wirkt sich aus auf Inhalt, Sprache und Sprechen. Ich wähle meine Worte so, dass die Hörenden mit in das Predigtgeschehen involviert werden, dass sie einhaken und weiterdenken können. Und ich bin auch als im Gottesdienst Sprechende Ihnen zugewandt – und nicht primär dem Manuskript (auch hier gibt es von Online-Formaten einiges zu lernen).
Predigen heisst sich zeigen, sich exponieren.
Es scheint eine Eigenart der digitalen Medien zu sein, dass hier die sprechende Person wichtiger wird für die Kommunikation des Inhaltes – ein Gedanke, dem Theolog:innen lange Zeit mit grosser Skepsis begegnet sind und sich als Person sehr zurück genommen haben. Wird auch in der Predigt die sprechende Person zunehmend wichtiger? Nicht in dem Sinne, dass die Predigende einen Text nach Lust und Laune und ohne Rücksicht auf theologische Erkenntnisse auslegt. Sondern dass die Hörenden merken, dass das, was sie theologisch sagt, existentiell erfahren, durchdacht und durch(d)rungen ist. Predigen heisst sich zeigen, sich exponieren, sich nicht auf der Kanzel und hinter den Worten der Predigt verstecken, sondern die Gemeinde am eigenen inneren Feuer teilhaben zu lassen. Das ist unbestritten ein Wagnis, aber dieses innere Feuer ist das Geschenk der Predigenden an die Gemeinde. Die evangelische Theologin Angela Rinn spricht in diesem Zusammenhang vom punctum. Gemeint ist das, was besticht, was mich in Bewegung versetzt und anregt. Das, was mich unmittelbar betrifft.[2] Wenn die Gemeinde spürt, dass für die Predigende etwas relevant geworden ist, steigt die Chance, dass sie es für sich selbst als relevant erkennen kann.
Die grösste Herausforderung ist wohl die inhaltliche.
Die Predigt – als Moment, indem die erwähnte Verbindung zwischen biblischen Texten und gegenwärtigen Lebenswelten, bzw. Zeitgenoss:innen zustande kommen kann – wird wahrscheinlich formal vielfältiger werden müssen. Es braucht sie also, die Versuche mit neuen Formen – in Ergänzung zur „guten“ alten Predigt. Wie beispielsweise in Straubenzell das Gespräch am Tisch, in dem viele verschiedene Menschen zu einem Thema zu Wort kommen und sich gegenseitig zuhören. Oder wie die Stadtzürcher Gemeinden, die mit filmischen Verkündigungsformaten experimentieren.[3] Formen, bei denen der implizite innere Dialog zwischen Predigenden und Gemeinde auf die äussere Bühne verlegt wird, wo die Predigt nicht nur die Sache der:des Eine:n ist, sondern die Sache vieler.
Unabhängig vom Format: Die grösste Herausforderung ist wohl die inhaltliche. Nämlich aufzuzeigen, wie das, was die biblischen Schriften zu erzählen haben, sich heute, in ganz konkreten Lebenssituationen und im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen als plausibel und relevant erweist. Trotz aller Anfragen, die (post-)moderne Menschen an die Urtexte und an das Konzept „Glauben“ überhaupt haben. Dafür braucht es eine Sprache, die immer wieder die Anschlussfähigkeit sucht und nicht im kirchlichen Binnendiskurs verharrt. Die Predigt muss sich mit konkreten Lebensthemen auseinandersetzten und sie als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen. Hörende möchten wissen: Was hat das mit mir zu tun? Hier haben beispielsweise Kasualpredigten einen Vorteil. Sie können diese Verknüpfung ganz konkret und personenbezogen, auf eine bestimmte Lebenssituation hin leisten, während Sonntagspredigten oft alle im Blick halten müssen und dabei schnell zu allgemein werden. Was dies für die Predigt an sich heisst, wäre weiter zu bedenken.
der Predigt Glück
Ob Predigt eine Zukunft hat? Ich hoffe schon. Es braucht sie. Sie ist jedoch längst kein Selbstläufer mehr. Das ist anstrengend und verunsichernd. Aber vielleicht ist es der Predigt Glück, weil es so notwendig wird, über sie nachzudenken, an ihr zu arbeiten und sie weiter zu entwickeln. Und solange es Menschen gibt, die das tun, und die erschrecken, wenn die Antwort auf die eingangs gestellte Frage ein „Nein“ wäre, bleibe ich vorsichtig optimistisch.
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Dr. Katrin Kusmierz, Wissenschaftliche Geschäftsführerin und Dozentin, Kompetenzzentrum Liturgik, Theologische Fakultät der Universität Bern.
Beitragsbild:
Tisch im Pfarrhausgarten der Kirchgemeinde Straubenzell, gefertigt aus der demontierten Kanzel, © Carl Boetschi
[1] Vgl. Beispielsweise https://www.ref.ch/news/aus-alter-kanzel-neuen-tisch-gebaut/ oder https://www.reflab.ch/?s=Predigt. Mit bestem Dank an Carl Boetschi, Mitinitiant der Aktion, für das ausführliche Gespräch, in dem er seine Beobachtungen mit der Autorin geteilt hat.
[2] Angela Rinn, Kurz und gut predigen, Göttingen 2019, 33.
[3] https://www.youtube.com/channel/UCMMPs6u52Y8jD1TsvzlFcWw.