Dominik Blum über den Atem, Corona und Pfingsten.
Es war immer freitagabends. Im Hinterhof der etwas zwielichtigen Spedition hatten wir mit den Jungs LKWs entladen und das wenige Handgeld gleich anschließend in Gyros, Bier und einige Partien Billard investiert. Kein Wunder, dass mein Vater, kaum war ich zuhause, forderte: „Hauch mich mal an!“ Es ging ihm wohl kaum darum zu erfahren, was wir gegessen, getrunken und geraucht hatten. Das roch man auch auf einige Meter Entfernung. Eigentlich wollte er wissen, ob alles in Ordnung ist. „Lebst du noch, alles gut?“, das war seine unausgesprochene Frage. Verstanden habe ich dies erst, als ich selber Kinder hatte.
„Lebst du noch, alles gut?“
Den eigenen und den Atem des oder der anderen zu spüren bedeutet, sich vom Leben und der Lebendigkeit zu überzeugen. Eltern wissen das, die nachts in Sorge über die Atemzüge ihres Babys wachen. Wenn ich auf dem Teppich neben meiner alten Hündin sitze, die friedlich schnarcht, spüre ich an ihrer grauen Schnauze die Atemluft, die mich mit ihr und allem Lebendigen verbindet. Und in den Armen meiner wunderbaren Frau, ihren warmen, beruhigenden Atem in meinem Nacken, freue ich mich an der Liebe und Geborgenheit, die sie mir schenkt.
Die Atemluft, die mich mit allem Lebendigen verbindet.
Kein Wunder, dass die Bibel dem Atem göttliche Kraft zuspricht. Ja, der hebräische Name für den Atem und verschiedene Arten der bewegten Luft, ruah, meint deshalb auch die Geistkraft, Gottes Geist. Als Jesus nach Ostern seinen Freundinnen und Freunden erscheint, spielt dieser Atem eine ganz wichtige Rolle, so erzählt es das Johannesevangelium: „Und er hauchte sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!“ (Joh 20,22) Von diesem Geist beatmet und beseelt zu sein, bedeutet, all dies alltäglich erfahren zu können: Die Verheißung von Lebendigkeit gegen alle Gefahren des Lebens. Die Solidarität mit allen Lebewesen, die auf den Atem, auf saubere Luft, auf die Bewohnbarkeit des blauen Planeten angewiesen sind. Und die Fähigkeit zu lieben ebenso wie die Bedürftigkeit, geliebt zu werden.
Die Menschen müssen und werden das Vertrauen in den Atem ohne Masken wiedergewinnen.
Die Corona-Pandemie hat uns, was den Atem angeht, auf eine ganz falsche Fährte gelockt. Viren und kontaminierte Aerosole wollen uns weismachen, der Atem der Mitgeschöpfe, der anderen Menschen sei uns feind, mache uns krank. Ungeschützt zu atmen sei gefährlich, ansteckend und potenziell tödlich. „Hauch mich mal an“, das traut sich derzeit niemand zu fordern. Ja, es stimmt. Der Atem ist viral. Er zeugt von Leben und Lebendigkeit – im Moment auch von der Lebendigkeit und Ansteckungskraft eines Virus, das uns gefährlich werden kann. Aber diese Viralität ist nur der Grenzfall des lebendigen Atmens. Die Menschen müssen und werden das Vertrauen in den Atem ohne Masken wiedergewinnen. Denn im Atmen steckt die Kraft des Lebens, der Solidarität und der Liebe. Atem ist ruah, göttliche Geistkraft.
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Dominik Blum (Jahrgang 1969) ist Dozent für Religion, Glauben und Theologie an der Katholischen Akademie Stapelfeld. In Kursen und Vorträgen thematisiert er die Frage nach Gott und Religion in ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Kultur. Mit seiner Familie wohnt er in Lüsche.
Bild: Valeriia Bugaiova auf unsplash.com