Carolin Hohmann begibt sich auf die Spur der Berliner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und entdeckt dabei eine Denkerin, deren Positionen auch nach gut 150 Jahren nichts an Relevanz eingebüßt haben.
Schon etliche Male bin ich die Friedrichstraße entlanggelaufen. Immer wieder entdecke ich – ganz typisch für eine Großstadt wie Berlin – neue Cafés, spannende Seitenstraßen und kürzlich das Wohnhaus einer beeindruckenden Frau, die schon vor mehr als 100 Jahren über das geschrieben hat, worüber bis heute in den Gender Studies und anderen gerechtigkeitssensiblen Disziplinen diskutiert wird.
Hedwig Dohm, geb. 1831, wuchs in der Friedrichstraße 235 im heutigen Berlin-Kreuzberg auf. Sie war Schriftstellerin, Publizistin und im Kreis der Intellektuellen Berlins gut vernetzt.[1] Ihre Enkeltochter Katia heiratete den Schriftsteller Thomas Mann. Dohm starb 1919 in Berlin, erlebte also noch die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland 1918. Für sie ein Meilenstein, stellte sie doch schon 1876 fest: „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht.“
Hedwig Dohm wird in eine kinderreiche Familie in Berlin geboren. Schon ihre Herkunft ist gekennzeichnet von den sozialen Konflikten der damaligen Zeit. Ihr Vater, Gustav Schlesinger, stammt aus einer jüdischen Industriellenfamilie, konvertiert zum Christentum. Seine Beziehung zur Mutter Dohms, die aus armen Verhältnissen kommt, wird anfangs aufgrund von Standesunterschieden nicht geduldet – Hedwig Dohm ist ein uneheliches Kind.
Warum mußte ich heimlich, als wär’s ein Verbrechen, lesen?
Als Tochter hat sie – anders als ihre Brüder – trotz sehr guter schulischer Leistungen keine Chance auf Bildung. Mit nur 15 Jahren muss sie die Schule verlassen, um sich anfallenden Tätigkeiten im Haus zu widmen und sich als „Backfisch“ auf ihre Rolle als Haus- und Ehefrau vorzubereiten. Hier zeigt sich die Schablone, in die sich Hedwig Dohm seit ihrer Geburt gepresst fühlt, bei der ihre Interessen und Begabungen keine nennenswerte Rolle einnehmen dürfen: „Warum mußte ich heimlich, als wär’s ein Verbrechen, lesen? Warum durfte ich nichts lernen? Meine Brüder wollten und mochten nichts lernen und wurden dazu gezwungen.“[2]
„Ein Zimmer für sich allein“, wie Virginia Woolf es 1929 auf den Punkt bringt, bleibt auch Hedwig Dohm verwehrt. Beeindruckend an ihr ist, dass es ihr unter diesen Umständen gelungen ist, viele einflussreiche politische wie literarische Schriften zu verfassen – nicht nur zur Gleichstellung der Frau. Die Gleichgültigkeit ihrer Eltern hinsichtlich religiöser und sozialer Fragen, so sagt sie später, habe ihr eigenständiges Denken gefördert. In dieser Unvoreingenommenheit ergreift Dohm ihr Wort dort, wo sie Ungerechtigkeiten und Widersprüche wahrnimmt, und entlarvt Schwächen christlicher Theologen ihrer Zeit: Warum erhebe der fromme Herr keinen Einspruch gegen die Frauenarbeit der niederen Stände, etwa die Christin in der Fabrik?[3]
Nur mehr die Schale, nicht aber der Kern des Christentums
Im Ersten Weltkrieg positioniert sich Hedwig Dohm öffentlich als Pazifistin. In „Der Mißbrauch des Todes“ (1917) äußert sie den Wunsch einer „neue[n], auf christlichem Gefühlsgrund ruhende[n] Religion“. So sei nur mehr die Schale, nicht aber der Kern des Christentums – nämlich die Menschenliebe – gegenwärtig. Wenn im Krieg Soldaten im Namen Gottes töteten, würden christliche Gebote in ihr Gegenteil verkehrt.
Hedwig Dohm bringt ihre erfahrenen (Bildungs-)Ungerechtigkeiten kritisch mit Naturalisierungs- und Essentialisierungsargumenten in Verbindung. Im Fokus stehen vermeintlich natürliche Charakterzüge, für die Dohm jedoch Bildung (statt Biologie) verantwortlich macht. Kritiker:innen weiß sie pointiert, partiell polemisch zu entkräften: „Ich kann nicht sagen, mit welchem Widerwillen mich die Verlogenheit jener landläufigen Phrasen erfüllt. Selbst der Einfältigste braucht sich nur einigermassen unbefangen in der Welt umzusehen, um zu gewahren, dass es ungefähr ebenso viele kluge Frauen wie kluge Männer, und dumme Frauen, wie dumme Männer gibt, und dass es sich mit dem Empfindungsvermögen in gleicher Weise verhält.“[4]
Bezugnehmend auf das Argument, Bildung veredle Männer und erniedrige Frauen, fragt sie polemisch: Wie ist es z. B. beim Rechenunterricht? „Wirkt das Erlernen der vier einfachen Spezies günstig auf die Frauennatur, und beginnt die Erniedrigung etwa bei den Brüchen? Oder beim Schreiben? Ist das Erlernen der Buchstaben zu billigen, das orthographisch richtige Schreiben aber vom Übel?“[5] Ohne Begriffe der Gender Studies verwenden zu können, rekurriert Dohm hier auf die Unterscheidung vom biologischen (sex) und sozialen Geschlecht (gender).
Der Mütterlichkeit die Speckschicht nehmen
Ebenso gelingt Dohm die Dekonstruktion vermeintlich biologischer Tatsachen. Sie widmet sich dem geschlechtsspezifischen Narrativ, die Mutterliebe sei ein natürlicher, wenn nicht der natürliche Trieb der Frau. Dazu Dohm: „Der Mütterlichkeit muß die Speckschicht der Idealität, die man ihr angeredet hat, genommen werden.“[6] In den Fokus rückt Dohm die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: „Sich einen neuen Daseinszweck zu schaffen, mit der Berufsausbildung erst zu beginnen, wenn die Kinder erwachsen sind, dürfte in den meisten Fällen viel zu spät sein.“[7] Dass ihre Aussagen weder an Aktualität noch an Brisanz verloren haben, hat die Coronapandemie vor Augen geführt. So waren es mehrheitlich Frauen, die beruflich zurückgeworfen wurden, weil sie zusätzlich anfallende Care-Aufgaben übernehmen mussten. Die dahinterliegende Vorstellung der Frau einzig als Mutter kritisiert Dohm schon 1903: „Brave und kluge Frauen werden als Mütter ihre Lebenswege so gestalten (falls äußere Verhältnisse nicht einen Druck auf sie ausüben), dass ihre Mutterpflichten keinen Abbruch zu erleiden brauchen, gleichgültig, ob das Kind ihres Daseins ganzer Inhalt ist oder ob sie Beruf und Mutterschaft zu vereinigen wissen.“[8]
Es gibt für Dohm also nicht die Frauen, die naturbedingt mit denselben Charakteristika, Wünschen und Zielen ausgestattet sind. Der von ihr geprägte Begriff der Versämtlichung findet in wissenschaftlichen Publikationen bis heute Anwendung. Er beschreibt jene Prozesse, die zur Generalisierung, Stereotypisierung und letztlich Naturalisierung der Frau führen: „Es scheint aber, man stellt sich das Frauentum wie eine Form vor, in die alle weiblichen Geschöpfe hineinzuschlüpfen haben, um – nach Gottes Ratschluss – versämtlicht zu werden, so dass die eine von der andern sich nicht mehr wesentlich unterscheidet. Alle tun, fühlen, denken dasselbe.“[9] Diese Erkenntnisse können auch heute in der lehramtlichen Auseinandersetzung eine gewichtige Anfrage bilden, wenn etwa wie zuletzt im nachsynodalen Schreiben „Querida Amazonia“ eine „Theologie der Frau“ entworfen wird.
Stereotype, die als soziale Platzanweiser fungieren
Eine intersektionale Perspektive auf die Schriften Hedwig Dohms offenbart, dass sich nicht nur die Genderkategorie, sondern auch die Kategorie „soziale Herkunft“ in wechselseitiger Verwobenheit als bestimmend für die eigene Lebensbiographie erweist. (Erlebte) Ungleichheiten aufgrund des Frau-Seins sind bei Dohm immer an Bildungschancen geknüpft. Gerade die Theologie als gerechtigkeitssensible Wissenschaft scheint für eine solche Perspektivänderung gefragt. Sie ist aktueller denn je. So zeigt sich in Dohms Ausführungen eine erschreckende Aktualität, weil sich soziale Ungleichheiten im Bildungswesen drastisch verstärkt haben und Schüler:innen aus sozial schwachen Familien Lernrückstände kaum aufholen können. Ganz zu schweigen von gegenwärtigen Krisen, die diese Spaltung fortschreiben.
Dabei hat die (theologische) Genderforschung bereits viel erreicht. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts sind heute – wenngleich noch viel zu oft vorhanden – im Bewusstsein der meisten Menschen. Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft hingegen scheinen weniger wahrgenommen zu werden, wohl weil diese Stimmen gerade in der Wissenschaft kaum gehört werden. Wer ist in der Theologie hörbar oder – entscheidender – wer nicht? Befreiungstheologische Perspektiven auf Armut sind ebenso wie feministisch-theologische Perspektiven auch in einem von Wohlstand geprägten Land wie Deutschland gefragt. Für den Bildungsbereich genügt dazu ein Blick auf den sog. Bildungstrichter, der allzu deutlich die Allokationsfunktion von Schule und Universität vor Augen führt.
Stereotype und Zuschreibungen, die als soziale Platzanweiser fungieren und die schon Hedwig Dohm vor über 100 Jahren angeprangert hat, sind bis heute von gesellschaftspolitischer, aber auch von theologischer Aktualität. Umso beeindruckender, dass es Hedwig Dohm mit ihrer Biographie gelungen ist, gehört zu werden. Und umso wichtiger, dass wir ihre Stimme sowie viele bislang ungehörte (wieder)entdecken und hörbar machen – gerade auch in der Theologie: „[I]ch bin des Glaubens, dass die eigentliche Geschichte der Menschheit erst beginnt, wenn der letzte Sklave befreit ist […] – dann erst beginnt die freie Entwicklung der Menschheit, jene Entwicklung, deren Ziel der Mensch ist – ein Ebenbild Gottes.“[10]
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[1] Zu den biographischen Angaben vgl. Brandt, H. (1989): „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“. Die Lebensgeschichte der Hedwig Dohm. Weinheim/Basel sowie Fassmann, I. (1996): Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919. Hildesheim u.a., S. 107–123.
[2] Zit. nach Brandt (1989), S. 16.
[3] Vgl.: Dohm, H. (2015) [1872]: Was die Pastoren denken. Berlin, S. 36.
[4] Ebd., S. 5f
[5] Ebd., S. 6.
[6] Zit. nach Pusch, L./Gretter, S. (2002): Berühmte Frauen: Dreihundert Porträts. Frankfurt/Leipzig, S. 77.
[7] Dohm (2020) [1903]: Die Mütter. Beitrag zur Erziehungsfrage. Berlin, S. 36.
[8] Ebd., S. 22.
[9] Ebd., S. 37.
[10] Dohm, H. (1873): Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Frauenfrage. Berlin, S. 7.
Carolin Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zur Relevanz des Intersektionalitätsansatzes in der Religionspädagogik.
Bildnachweis: Carolin Hohmann