Heute vor 134 Jahren wurde Martin Heidegger geboren. Wer konnte warum etwas anfangen mit ihm in der Theologie? Und wie steht es heute damit, nach der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“, seiner Denktagebücher 1931-41, die ihn als anhaltenden Anti-Demokraten und Antisemiten zeigen? Von Reinhold Esterbauer.
Heute mag der Eindruck entstehen, dass Heidegger für die Theologie eigentlich kaum mehr Bedeutung habe. Es ist mittlerweile nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Theologie recht still um seine Philosophie (wenn auch nicht um seine politische Haltung) geworden. Dass Heidegger keinen Einfluss auf die Theologie ausgeübt hätte, kann hingegen nicht behauptet werden. Man denke nur an die gemeinsame Zeit zwischen 1923 und 1928, in der Rudolf Bultmann und Martin Heidegger in Marburg in Austausch standen und eine gemeinsame Graeca unterhielten.
Für die katholische Seite hatten Karl Rahner und Johann Baptist Lotz von ihrem Orden die Erlaubnis erhalten, von 1934 bis 1936 bei Heidegger in Freiburg/Br. zu studieren. Weitere katholische Denker wie Max Müller, Gustav Siewerth und Bernhard Welte hörten ihn ebenfalls und wurden von ihm beeinflusst. Eine weitere prominente Auseinandersetzung mit Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte durch Karl Lehmann, der mit seiner sehr umfangreichen Dissertation an der Gregoriana 1962 sich intensiv mit den damals noch nicht veröffentlichten frühen Schriften Heideggers zur Religionsphilosophie auseinandersetzte. (Allerdings wurde das Buch erst im Jahr 2003 [!] publiziert.)
Die Faszination für die Theologie: Anschluss an die Moderne ohne die Frage nach der Autonomie des Menschen und der Geschichtlichkeit der Wahrheit stellen zu müssen.
Was aber war das Faszinierende am Denken Heideggers für die katholische Theologie, die sich noch weitgehend in neuscholastischer Abschottung befand, aus der aber einige ausbrechen wollten. Wie Georg Essen festgehalten hat,[1] seien es wohl zwei Perspektiven gewesen, die sich aber als „Holzwege“ erwiesen hätten. Auf der einen Seite hatte man zu jener Zeit versucht, bei Thomas von Aquin anzuknüpfen und mit der Hilfe Heideggers gleichsam eine Brücke in die Moderne zu schlagen, ohne die geistesgeschichtliche Entwicklung mitvollziehen zu müssen, die durch Immanuel Kant und den Deutschen Idealismus angestoßen wurde, ohne sich also der Frage nach der Autonomie des Menschen zu stellen.
Zum anderen habe man geglaubt, der durch den Historismus angestoßenen Frage nach der empirisch erforschbaren Geschichte nicht nachgehen zu müssen und der Vermittlung zwischen Wahrheit und Geschichte mit der Hilfe von Heideggers Konzept der Seinsgeschichte entgehen zu können. Während Bultmann versuchte, eine hermeneutische Theologie mit der damit verbundenen Pluralität auszuarbeiten, schien Heidegger für die katholische Theologie eine Lösung parat zu haben, wie sie „schnell“ den Anschluss an die Moderne finden könnte, ohne die Übersichtlichkeit der eigenen Welt aufgeben und ohne den Freiheitsdiskurs mitmachen zu müssen. Die Moderne schien mit der Hilfe von Heidegger an Thomas angebunden werden zu können, bzw. erhoffte man, durch die Vermittlung mit seiner Philosophie notwendige Brüche mit dem Neuthomismus umgehen zu können.
Seltsamerweise taten solchen Versuchen weder Heideggers Rektoratsrede von 1933, in der er sich als der erste Nazi-Rektor der Universität Freiburg/Br. präsentierte, noch seine antidemokratische Haltung einen Abbruch, die sich unter anderem in seiner Ablehnung der Weimarer Republik und in seiner Verharmlosung der Nazi-Verbrechen äußerte.[2] Wie man nicht erst seit den so genannten „Schwarzen Heften“, Heideggers Denktagebüchern von 1931 bis 1941 (Gesamtausgabe [= GA] 94–96) weiß, hat er sich auch auf erschreckende Weise antisemitisch geäußert.[3] Die sehr ambivalente Haltung der katholischen Kirche zu genau diesen Punkten mag auch eine kritische Sicht auf Heidegger innerhalb der Theologie erschwert haben.
Lange setzen sich weder Theologie noch Philosophie mit Heideggers politischer Haltung auseinander
Doch auch innerhalb der Philosophie hat es lange gedauert, bis man sich mit Heideggers Bezügen zum Nationalsozialismus und seinen antisemitischen Haltungen ernstlich auseinandergesetzt hat. Zwar hat z. B. Jürgen Habermas bereits in seinem Beitrag „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“ von 1953 in der FAZ bemerkt,[4] dass dieser in der Publikation seiner 1935 gehaltenen Vorlesung „Einführung in die Metaphysik“ im Jahr 1953 eine Stelle, in der er den Nationalsozialismus verteidigte, (GA 40, 208) unverändert bzw. unkommentiert stehen ließ. Breiter und intensiver setzt man sich mit „Heidegger und de[m] Nationalsozialismus“ aber erst seit Victor Faríasʼ gleichnamigem vieldiskutierten Buch von 1989 auseinander, zu dem wieder Jürgen Habermas das Vorwort schrieb.[5]
In der katholischen Theologie war es wohl Johann-Baptist Metz, der einerseits die Bedeutung der faktischen Geschichte für eine Theologie nach Auschwitz ernst genommen hat und andererseits die Wende zum Subjekt seines Lehrers Karl Rahner nicht nur mitvollzogen, sondern auch weitergeführt hat. Bezeichnenderweise wurde Metz in Innsbruck mit der Arbeit „Heidegger und das Problem der Metaphysik. Versuch einer Darlegung und kritischen Würdigung“ (Innsbruck 1953) bei Emmerich Coreth in Philosophie promoviert, bevor er 1962 mit der Arbeit „Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von Aquin“ (München 1962) in Theologie doktorierte. Man sieht, dass wieder die schon erwähnten großen Themen Thomas von Aquin und Martin Heidegger eine wesentliche Rolle spielten. Allerdings lässt Metz mit seiner Theologie der Geschichtlichkeit den Versuch hinter sich, mit Heidegger allein in der Moderne Fuß zu fassen.
Heidegger in der gegenwärtigen Theologie
Findet – so wird man fragen – Heidegger in einer gegenwärtigen Theologie denn überhaupt noch Gehör? Mir scheint, dass über den Umweg französischer Philosophie,[6] in der sich auch jüdische Denker wie Jacques Derrida, Emmanuel Levinas oder Jean-François Lyotard („Heidegger und die ,Juden‘“, Wien 2005) kritisch mit Heidegger auseinandergesetzt haben, der „Meister aus Deutschland“[7] indirekt nach wie vor rezipiert wird. Auch Versuche, Gott nicht nur jenseits der Metaphysik, sondern auch jenseits eines subjekt-zentrierten Ansatzes zu denken, sind zurückverwiesen auf Heidegger. Einerseits korrespondiert seine Kritik am neuzeitlichen Subjekt-Begriff, die er René Descartes gegenüber an den Tag legt, mit den Fragen nach der Subjektivität des Subjekts überhaupt, wie sie beispielsweise Michel Foucault in „Les mots et les choses“ (Paris 1966, dt. „Die Ordnung der Dinge“) und in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France vom 2. Dezember 1970, die den Titel „Lʼordre du discours“ (Paris 1972, dt. „Die Ordnung des Diskurses) trägt, vorgeführt hat. Foucault ist in Teilen heutiger Theologie ja nicht nur wegen seiner Macht-Analysen ein wichtiger Bezugspunkt geworden, sondern auch mit Bezug auf die Frage, wer denn der Mensch sei, den die anthropologische Wende des II. Vatikanums in den Mittelpunkt gestellt hat.
Andererseits steht Heideggers Überzeugung, Gott nicht einfach mit dem Sein identifizieren zu dürfen, Pate für die Suche nach einem zeitgemäßen Gottesbegriff. Heideggers Versuch, Gott nicht mit den Mitteln herkömmlicher Metaphysik zu denken, sondern deren „ontotheologischen“ Charakter zu überwinden, also nicht die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem zu nivellieren und Gott nicht als das höchste Seiende anzusetzen, (GA 97, 356f.) kommt dem gegenwärtigen Bestreben entgegen, Gott „jenseits des Seins“[8] zu denken, oder wie ein Buchtitel von Jean-Luc Marion besagt, „Gott ohne Sein“ (Paris 1991) zu reflektieren.
Nicht zu vergessen ist die Technik-Kritik Heideggers, die in ökologischen Ansätzen und solchen, die sensibel sind für die Klimakrise, immer wieder zur Sprache kommt. Das „Ge-stell“ und die naturwissenschaftlich-technischer Denkweise unterstellten „Machenschaften“ spielen dabei die zentrale Rolle. (Z.B. GA 7)
Wer in der Theologie kann also heute noch etwas anfangen mit Heidegger? – Aus besagten Gründen in der Regel weder Vertreter:innen einer Befreiungstheologie noch Proponent:innen einer auf Subjekt-Philosophien aufbauenden Theologie oder analytische Theolog:innen, wohl aber solche, denen die französische Philosophie nicht fremd ist oder die ökologische und technikphilosophische Fragen ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken.
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Prof. Dr. Dr. Reinhold Esterbauer ist Leiter des Instituts für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.
Beitragsbild: Willy Pragher, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
[1] Vgl. Essen, Georg: Auf Holzwegen in die Moderne? Die katholische Theologie und Martin Heidegger, in: Gander, Hans-Helmuth / Striet, Magnus (Hg.): Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der „Schwarzen Hefte“, Frankfurt/M.: Klostermann 2017 (Heidegger Forum 13), 199–228.
[2] Vgl. Rohkrämer, Thomas: Martin Heidegger. Eine politische Biographie, Paderborn: Schöningh 2020, 176f.
[3] Zum Antisemitismus Heideggers siehe: Vetter, Helmuth: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg: Meiner 2014, 406–412.
[4] Habermas, Jürgen: Mit Heidegger gegen Heidegger denken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 (25.07.1953) Feuilleton [o. S.].
[5] Farías, Victor: Heidegger und der Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Frankfurt/M.: S. Fischer 1989.
[6] Vgl. Payen, Guillaume: Heidegger. Die Biographie. Aus d. Franz. v. Walther Fekl, Darmstadt: wbg Theiss 2022, 535–540.
[7] Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München: Hanser 1994.
[8] Vgl. Emmanuel Levinasʼ zweites Hauptwerk „Autrement quʼêtre ou au-delà de lʼessence (dt.: „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ 1992)