Können eine Gebetsgruppe und Erzählcafés neue Angebote im Rahmen eines christlichen Heilungsauftrages im Kontext Spital sein? Diskussion an Beispielen am Universitätsspital Basel, von Kerstin Rödiger.
Als kirchlich angestellte Spitalseelsorgerin im Gesundheitswesen stehe ich mitten in den Veränderungsprozessen sowohl der Kirche, als auch des Gesundheitswesens. Manchmal wird mir da gerade etwas schwindlig und ich versuche zu verstehen, was eigentlich passiert. So starteten am Universitätsspital Basel in diesem Herbst gerade zwei Versuche, zu deren Hintergründen, Chancen und Herausforderungen ich Überlegungen anstellen möchte. Zum einen wurde ein Freiwilliger Gebetsdienst um Heilung am Bett gegründet und zum anderen thematische Erzählcafés zum Lebensanfang begonnen.
Klärung: Was tun wir eigentlich?
Zunächst braucht es aber noch eine begriffliche Klärung. Amanda Porterfield unterscheidet im Heilungsauftrag des Christentums zwei Traditionen: Einerseits spricht sie von so genannten „dramatischen Heilungen“, andererseits existiert ein Schwerpunkt in „relief of suffering“, also der Erleichterung von Leiden und ein Focus auf „ability to cope with chronic ailments“[1], also dem Umgang mit chronischen Gebrechen. Simon Peng-Keller fasst diese Aufteilung sprachlich noch genauer, indem er zwischen „cure“ und „healing“ unterscheidet.[2] Beide Begriffe können sowohl körperliches als auch seelisches Leiden umfassen, stellen aber eine andere Absicht voran. Diese Differenzierung hilft zu verstehen, dass auch ohne komplette körperliche Heilung (cure) durchaus etwas im Leben heil (healing) werden kann.
„cure“ und „healing“
Unter diesen Vorzeichen möchte ich die erwähnten beiden Angebote in Basel vorstellen und einordnen.
Gebet um Heilung im Spital
Diesen Herbst wurde eine Gebetsgruppe gebildet, die am Bett um Heilung beten will. Dieses Projekt wurde mit viel Elan und projektbezogenem know-how direkt durch die Spitalleitung initialisiert und von einem Theologiestudenten als Projektleiter umgesetzt. In Zusammenarbeit mit der Seelsorge konnte eine sorgfältige Auswahl und Vorbereitung der Kanditat*innen gewährleistet werden. Eine Gruppe von neun Freiwilligen aus christkatholischen, reformierten, katholischen und freikirchlichen Gemeindemitgliedern ist vorbereitet und motiviert, um auf Wunsch am Bett um Heilung zu beten.
An diesem neuen Angebot beschäftigen mich vor allem zwei Fragen. Zunächst eine inhaltliche: Es gibt extreme Gebetsformen, die komplexe theologische Zusammenhänge wie die Allmachts- oder Schuldfrage und christliche Identität unreflektiert bzw. einseitig in ihrer Praxis beantworten. Eine solche Form war nicht gewünscht, weshalb viel in die sorgfältige Auswahl und Vorbereitung der Gruppe investiert wurde. Beten ist nämlich auch eine große Ressource im Angesicht von Krankheit. Nachweislich beten viele Kranke[3] und in meinem Arbeitsalltag bete auch ich immer wieder mit und für Patient*innen. Um diese positive Wirkung von Gebet nachvollziehbar zu machen, hilft etwa die Theorie der „Resonanz“ von Hartmut Rosa. Das Gebet kann als Resonanzraum verstanden werden, in den sich der/die Kranke stellt und der eine Grundlage sowohl für Akzeptanz als auch Veränderung bildet.[4] Im gemeinsamen Gebet werden gleich alle Resonanzachsen[5], die Rosa beschreibt, aktiviert und können sich so auch gegenseitig verstärken: Es wird ein Raum eröffnet, in dem die Kranken ihr Anliegen formulieren (diagonale Achse), sich von anderen getragen fühlen (horizontale Achse) und sich in einen größeren Zusammenhang stellen (vertikale Achse) können. So gesehen ist Beten ein unkompliziertes Instrument zur Selbstfindung, Einbindung, Stärkung und Akzeptanz. Eine Gebetsgruppe am Unispital, die sich als solch ein Resonanzraum versteht, hat großes Potential, wenn sie sich dazu noch einer strukturellen Herausforderung stellt.
Gebet als Resonanzraum
Eine berechtigte Frage ist nämlich, ob so ein Gebet im Spital geschehen muss oder ob der Ort dafür nicht in der Gemeinde der Gleichgesinnten liegt. Grundsätzlich ist das Gebet um Heilung nicht neu, auch nicht in der Schweiz. Es bemüht sich um eine direkte Umsetzung des Heilungsauftrages Jesu (Lk 9, 1-2), konkret und nah bei den Menschen. Auch stellt es eine mögliche Begabung des Heilens in den Dienst des Menschen. Doch erfolgte dieses Angebot bisher m.E. nur im eigenen „Kuchen“, sprich von Gemeindemitgliedern für Gemeindemitglieder. Neu wäre, wenn dieses Angebot für alle Patient*innen zugänglich ist und auch von jenen angenommen wird, die mit dieser Form bisher nicht so vertraut sind. Damit würde es bekenntnisoffen Grenzen überschreiten, wie es Jesus im Samaritergleichnis erzählt. Wie dies strukturell umgesetzt wird, also wie dieses Angebot für Patient*innen auch ohne aktiven kirchlichen Hintergrund interessant wird, das ist eine der Kernfragen, die es noch zu beantworten gilt.
für alle Patient*innen zugänglich
Unter diesen beiden Vorzeichen präsentiert sich der Freiwillige Gebetsdienst als ein mögliches Angebot im säkularisierten Umfeld und seiner Suche nach neuen Formen und Orten. Das Spital bildet hier einen sehr lebendigen Kontext[6] für die Frage nach Heil-Werden und Heilung. Dieser fordert auch die Beter*innen heraus. Es ist zu erwarten, dass dieser Kontext, wenn er ernst genommen wird, auch Einfluss auf das Gebet nimmt. Um sich im Spitalkontext zu bewähren, wird es von den Betenden Fingerspitzengefühl und Mut brauchen. Sie tragen das Gebet der Heilung in den säkularen Kontext. Das ist eine Chance, aber auch eine Herausforderung.
Erzählcafés neben dem Spital
Das zweite Angebot geht einen beinahe umgekehrten Weg. Für die Erzählcafés am Lebensanfang wurden Eltern eingeladen, sich nach dem Spitalaufenthalt in einem christkatholischen, spitalnahen und sehr einladenden Pfarreiheim mit Wiener Caféhauscharme zu treffen, um sich über ihre neue und herausfordernde Situation auszutauschen. Einmal ging es unter dem Motto „so viel Neues“, um die vielen Veränderungen, die mit genau dieser Geburt genau dieses Kindes begonnen haben. Das andere Mal bekamen die Erfahrungen eines frühen Kindsverlusts unter dem Thema „Nur kurz warst du da“ Raum.
Im Erzählcafé geht es explizit nicht um „cure“, also die Genesung, sondern um „healing“. Die narrative Ebene spielt dabei eine große Rolle. [7] Darin liegt die besondere Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen heutiger Zeit und einem christlichen Grundangebot: Die Bedeutung von Erzählungen und Geschichten. Schon in den biblischen Heilungserzählungen ist es bemerkenswert, dass es eben Erzählungen sind und damit jede Heilung ihre ganz eigene Geschichte hat.[8]
Nun ist das Erzählcafé an sich kein christliches Angebot oder religiös geprägt. Im Gegenteil, es nutzt die anthropologische Grunddimension der Narrativität menschlichen Lebens.[9] Eine große Chance des Erzählens ist, dass die Erzählerin Widerfahrnisse und Unverbundenes, Trauriges und Schönes irgendwie in einen ganz eigenen Zusammenhang bringt und so für sich strukturiert, nachvollziehbar macht und in eine sinnvolle Reihenfolge bringt.[10] Damit schreibt sie ihre eigene Lebensgeschichte.
Die eigene Lebensgeschichte schreiben.
Das „healing“ arbeitet daran, die Frage nach dem „Warum“ zurückzustellen. Darauf gibt es so oft keine Antwort und selbst wenn es sie gibt, ändert sich die Tatsache des Kaiserschnittes oder des Kindsverlustes nicht. „Healing“ heißt, dass diese Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte integriert wird, ihren Platz findet und ein Weiterleben mit dieser Narbe und dem Verlust möglich wird. Die Narration stellt dafür neben dem kausalen einen zeitlichen Zusammenhang zur Verfügung. Das heißt, auch wenn es auf die Frage des Warums keine Antwort gibt, so wird das Unfassbare – um es erzählbar zu machen – in eine sinnvolle, also nachvollziehbare Reihenfolge gebracht und mitgeteilt. Manchmal ist es vielleicht eher ein Stottern als ein Erzählen, aber auch das ist ein Anfang. Nicht zu unterschätzen ist darüber hinaus die gemeinschaftliche Komponente. Erst das Zuhören ermöglicht und trägt diesen Raum des Erzählens. Durch den größeren Kreis der Erzählenden werden außerdem neue Möglichkeiten angeregt. Ich mag hier das Bild von Hannah Arendt: Sie spricht davon, die ins Wort gebrachten Erfahrungen wie einen Faden in ein vorgewebtes Beziehungsgewebe, einzufädeln. So werden diese Geschichten erzählbar und es entstehen neue Muster.[11]
Dieses christliche Angebot ist ein Schritt in die Lebensrealität der Menschen, ohne die Absicht einer Verkündigung. Vielmehr ist es ein Angebot von mir als Fachfrau der Narration, weil das Erzählen für mich als Spitalseelsorgerin und Theologin sozusagen „mein täglich Brot“ ist. Ich glaube, die Gesellschaft braucht mehr solche Erzählräume, ohne dass sie christlich oder theologisch besetzt sein müssen. Diese Räume bergen eine Chance, die Selbstheilungskräfte der Menschen (im Sinne des „healings“) anzuregen.
Heilung ermöglichen
Und darum geht es. Beide Formen – Gebete und Erzählcafés – stellen sich in den Dienst der Menschen, um in einer heutigen Zeit Heilung zu ermöglichen.
Um ehrlich zu sein ist mir immer noch etwas schwindlig. Diese Überlegungen fordern mich sehr heraus und sind noch lange nicht fertig. Aber, sie sind zumindest ein Anfang, um in diesen stürmischen Zeiten mein Segel in den Wind zu stellen. Mal sehen, wohin dieser trägt.
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Text und Fotos: Dr. Kerstin Rödiger.
Sie ist seit 6 Jahren als Seelsorgerin am Universitätsspital Basel tätig. Um Lebensgeschichten und biblische Geschichten miteinander ins Gespräch zu bringen, reflektierte sie in ihrer Promotion Elisabeth Schüssler-Fiorenzas hermeneutischen Tanz, erzählte in Kinderkirchen biblische Geschichten und wurde Moderatorin für Bibliologe und Erzählcafés.
[1] Amanda Porterfield, Healing in the History of Christianity, Oxford 2005, 4.
[2] Vgl. Simon Peng-Keller, Klinikseelsorge als spezialisierte Spiritual Care. Der christliche Heilungsauftrag im Horizont globaler Gesundheit, Göttingen 2021, 83.
[3] Vgl. Simon Peng-Keller (Hg.), Gebet als Resonanz. Annäherungen im Horizont von Spiritual Care, Göttingen 2017, 151.
[4] Vgl. Peng-Keller, Klinikseelsorge, 155.
[5] Vgl, Peng-Keller, Gebet, 12.
[6] Ich zitiere meine Arbeitskollegin, die am 12.11.21 Folgendes erlebte und uns mitteilte: «Ich war mit einer Patientin in der Kapelle und habe mit ihr Krankenkommunion gefeiert, als während unseres Liedes vier Handwerker in den Raum kamen, ihre Gebetsteppiche ausrollten zum muslimischen Freitagsgebet. Wir zwei haben vorne das «Vater unser» gebetet und hinten wurde leise das muslimische Gebet gesprochen. So haben wir nebeneinander fast 10 Min gebetet. Es war sehr berührend und für mich ein heiliger Moment. Meine Patientin war sehr bewegt über diesen Moment und fand es wunderschön.»
[7] Vgl. Peng-Keller, Klinikseelsorge, 104f.
[8] «Die Heilungen, die in der Begegnung mit Jesus geschehen, sind eingebettet in ein Beziehungsgeschehen, das sich auf unvorhersehbare Weise entfaltet. » Ebd. 77f.
[9] Vgl. Michael Neumann, Die fünf Ströme des Erzählens, Göttingen 2013.
[10] Vgl. ebd. 52.
[11] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 174.
Zum Weiterlesen:
https://www.feinschwarz.net/es-war-einmal-und-ist-noch-immer-ueber-erzaehlcafes-und-die-kraft-des-erzaehlens/