Wie predige ich sensibel in Zeiten potentieller Traumata? Christine Lungershausen gibt Anregungen für die Predigt in und nach der Krise.
„Sie streift mit den Füßen durch den Sand, Meereswellen umspielen die Zehen, es ist warm … so wird es wieder sein. Irgendwann. So ist es schon jetzt, in ihrer Vorstellung. Wie in dem Lied… ‚Der Wolken, Luft und Winde gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.‘“
Oder: „Lange hat sie niemand umarmt, geherzt, berührt. Wie einsam es ist! Das Pflegeheim ist ihr so fremd. All die anderen Menschen: nah, ohne echten Kontakt. All das wegen eines Virus! Ihr kommt ein Lied in den Sinn: ‚Der Wolken, Luft…‘ … ach, das könnte helfen.“
Heilsam predigen in Zeiten potentieller Traumatisierung, auch wegen Corona und der folgenden Einschränkungen, wie geht das? Schmerz ausdrücken, Trost ausmalen, all das, ohne weitere Traumata zu erzeugen oder bestehende zu vertiefen? Mit dieser Frage habe ich geschaut, wie Traumatherapeut*innen arbeiten und was Theolog*innen dazu gedacht haben.[1]
Schmerz ausdrücken, Trost ausmalen, ohne Traumatisierung zu vertiefen
„Traumatisch“ finden wir umgangssprachlich, was von außen besonders schlimm aussieht. Fachlich bezeichnet Trauma nicht das Ereignis, sondern seine Wirkung: „Zum Trauma wird ein Ereignis, wenn es unsere Schutzhülle verletzt und uns mit einem Gefühl der Überwältigung und Hilflosigkeit zurücklässt.“[2] Traumatisierend wirkt, was das Nervensystem überfordert und zu dessen Bewältigung die Ressourcen nicht reichen. Die erlebte Bedrohung steckt weiter im Körper. Auch ohne konkreten Anlass von Gefahr lässt sie automatisch das Überlebenssystem anspringen.
Wie kann diese gespeicherte Überlebensenergie und Wahrnehmung von allem als Gefahr verändert werden? Traumatherapie, wie die körperorientierte von Peter A. Levine und Luise Reddemann, setzt da an.[3] In kleinen Portionen soll die Energie abgebaut werden, die zur Bewältigung der Bedrohung aufgebaut und im Körper steckengeblieben ist. Stabilisierende Ressourcen und Konfrontation mit reduzierten Reizen wechseln sich dafür ab. Die neuronale Struktur des Gehirns soll so wieder umgebaut werden vom Überlebensmodus zu einer Integration des Erlebten.
vom Überlebensmodus zu einer Integration des Erlebten
Soweit Therapie. Was davon hilft fürs Predigen? Schließlich sollte Predigt nicht den Anspruch haben, Traumatherapie zu leisten.
1. Predigt sollte mit Stärkendem beginnen.
Es wird in der Wirkung auf Menschen einen Unterschied machen, ob ich mit Leidvollem beginne, es durch intensive Beschreibung vertiefe und dann die rettende Gnade Gottes quasi als Lösung einspiele; oder ob ich Gottes Gegenwart wahrnehme, sie mit den Hörenden gemeinsam entdecke und derart gestärkt auf Belastendes schaue.
Das lässt sich formalhomiletisch als Impuls für den Predigtaufbau lesen: Zuerst das Stärkende! Grundsätzlicher ist das auch die Frage: Als wie bedroht deute ich predigend die Welt? Welche Antworten habe ich auf Fragen wie: Wie wirkt Gott in einer Welt mit gefährlichen Viren? Gott hegt und pflegt die Welt und zugleich gibt es Chaos, wie geht das zusammen?
Als wie bedroht deute ich predigend die Welt?
2. Hör auf, den Sturm zu beruhigen. Beruhige Dich… – die Tonlage in Predigten
Bernhard Pörksen beschreibt, dass wir gegenwärtig in einer „Infodemie“ lebten, gekennzeichnet durch Ereignisflut und Krisenkonzentration.[4] Nachrichtenwert hat, was aufregt. Für ein Nervensystem mit gebundenen Traumata wäre da m.E. entscheidend, dass die Predigt eine andere Tonlage hat. Ihm erscheint die Welt eh als gefährlicher Ort. Das ist keine bewusste Deutung, sondern unbewusste Reaktion auf eine ggf. ebenso unbewusste Überwältigungserfahrung. Darum wissend sollte die Predigt dieses Bedrohlichkeitsgefühl nicht in Stil und Grundhaltung verstärken.
Die alternative Richtung könnte in der Grundbotschaft liegen: „Höre auf, den Sturm zu beruhigen. Beruhige Dich. Der Sturm wird vorüberziehen.“ Solches Beruhigen ließe sich performativ in einem Erzählen gestalten. Einem erregten Nervensystem sind Argumente eh wenig zugänglich. Empfindungen sind, so Peter Levine, die einzige Sprache, die das Reptiliengehirn versteht.[5]
Empfindungen sind die einzige Sprache, die das Reptiliengehirn versteht.
Für die Predigt heißt das, weniger rational abzuwägen, was wie wann wo heil werden könnte, sondern kreativ auszumalen, wie Heil schmeckt und riecht: Wie fühlt es sich an, wenn Friede und Gerechtigkeit sich küssen, wenn Menschen friedlich beieinandersitzen und essen, wie ist das Wohnen als Gottes Hausgenossen …
3. Predigt kann Schmerzen ausdrücken und achten
Eine Dimension von Trauma ist, dass Schmerz ausgeredet wurde mit Botschaften wie „Stell Dich nicht so an…“. Eine Möglichkeit von Predigt wäre, die Unsagbarkeit des Schmerzes ernst zu nehmen und zugleich nach Neusagung, Ausdruck des Schmerzes suchen.[6] Dabei sollte im Blick bleiben, durch den Ausdruck nicht weiter zu traumatisieren.
Anerkennen des Schmerzes statt „Nun stell dich nicht so an!“
4. Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit, aus der Resilienzforschung bekannt, heißt: ein Mensch erlebt das eigene Tun als wirksam, im Unterschied zu der erfahrenen Überwältigung, bei der eigenes Tun zum Schutz nicht reichte.
Gibt es Selbstwirksamkeit in der Predigt? Predigthören ist ja eher rezeptiv bis passiv. Aktiver, selbst wirkender können Menschen sich erfahren in Klage, Bitte, Dank. Das zeigt sich in dem, wie Kirchenräume vermehrt genutzt werden als Ort für Gebete und Stille. Auch in erzählten Szenen ließe sich auf selbstwirksames Handeln fokussieren, von den gepflanzten Tomatenstauden bis zum Skype-Chat mit den Enkeln, in dem ein Ausweg aus Hilflosigkeit gefunden wird.
Ressourcen aufsuchen statt Aufregungs- und Krisenmodus
Aufgabe von Predigt ist nicht Therapie: es geht nicht um das je individuelle Erlittene und persönlich Heilsame. Es geht um gemeinsam gefundene und zu inszenierende Bilder von heilendem, friedlichem Leben. Anders als Therapie geschieht Predigt in einem Gemeinschaftsraum.
Dabei kann Predigt besonders unterscheiden, inwiefern sie gedanklich und sprachlich einer Aufregungs- und Krisenkultur folgt oder Ressourcen aufspürt, Heilsames vorstellt.
—
Christine Lungershausen wurde mit einer Arbeit über zeitgenössische Kirchenfenster promoviert und ist aktuell Vikarin in Biedenkopf, Hessen.
Bild: MustangJoe / pixabay
[1] Kristina Augst, Auf dem Weg zu einer traumagerechten Theologie. Religiöse Aspekte in der Traumatherapie, Elemente heilsamer religiöser Praxis, Stuttgart 2011; Andreas Stahl, Traumasensible Seelsorge. Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen, Stuttgart 2019. Im Herbst wird, auch für die Seelsorge, Maike Schults Habilitation erscheinen: Maike Schult, Ein Hauch von Ordnung. Traumaarbeit als Aufgabe der Seelsorge, Leipzig 2020. Sie situiert die Aufgabe der Predigt im Kontext von Traumata zwischen Unsagbarkeit und Neusagung des Schmerzes: Maike Schult, Die Silbe Schmerz. Vom Schmerz sprechen in Literatur und Predigt, in: Praktische Theologie (PrTh). Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur, 49. Jg. (2014), Heft 4, 227–232.
[2] https://www.somatic-experiencing.de/was-ist-somatic-experiencing/.
[3] Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Klett-Cotta, Stuttgart 2001.
[4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-und-die-nachrichten-vom-leben-mit-der-infodemie.1005.de.html?dram:article_id=473334.
[5] Peter A. Levine, Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerungen in Körper und Gehirn. Wie wir traumatische Erfahrungen verstehen und verarbeiten. München 2015, Kindle-Version 2011, Seite 150.
[6] Maike Schult, Die Silbe Schmerz. Von Schmerz sprechen in Literatur und Predigt, PrTh, 49. Jg. (2014), Heft 4, 227–232.