Nora Krug erhält in diesem Jahr den Evangelischen Buchpreis für ihre Graphic Novel, ein Bilderbuch voller hässlicher Bilder von Klarheit und Tiefe. Ein hervorragendes Buch, findet Christiane Thiel. Eine unbedingte Empfehlung.
Der Evangelische Literaturpreis wird seit 1979 jedes Jahr vom Dachverband der Evangelische Büchereien vergeben und ist mit 5000 Euro dotiert. Schon immer ist es ein Preis der Lesenden. Was bedeutet das?
Die meisten Literaturpreise in Deutschland und der Welt werden durch Verlagseinreichungen bestückt, das heißt, Verlagshäuser schicken die von ihnen favorisierten Titel einer Saison an eine Jury, die dann aus den eingesandten Werken ein Preisträgerbuch aussucht. Manche Preise kommen auch ohne das Prozedere aus und eine Jury entscheidet – nach welchen Kriterien auch immer – über entsprechende Titel. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum manche Autoren und Autorinnen, die einmal im renommierten Preiskarussell drin sind, einen Preis nach dem anderen abfassen und andere, die nie in diesen Zirkel kommen, immer wieder leer ausgehen.
Ein Preis der Lesenden
Der Evangelische Buchpreis hingegen wird durch eine Ausschreibung in den deutschen Evangelischen Büchereien getragen. Von Lesenden aus ungefähr 800 Büchereien können Vorschläge eingereicht werden. Jedes Jahr erreichen 120 Titelangaben aus unterschiedlichsten Genres die Jury. Zugelassen sind Kinderbücher, Jugendbücher, Lyrik, Sachbücher und Belletristik aller Art. Sie dürfen keine Übersetzung sein und müssen aus dem jeweils vor dem Preisjahr liegenden Jahr als Neuerscheinung auf dem Markt sein.
Die Tatsache des Lesendenpreises macht die Vorschlagsliste wild. Die vorgeschlagenen Titel reichen von den Historienschinken eines unter dem Pseudonym Iny Lorenz schreibenden Ehepaares bis zu den im Feuilleton hochgelobten Titel von Robert Seethaler oder Uwe Timm. Die Jury ist aus ehrenamtlichen Büchereifrauen, die in ihren Heimatgemeinden eine Bücherei leiten oder darin mitarbeiten, einem literaturaffinen Pfarrer (lange keine Pfarrerin) und der Geschäftsführerin des Verbandes zusammengesetzt. Auch diese Nähe zur lesenden Basis und ihre Freiheit von sonst häufig vorhandenen Loyalitäten, z.B. von Literaturredakteuren und -redakteurinnen der großen Tages- oder Wochenzeitungen zu ihren Blättern und deren Neigungen zu bestimmten Verlagen, sind ein Alleinstellungsmerkmal im Literaturgeschäft.
Die Liste der Preisbücher der letzten Jahre liest sich entsprechend divers. Manchmal schafft es eine Entscheidung bis in den Literaturteil einer der größeren Zeitungen, wenn die Auswahl auf ein ohnehin hoch gelobtes Werk gefallen ist (zuletzt 2013 bei Jenny Erpenbeck für „Aller Tage Abend“). Meistens nicht. Das ist bedauerlich, weil die Werke alle ausgezeichnet sind, nicht nur, weil sie ausgezeichnet werden, sondern weil sie ausgezeichnet sind.
Und dieses Jahr?
Geschichte am Beispiel des eigenen Lebens gerinnen lassen
Nora Krug lehrt Illustration an einer Hochschule in New York, geboren wurde sie in Karlsruhe. Die amerikanische Gesellschaft und deren Nachfragen nach ihrer deutschen Herkunft bringen sie nach mehr als zehn Jahren endlich dazu, nach Heimat zu fragen und ihrer Familie und dem Begriff auf den Grund zu gehen. Sie beginnt tastend, ruft sich die Kindheit neben dem Flugplatz eines amerikanischen Stützpunkts in Erinnerung, trägt Zeugnisse der westdeutschen Geschichte zusammen und lässt sie am Beispiel des eigenen Lebens gerinnen. Sie beobachtet, wie die „deutsche Schuld“ in ihrer Schule ein wesentliche Rolle gespielt hat, ohne auf die Familiengeschichten der Schüler und Schülerinnen acht zu geben, ohne nach der lokalen Geschichte während des Nationalsozialismus zu fragen. Jetzt geht sie auf Spurensuche, nicht nur, um Fragen zu finden und Antworten zu suchen, sondern um zu ergründen, was Heimat ist.
Die künstlerischen Mittel aus Illustration, Collage, Faksimile, Comicstrip, historischen Grafiken und handschriftlichen Texten aus wechselnden Schriften – das alles ist beeindruckend persönlich, subjektiv, verstörend erhellend und so unmittelbar, dass ich das Buch immer wieder aus den Händen legen musste, um Abstand herzustellen. Es lassen sich keine Verbrechen aufdecken, aber durchaus schuldhaftes Handeln, es kommen keine Katastrophen zum Vorschein, aber durchaus schwere Schicksale, es wird kein unheimliches Geheimnis gelüftet, aber Geheimnisse kommen durchaus ans Licht. Fotos, Sammelstücke aus Trödelläden, Wiederholung von Motiven, Strategien der Verschleierung, Grundformen der Angst, Liebe, Begehren, Aufschwung, Mord, Krieg. Deutsche Geschichte als Album.
Fotos, Sammelstücke, Bilder – deutsche Geschichte als Album
Hässliche Bilder? Ja. Nichts an diesem Buch ist gefällig, aber alles gekonnt. Nichts zufällig, alles genau erarbeitet, grafisch durchdacht, die Kompositionen klar.
Warum den Evangelischen Buchpreis?
Die Jury steht Jahr für Jahr vor der Herausforderung, ein Buch zu prämieren, dass uns anregt, „über uns selbst nachzudenken, unser Miteinander zu bedenken und über unser Leben mit Gott neu nachzudenken“. Das ist mehr als mensch leisten kann. Und trotzdem. Nora Krug hat mit der Kirche nichts am Hut. Zum Gottesdienst wird sie als Kind geschleppt, damit sie nicht ohne Glauben aufwächst, die Beichte ist ein Pflichtakt, ohne Sündenbewusstsein. Im weiteren Verlauf der Geschichte spielt Religion keine Rolle. Dass die Künstlerin selbst mit einem jüdischen Mann verheiratet ist, wird mit fast humorvollen Zitaten aus der Familie hier wie da ins rechte Licht gerückt. Als die Schwiegermutter dement ist, warnt sie die Familie immer vor Reisen nach Deutschland: „Traut ihnen (den Deutschen Anm.d.A.) nicht über den Weg“, sagt sie dann und kichert leise.“ (Das Buch hat keine Seitenzahlen, weswegen das korrekte Zitieren unmöglich ist). Warum also dieser Preis für dieses Buch?
Der Mut zum widerspenstigen Bild von Heimat
Es ist zuerst das Gesamtwerk, was mit künstlerischer Kraft und menschlicher Tiefe überzeugt. Es ist die Ehrlichkeit, die Schmucklosigkeit und die fehlende Eitelkeit der Annäherung an persönliche Geschichte im Horizont nationaler Geschichte. Und es ist der Mut zum widerspenstigen Bild, durch das die Würde des Menschen schimmert, die sich vor allem darin abbildet, nach Heimat in aller Vorsicht und Gebrochenheit zu fragen, die das Unvollständige billigt und das Zerbrochene erträgt. Es ist die geduldige Liebe, die aus diesem Buch spricht.
Nora Krug, Heimat. Ein deutsches Familienalbum, Penguin Verlag 2018. ISBN: 978-3-328-60005-3
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Christiane Thiel ist Hochschul- und Studierendenpfarrerin in Halle/Saale und Mitglied im Vorstand des Evangelischen Literaturportals, dem Träger des Evangelischen Buchpreises.
Bilder: penguin Verlag / Verlagsgruppe Random House GmbH