Was ist gute Theologie? Und was hat sie mit mystischer Erfahrung zu tun? Christian Bauer stellt diese Fragen anlässlich des heutigen sechzigsten Geburtstags des Innsbrucker Fundamentaltheologen Roman Siebenrock. Mögliche Antworten finden sich im Sehnsuchtsraum ignatianischer Spiritualität – und überraschenderweise auch beim Quantenphysiker Werner Heisenberg.
Es gibt Kolleginnen und Kollegen, deren Wortmeldungen man in der Sache fast immer nur zustimmen kann. Ein solcher Kollege ist Roman Siebenrock. In fast schon anarchischer Unabhängigkeit und von assoziativer Fülle, mit aufrechter Kirchlichkeit und in wacher Zeitgenossenschaft steht er für eine grundlegend konzilsinspirierte Theologie der multiplen Verfügbarkeiten, die viele Beteiligte nachhaltig zu begeistern vermag. Von John Henry Newman und Karl Rahner her kommend, in Tübingen promoviert und in Innsbruck habilitiert, ist der Tiroler Oberschwabe Siebenrock heute ein Aushängeschild nicht nur der dortigen Fakultät, sondern auch des ganzen systematisch-theologischen Diskurses im deutschen Sprachraum.
Die Erfahrung von heute ist die Tradition von morgen.
Roman Siebenrock verkörpert eine im besten Sinne ‚altliberale’ kontinentaleuropäische Theologie, die man im Gegensatz zur im angelsächsischen Raum gegenwärtig dominanten theologischen Bewegung Radical Orthodoxy eine Orthodox Radicality nennen könnte: eine radikale Zeitgenossenschaft mit der eigenen Gegenwart, welche die Erfahrungen einer neuen Zeit anschlussfähig macht an die bisherige Orthodoxie des christlichen Glaubens. Denn die Erfahrung von heute ist, so Roman Siebenrock immer wieder, ja die Tradition von morgen. Und die Tradition von heute ist die Erfahrung von gestern.
Mystische Erfahrung
Eine entsprechend gegenwartsfähige Theologie hat immer mit Erfahrungen zu tun – mit eigenen und mit fremden. Daher interessiert sie sich auch für mystische Redeweisen. Denn ein Mystiker ist, so die nicht ganz geschlechtergerechte, dafür aber genial einfache Definition Rahners, „einer, der etwas erfahren hat“. Und jede wirkliche Erfahrung ist „etwas, woraus man verändert hervorgeht“ (Michel Foucault). Derartige Erfahrungen bilden die Basis jeder guten Theologie. Im christlichen Glauben kommen sie als Gotteserfahrungen normalerweise in reichlich vermittelter Weise vor, denn in der Regel handelt es sich dabei um etwas, das katholischerseits Edward Schillebeeckx und evangelischerseits Eberhard Jüngel „Erfahrung mit Erfahrungen“ genannt hat – eine persönliche Erfahrung mit den Erfahrungen anderer, namentlich der ersten Jüngerinnen und Jünger. Eine lange Kette von ‚Erfahrungserfahrungen’ entsprechender Zeuginnen und Zeugen reicht vom Beginn des Christentums bis hinein ins 21. Jahrhundert.
Jesuitenmystik der frühen Neuzeit
In überraschend ähnlicher Weise hatte bereits 1663 Jean-Joseph Surin, ein jesuitischer Mystiker an der Schwelle zur Neuzeit, der auch ein maître spirituel des immer bekannter werdenden Jesuiten und Mystikforschers Michel de Certeaus war, im Vorwort zu seinem Buch Science expérimental (was man mit mystischer ‚Erfahrungswissenschaft’ übersetzen kann) geschrieben: „Auf zweierlei Wegen kann man zu Wissen von den Dingen des künftigen Lebens gelangen: durch den Glauben und durch die Erfahrung. Der Glaube ist der gewöhnliche Weg, den Gott […] eingerichtet hat, da die Dinge […] des künftigen Lebens uns nur vom Hörensagen und durch die Predigt der Apostel bekannt sind. Die Erfahrung hingegen ist nur für wenige Menschen bestimmt. Zu ihnen gehörten die Apostel Jesu Christi.“
Vermittelte, indirekte Gotteserfahrung
Der gewöhnliche Weg des Christlichen ist der einer vermittelten, indirekten Erfahrung („Glaube“) mit den mystischen Erfahrungen anderer. Der ignatianisch geprägte Mystiker Surin jedoch rechnete sich selbst zu der zweiten, außergewöhnlichen Gruppe von Menschen mit einer direkten Gotteserfahrung: „In allen Jahrhunderten schenkte Gott uns Menschen, die an dieser Erfahrung teilhatten. […] Auch wir können […] folgende Worte wagen: Was wir vom Stand der künftigen Weltzeit gesehen, gehört und mit unseren Händen berührt haben, das verkünden wir denen, die dieses Werk lesen möchten. Daher haben wir die Feder zur Hand genommen, um jene außergewöhnlichen Dinge zu erklären, die durch unsere Erfahrung gegangen sind.“ Papst Franziskus, zu dessen erklärten Lieblingsautoren auch der bereits genannte Michel de Certeau zählt, hegt eine große Sympathie für diese frühneuzeitliche Jesuitenmystik: „Ich stehe der mystischen Strömung von Louis Lallement (1578-1635) und Jean-Joseph Surin (1600-1665) nahe.“ (Gespräch mit Antonio Spadaro).
Ignatius am Cardoner
Eine außergewöhnliche Glaubenserfahrung hatte auch Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, gemacht. In einer existenziellen Krisensituation saß er im Jahr 1522 am Cardoner, einem Fluss in Katalonien, in der Nähe von Manresa. Was dann geschah, berichtet er in der dritten Person des unbeteiligten Beobachters: „In Andacht versunken, ging er so dahin und setzte sich eine kleine Weile nieder mit dem Blick auf den Fluss, der tief unten dahinfloss. Wie er nun so dasaß, begannen die Augen seines Verstandes sich ihm zu eröffnen. Nicht als ob er irgendeine Erscheinung gesehen hätte, sondern es wurde ihm das Verständnis und die Erkenntnis vieler Dinge über das geistliche Leben sowohl wie auch über die Wahrheiten des Glaubens und über das menschliche Wissen geschenkt. Dies war von einer so großen Erleuchtung begleitet, dass ihm alles in neuem Licht erschien. Und das, was er damals erkannte, lässt sich nicht in Einzelheiten darstellen, obgleich es deren sehr viele waren. Nur dass er eine große Klarheit in seinem Verstand empfing. Wenn er im ganzen Verlauf seines Lebens nach mehr als zweiundsechzig Jahren alles zusammennimmt, was er von Gott an Hilfen erhalten und was er jemals gewusst hat, und wenn er all dies in eines faßt, so hält er dies alles doch nicht für so viel, wie er bei jenem einmaligen Erlebnis empfangen hat. Dieses Ereignis war so nachdrücklich, dass sein Geist wie ganz erleuchtet blieb. Und es war ihm, als sei er ein anderer Mensch geworden und habe einen anderen Verstand erhalten, als er früher besaß.“ (Ignatius von Loyola).
Heisenberg auf Helgoland
Von diesem berühmten Flusserlebnis des Hl. Ignatius bei Manresa in die Gegenwart. Von einer ganz ähnlichen, quasimystischen Erfahrung erzählt auch Werner Heisenberg in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze – ein Literaturhinweis (mit Blick auf die Heisenbergsche Unschärferelation), den ich Roman Siebenrock verdanke und der mir mein ‚Buch des vergangenen Sommers’ bescherte. Ein Biograph berichtet von diesem Schlüsselmoment der jüngeren Wissenschaftsgeschichte, der sich im Juni 1925 auf Helgoland ereignete und alle Kennzeichen einer säkularen mystischen Erfahrung aufweist: „An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Uhr auf dem Tisch mit den merkwürdig beschriebenen Zetteln zeigte 3 Uhr in der Frühe. Draußen war tiefe Nacht, doch im Inneren von Werner Heisenberg leuchtete es hell und klar. Ihm war im Laufe des langen Abends ein Licht aufgegangen. Heisenberg konnte mit ihm mehr sehen als alle Menschen zuvor. Im Schein seiner ungewöhnlichen Ideen hatte sich dem jungen Mann ein bislang verborgen gebliebenes Bild von der Natur enthüllt, und ihre Wirklichkeit zeigte sich ihm in ihrer ganzen verlockenden Schönheit.“ (Ernst Peter Fischer).
Strukturen am Grund des Seins
Der junge Atomforscher Heisenberg weiß nun, welchen „Weg er zu gehen hat“ und wird zum „Wegbereiter einer neuen Sicht auf die Wirklichkeit“. Er selbst erinnert sich im autobiographischen Rückblick an jene Nacht von Helgoland, in der er am Grund des Seins die Fundamente der heutigen Quantenphysik entdeckte: „Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir schon fast schwindelig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.“
Noch einmal: Was ist gute Theologie?
Wer mit Heisenberg nach Helgoland geht, sieht sich mit Ignatius an den spanischen Fluss Cardoner versetzt. Man kann auf dem Weg dorthin, ignatianisch gesprochen, den Spuren der eigenen Sehnsucht folgen und Gott in allen Dingen suchen – und dann möglicherweise auch finden. Möglicherweise, denn jede echte Erfahrung Gottes ist ein Geschenk der Gnade. In ihren lichten Momenten kann auch die wissenschaftliche Theologie eine Form von ‚mystischer’ Erkenntnis bieten, wie sie Ignatius von Loyola oder Werner Heisenberg zuteil wurde. Es geht, verbunden mit einem gewissen Restrisiko, aber auch auf existenzieller Normaltemperatur. Dann sollte man sich zu Roman Siebenrock in den Hörsaal setzen.
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Christian Bauer, Innsbruck
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