In sechs Miniaturen denkt Rainer Bucher mit Rainer Maria Rilke über den Herbst nach. Eine Einladung.
I.
Der Herbst war mir immer, von klein auf, die unfassbarste Jahreszeit. Er faszinierte und verstörte. Seine Ambivalenzen haben mich gefesselt und begeistert, manchmal auch erschrocken. Schon sein Anfang war merkwürdig: Fast unmerklich hatte der Sommer immer begonnen, nicht mehr Sommer zu sein, war in die helle, heiße Klarheit der Badetage langsam die abendlichen Kühle gekrochen, hatte aber auch die Nachmittagssonne eine Fülle und Farbe gewonnen, die der Sommer noch nicht kannte.
Der Herbst schien alles aufzufächern: die Temperaturen, die Gefühle, auch den Kontrast von Muse und Arbeitspflicht. Letzteres ganz besonders: Nach dem Glück der Ferien spürte ich die Last des Leistenmüssens scharf. Der Herbst ist Nachsommer und er ist von diesem „Nach“ bestimmt wie wenige Jahreszeiten. Mir zumindest, katholisch-südlich gestimmt, schien der Sommer und scheint er bis heute, als die natürliche, die eigentlich normale Jahreszeit, so, wie es immer sein sollte, aber in unseren Breiten halt nur für ein paar Monate ist.
Der Herbst beginnt als Sommer im Abstieg und er ist daher erfüllt vom Hauch der decadence. Der Herbst, das ist die Erfahrung des Abstiegs von einem so schnell nicht mehr erreichten Plateau, eine Zeit der Differenzerfahrung, darin dem Frühling verwandt. Differenzen aber beeindrucken stärker als Kontinuität. Solche Zeiten schillern und flirren, verändern und wenn diese Veränderungen auch noch Rückzug signalisieren, dann berühren sie unmittelbar das Gemüt. Der herbstliche Nachsommer kennt Melancholie und Wärme, Geborgenheit und die Ahnung ihrer Gefährdung.
Differenzen aber beeindrucken stärker als Kontinuität.
„Herr der Sommer war sehr groß.“. Wer immer dieser Herr ist, an den Rilke sich in seinem berühmtesten Herbstgedicht wendet: Der Herbst fasziniert und erschreckt durch die Erfahrung: Wenn etwas endet, wird es manchmal am stärksten.
II.
In meiner Heimat gibt es mittlerweile wieder viele Laubwälder. In hügeliger, von Tälern und Jurafelsen kleinteilig durchzogener Landschaft entwerfen sie im Herbst ein Farbenpanorama, dessen Intensität einfach überwältigt. Der Herbst ist eine Zeit der Intensität: Die Düfte, die Sonne, der Wind: alles ist stärker, dichter. Im Herbst werden die Farben voller, heißt es.
Es ist bekanntlich eine Intensität des Späten, des beginnenden Verfalls. An die Stelle des Blattgrüns treten nach und nach gelbe und rote Farben: der Anfang vom Ende der Blätter. Wann herrscht im Leben Intensität? Was überhaupt ist Intensität des Lebens? Wann spüren wir sie? Wenn es zu Ende mit uns geht? Viele berichten davon. Auch vorher schon? Sicher, wenn Neues, Vielversprechendes beginnt, bei Erfolgen im Beruf, im Geschenk der Liebe und Ekstase, im Erleben großer Kunst und, natürlich, im Naturerleben. Und auch in den kleinen Dingen des Alltags, wenn man aufmerksam und offen genug für die Stunden und Minuten der wahren Empfindung ist.
Wann herrscht im Leben Intensität?
Was überhaupt ist Intensität des Lebens?
Es gibt schließlich aber auch in jedes Menschen Leben die Intensität der Trauer und des Tragischen, der hereinbrechenden Katastrophen und Ängste. Viele Menschen sehnen sich da nach der Normalität des Durchschnittlichen, des kleinen Glücks.
Der Herbst lässt spüren: Man kann den Intensitäten nicht entgehen, den schrecklichen nicht und auch nicht den herrlichen. Sie ereignen sich einfach und manchmal sind sie in eigenartiger Weise verschränkt.
„Jage die letzte Süße in den schweren Wein“ heißt es bei Rilke. Da stellt sich natürlich die Frage: Was in unserem Leben hatte diese „letzte Süße“?
III.
Das Wort Herbst hat sprachgeschichtlich denselben Ursprung wie das englische Wort harvest. Ihre gemeinsame indogermanische Wurzel meint „schneiden“. Ursprünglich bedeutete der Begriff Herbst also „Zeit des Schneidens“, „Zeit der Früchte“, „Erntezeit“. Das mit der Ernte ist hierzulande und für die allermeisten zu einer Metapher geworden. Wirklich ernten, draußen in der Natur und abhängig von ihr, entscheidend über Wohlstand oder Hunger, das tun wir hier in Europa nicht mehr. Selbst für die übrig gebliebenen Landwirte entscheiden eher Brüsseler Nachtsitzungen über den Ertrag ihrer Ernte, als die Ernte selbst.
Und doch besitzt wohl jeder eine Vorstellung davon, was Ernte ist: das Einbringen von Gewächsen und Früchten zu jenem Zeitpunkt, da sie reif sind, da sie das Maximum dessen erreicht haben, was man an ihnen schätzt und von ihnen will. Und für viele Früchte ist das eben der Herbst. Eine gute Ernte ist immer von zwei völlig konträren Faktoren abhängig: dem eigenen Fleiß und Geschick – und dass die Natur sie gibt. Das unterscheidet Ernte von Industrieprodukten oder Dienstleistungen. Die moderne Industrialisierung hat ziemlich erfolgreich und zugegeben zu unser aller Nutzen versucht, diesen unberechenbaren Anteil an Natur und Gabe gering oder wenigstens berechenbar zu halten.
Beim Blick auf die Ernte des eigenen Lebens ist es ratsam, dies nicht zu tun. Sondern gerade auf jene Früchte zu schauen, die im Zusammenspiel von eigenem Fleiß und Geschick mit der Gabe und dem Geschenk anderer entstanden sind. „Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gib ihnen noch zwei südlichere Tage,“ schreibt Rilke. „Südlichere Tage“, an denen die Früchte des Lebens voll werden, das sei uns allen gewünscht, und natürlich nicht nur zwei, sondern viel, viel mehr.
IV.
Rilke ist manchmal ein etwas melancholischer Realist. Und so fügt er in sein Gedicht die Zeilen ein: „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren / und auf den Fluren laß die Winde los.“ Im Herbst sind nicht nur die Farben voller, sondern die Winde tatsächlich los. Schließlich müssen die Blätter ja irgendwie von den Bäumen kommen.
Beim Blick auf die Ernte des eigenen Lebens ist es ratsam (…) gerade auf jene Früchte zu schauen, die im Zusammenspiel von eigenem Fleiß und Geschick mit der Gabe und dem Geschenk anderer entstanden sind.
Fast wie wenn die Natur Nietzsches harten Spruch aus dem Zarathustra realisieren würde: „Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten!“ Nietzsche hat das natürlich kulturgeschichtlich gemeint und die Winde sind ja tatsächlich losgebrochen, seit Nietzsche dies Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts geschrieben hat. Er kann übrigens am wenigsten etwas für das, was dann kam, er hat nur manches früher geahnt.
Die Stürme des Herbstes treiben ins Innen, ins Innen der wieder geheizten Räume, aber natürlich auch ins Innen der Reflexion. Sie sind beschleunigte Veränderung, wirbeln vieles durcheinander und signalisieren: Es muss nicht immer alles bleiben, wie es war. Es kann auch alles anders sein.
Mit einem Mal kommt alles in Bewegung, kommt überraschend und kaum vorhergesehen Dynamik ins Leben, kommt Sturm auf und wie im Sturm üblich, weiss man nicht genau, wohin er einen treibt, ob er einen voranbringt oder in den Untergang zieht. Und nicht immer stehen geheizte Räume bereit.
Die stürmischen Zeiten des Lebens aber sind mit die dichtesten und intensivsten – so man sie gut übersteht. Sie testen uns jenseits der Routine. Und bringen voran.
V.
Der Herbst, so sehr er oft noch nach Sommer schmeckt, er ist auch die Zeit vor dem Winter.
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“
So schaut bei Rilke aus, was nach dem Herbst kommt. Der Winter steht bei Rilke für die Unbehaustheit der menschlichen Existenz, er steht für des Menschen Heimatlosigkeit.
Religion, sagt der amerikanische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead, ist das, was der einzelne aus seinem eigenen Solitärsein macht. Sie ist Einsicht in das Einzig-Sein, in das Auf-Sich-Gestellt-Sein, in das Mit-Sich-zuletzt-Alleinsein des Menschen.
Diese Einsicht in die unüberwindbare Trennung von allem anderen, was ist, mit dem man aber zugleich auf spezifische Weise sich verbunden erfährt, erschreckt und fasziniert. Sie kann aber auch zur Basis werden, ein Verhältnis aufzubauen zu allem, was ist. Religion tut genau dies. Die metaphysische Heimatlosigkeit der Neuzeit ist also nicht wirklich neu. Sie gründet im Grund jeder Religion. Denn die Religion antwortet auf diese Heimatlosigkeit und erkennt sie dadurch an. Sobald man das entdeckt hat, kann man auch nicht mehr einfach in einer religiösen Heimat sein. Man ist immer zugleich drinnen und draußen.
VI.
Ich bin bald 60 Jahre alt. Da stehe ich im Herbst meines Lebens, und alle die vielen Aktivitäten, zu denen ich Gott sei Dank noch fähig bin, und all die aufmunternden anti-aging Ratschläge können darüber nicht hinwegtäuschen.
Mein Herbst ist mein Herbst und niemand kann ihn mir ausreden. Langsam fange ich an, ihn zu genießen. Den Nachsommer, die Intensität, die Ernte sowieso und selbst die Stürme einer Zeit, in der ich realisiere, dass ich jetzt kämpfen muss, wenn ich überhaupt noch einmal wirklich für etwas kämpfen will.
Und natürlich stellt sich dann die Aufgabe, auch den unaufhaltsam kommenden Winter zu akzeptieren.
Die Hoffnung wäre, mit Rilke sagen zu können:
„Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“
Bei einer alten Kärntner Volksdichterin las ich einige schöne Ratschläge, wie man dahin kommen kann: Gebet, Friedfertigkeit, Gewissenhaftigkeit, Verlässlichkeit, Egozentrikverbot, Dankbarkeit und eine gehörige Portion Humor.
Wenn ich nur ein paar dieser Ratschläge beherzigen kann, bin ich schon zufrieden mit mir. Über allem aber steht Rilkes Satz: „Herr, es ist Zeit“. Wofür ist jetzt die Zeit?
Vielleicht ist das ja die Botschaft des Herbstes: nie aufzuhören, darauf eine Antwort zu suchen.
(Rainer Bucher; Bild: Franziska Loretan-Saladin)
Die sechs Miniaturen zum Herbst entstanden als „Gedanken für den Tag“ und wurden auf OE 1 ausgestrahlt.