Eine Methode des Bibellesens wird neu entdeckt: „Lectio Divina“ zielt auf Herz und Erfahrung, ohne den Intellekt zu schonen. Ursula Silber gibt einen Werkstattbericht.
Seit vielen Jahren arbeite ich in der Erwachsenenbildung. [1] Oft und gern halte ich Bibelkurse oder Workshops zur Bibel. Manchmal fragen mich ganz normale Leute: „Kann man eigentlich auch die Bibel lesen, ohne vorher Theologie studiert zu haben?“ Natürlich kann und soll man das, schließlich wurde die Bibel ja auch für „ordinary readers“ (Musa Dube), für ganz normale Menschen geschrieben; sie will gelesen werden. Und wenn ich glaube, dass die Bibel ein Buch ist, in dem ich Gott hören und entdecken kann, dann muss sie erst recht ein offenes, ein geselliges (Kurt Marti), eben ein gesprächiges Buch sein, das eine Bewegung ermöglicht, in der Text und Leser_in sich treffen.
Wie wird die Bibel für mich zur
‚Heiligen’ Schrift?
Manchmal aber frage ich mich: „Kann man die Bibel auch lesen, wenn man vorher Theologie studiert hat?“ Da habe ich beim Lesen bestimmter Kapitel innerlich immer noch die exegetische Vorlesung im Ohr, die ich vor vielen Jahren gehört habe und über die ich geprüft wurde. Mein Hirn analysiert literarkritisch, kanonisch oder auch sozialgeschichtlich – aber erreicht das Wort mein Herz? Geht das – Bibel lesen mit Herz und Hirn, analytisch und betend, exegetisch verantwortet und spirituell? Ich glaube, nur wenn ich diese Frage mit „Ja!“ beantworten kann, werde ich der Bibel wirklich gerecht. Und nur so kann sie auch wirklich zur „heiligen“ Schrift werden, die Relevanz besitzt für mein Leben. Aber wie kann das gehen? Mit dem Lectio-Divina-Leseprojekt des Katholischen Bibelwerks hat sich für mich ein Weg eröffnet, wirklich „dem Wort auf der Spur“ [2] zu sein.
Mehr Grundhaltung als Methode: Lectio Divina
Im Grunde ist Lectio Divina nicht einfach eine neue Methode unter vielen anderen, sondern eine Grundausrichtung oder eine Grundhaltung, die Bibel zu lesen. Und zwar mit Herz und Hirn! Dazu hilft ein einfacher Ablauf in mehreren Schritten: Lesen (Lectio) – Nachdenken (Meditatio) – im Gebet antworten (Oratio) – Staunen und Verweilen (Contemplatio). Vier Schritte – das ist überschaubar und leicht einzuüben. Es geht darum, einfach die Bibel zu lesen, dem Wort unmittelbar und direkt zu begegnen, und auch mir selbst. Vor allem der erste Schritt, das „Lesen“, ist zentral; denn hier geht es mit Hilfe von gezielten Leitfragen darum, den Text erst einmal wahrzunehmen. Strukturen, Schlüsselwörter, intertextuelle Verbindungen lassen sich bereits mit einfachen Impulsen entdecken. Ganz ohne Kommentar, nur über eigene, aufmerksame Textwahrnehmung.
Den Text als Text aufmerksam wahrzunehmen, ist schon der Anfang,
um ihn zum Sprechen zu bringen.
Erst nachdem ich auf diese Weise in den Text eingetaucht bin, kommt im zweiten Schritt (dem Nachdenken) auch mein eigenes Leben mit ins Spiel: Was sagt der Text mir? Gibt es eine Resonanz in meinem eigenen Leben, vielleicht einen Trost oder auch einen Anstoß, mich in Bewegung zu setzen und etwas zu tun? Für die Antwort im Gebet gibt es viele Möglichkeiten, ob allein oder in der Gruppe: ausgesprochen oder ganz still, mit einem Lied oder mit bunten Stiften. Auch das Tun der Barmherzigkeit kann ja ein Gebet sein….
Bekannt seit Origenes
Dabei ist Lectio Divina nun wahrlich nichts Neues. Auf der Suche nach einer Lese-Art der Bibel, die sowohl spirituell als auch intellektuell verantwortet ist, nimmt sie mich mit auf eine Zeitreise. Denn auch für die Kirchenväter (und -mütter) stellte sich bereits die gleiche Frage. Ich befinde mich damit also in guter Gesellschaft! Hier – genauer gesagt beim Kirchenvater Origenes (in einem Brief aus dem Jahr 238 n.Chr.) – liegen die Wurzeln der Lectio Divina als einer Haltung, die das Lesen und Studieren der Bibel als Gebet, als Gespräch mit Gott versteht und einübt. Später war es in vielen Klöster gute Gewohnheit (und ist es bis heute!), täglich eine feste Zeit für die spirituelle Bibel-Lesung zu reservieren; und nicht umsonst war es ein Kartäuser namens Guigo, der im 12. Jahrhundert die oben bereits erwähnten Schritte dieses Gesprächs-Prozesses als Sprossen einer „Himmelsleiter“ formulierte.
Später war es gar nicht mehr vorgesehen, dass Laien selbst die Bibel lesen.
Noch später war es zumindest in der katholischen Welt nicht mehr vorgesehen, dass Laien selbstständig in der Bibel lesen und dabei gar mit Gott ins Gespräch kommen könnten. Das änderte sich erst wieder im 20. Jahrhundert. Und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert regen die Päpstliche Bibelkommission (1993) sowie die Bibelsynode (2008) an, doch den Weg einer Lectio Divina wieder stärker zu fördern und in der Bibelpastoral zu praktizieren. Aber ehrlich gesagt – klingt das nicht alles eher verstaubt und sehr amtskirchlich? Kirchenväter, Kartäuser und Kardinäle – sieht so die „Bibel für mich“ aus, die mich anspricht und die mit meinem Leben zu tun hat? Die sich von „ordinary readers“ entdecken und deuten lässt?
„Geistliche Schriftlesung“ – ein Projekt der Vormoderne?
Ja, Lectio Divina ist alt. Schon rein historisch ist sie eine vormoderne Art, die Bibel zu lesen. Als sie entstand, waren manche Voraussetzungen (noch) selbstverständlich, die es heute nicht mehr sind. Zum Beispiel die Annahme, dass die Schrift einen – gar mehrfachen – Sinn in sich trägt. Die Grundoption beim Lesen der Schrift war, mit Gott in Kontakt zu kommen. Das ist möglich – wirklich und ganz konkret, so waren die Mütter und Väter der Lectio Divina überzeugt, und zwar mittels der Schrift. Studium und Gebet, Gelehrsamkeit und Gottesnähe waren für sie noch unvermischt und ungetrennt. Mit ihren historischen Wurzeln, die bis in die Patristik zurückreichen, ist die Lectio Divina eben auch ökumenisch – ein Schatz, der allen Konfessionen gehört. Und in gewissem Sinne ist sie interkulturell, da sie Spätantike, Mittelalter und die Welt(en) des 20 und 21. Jahrhunderts verbindet. Dieses Potential könnte man auch heute nutzen, um in ganz unterschiedlichen Milieus und Kulturen gemeinsam oder individuell die Bibel zu lesen.
Die Schrift wächst mit den Lesenden
(Gregor von Nyssa)
Damit zeigt sich bereits: Lectio Divina ist anschlussfähig an moderne und postmoderne Fragen, Themen und Konzepte. Und eben auch für „ordinary readers“, die ohne Vorkenntnisse und manchmal auch ohne kirchlich-religiöse Sozialisation die Bibel lesen. Und die alte Weisheit „Die Schrift wächst mit den Lesenden“ (Gregor d. Große) kehrt im modernen Gewand der Rezeptionsästhetik wieder. Der Sinn der Schrift ist nicht einfach „da“, sondern er entsteht immer neu beim Lesen. Durch und in den Menschen, die lesen – und dabei ihre Vorerfahrungen, ihre Sehnsüchte und Träume, ihre Fragen und Zweifel und auch ihr Vorwissen mit in den Prozess einspeisen. Unbewusst – oder eben auch ganz bewusst – bringen wir als Lesende unsere Lebenserfahrung, unseren (Un)Glauben, unsere theologische Ausbildung oder eben anderes mit ein. Herz und Hirn eben.
Nicht an der Theologie vorbei…
Ganz bewusst bezieht daher das Lectio Divina-Leseprojekt des Bibelwerks den Stand der exegetischen Tradition und Wissenschaft mit ein und stellt sich damit in den Kontext einer (vielleicht spezifisch deutschsprachigen) bibeltheologischen Kultur. Exegese und Lectio Divina haben vor allem eines gemeinsam: Sie lesen den Text genau, achtsam und aufmerksam, mit viel Zeit und mit Blick fürs Detail. Beiden geht es darum, vor allem den Text der Schrift sprechen zu lassen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Letztlich geht es um ein verantwortetes, reflektiertes Lesen [3]. Genau darin liegt die große Chance der Methode, sei es beim individuellen Lesen oder beim Schriftgespräch in einer Gruppe.
Bibelgesprächskreise sind in den letzten Jahrzehnten ja auch nach dem Vorbild der Basisgemeinden und in Zusammenhang mit der Bewegung der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ entstanden. Ob in Brasilien, in Südafrika oder auf den Philippinen – das Herzstück dieser Gemeinschaften war und ist das gemeinsame, hörende und auf das eigene Leben bezogene Lesen der Bibel. Dabei waren und sind diese Bewegungen ursprünglich nicht, wie es hierzulande manchmal den Anschein hat, auf eine bestimmte Methode wie etwa das „Bibelteilen“ und die „7-Schritte-Methode“ festgelegt. Vielmehr ging und geht es ebenso wie bei Lectio Divina um das aufmerksame Lesen, um das Hören auf Gott, um die Antwort in Gebet und im Tun. Wichtig ist auch, dass dabei jeweils der Kontext der „Kirchlichkeit“ eine wichtige Rolle spielt.
Was meint ’Kirchlichkeit’ der Bibel? Das wird ganz neu erschlossen.
Auch das ganz private Bibellesen versteht sich immer eingebettet in die „ekklesia“ der Suchenden und Glaubenden, in die lebendige Tradition der Kirche(n) und in ihre gegenwärtigen Themen und Herausforderungen. Von daher erweist sich die Grundhaltung der Lectio Divina nicht als Konkurrenz oder Ablösung anderer Methoden und Modelle der Schriftpraxis, sondern als grundsätzlich kompatibel mit dem Geist und mit der Bewegung der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ – vielleicht allerdings mit dem an unseren Kontext angepassten „Mehrwert“ einer bewusst exegetischen Reflexion und Verantwortung dieser Lese-Projekte.
Kann Lectio Divina Kirche verändern?
Oft geht das Engagement in solchen kleinen Gemeinschaften und das gemeinsame Lesen der Schrift auch mit dem Wunsch nach Veränderung der Kirche einher. Hat das Bibelteilen die Kirche verändert? Kann Lectio Divina die Kirche verändern? Das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 bezeichnet die Bibel als „Seele der Pastoral“. Wenn dies mehr berücksichtigt werde, so könne man gewiss mit positiven praktischen Auswirkungen rechnen: „Das wird auch die beste Art sein, einigen pastoralen Problemen zu begegnen…“ [4]. Konkret haben in den letzten Jahren einige Bistümer begonnen, „Zukunftsprozesse“ mit biblischen Leseprojekten und „Lectio Divina“ zu verbinden, so zum Beispiel Essen [5], Osnabrück [6] und Paderborn. Andere Bistümer sind auf dem Sprung. Ein solches Bibel-Projekt kann allerdings keine „Entscheidungsoptimierungsmethode“ angesichts von Sach- und Sparzwängen in den Ordinariaten sein. Auch dürfen damit nicht einfach längst gefasste Beschlüsse zu Strukturanpassungen fromm verbrämt werden – dann wäre das Lesen der Schrift missverstanden und missbraucht!
Wirklich aufmerksam und beharrlich die Schrift zu lesen, das verändert Menschen und dann auch ihre Kirche.
Wenn Bibel die Kirche verändert, dann ist dies eher ein innerer und vielleicht indirekter Prozess, der aber nicht weniger wirksam ist. Wirklich aufmerksam und beharrlich die Schrift zu lesen, verändert Menschen und damit auch die Gemeinschaft, in der sie ihren Glauben miteinander leben. Es verändert Sichtweisen auf die Wirklichkeit, die innere Einstellung und vielleicht sogar Ziele und Zwecksetzungen. Weil es mit Gott in Kontakt bringt, der leisen Stimme Gottes Gehör verschafft und unumkehrbar Herz und Hirn verwandelt. Diese verändernde Kraft, von der die Bibel selbst schon weiß (z.B. Jes 55, 10f und Hebr 4,12), lässt sich allerdings weder kontrollieren noch instrumentalisieren. Sie entwickelt ihre eigene Dynamik. Mit und ohne Theologiestudium, in der Kirche und erstaunlicherweise auch außerhalb, bei ganz normalen Leserinnen und Lesern. Gott sei Dank!
[1] Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe „Lectio Divina“ des Katholischen Bibelwerks für ihre Anregungen und Ideen, die sie zu diesem Artikel beigesteuert haben.
[2] So lautet der Titel des Projekts. Seit 2010 gibt das Katholische Bibelwerk Begleitmaterialien heraus, mit denen jeweils ein Textzyklus (z.B. die Evangelien der Adventssonntage) gelesen und erschlossen werden kann. Weitere Informationen vgl. https://www.bibelwerk.de/Lectio+Divina.89122.html. Sowie für die Schweiz: http://www.bibelwerk.ch/d/m70506
[3] Vgl. Bettina Wellmann, „Lectio Divina und Exegese“ verfügbar unter: https://www.bibelwerk.de/Lectio+Divina.89122.html/Artikelserie.97325.html.
[4] VD 73, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. vom 30.09.2010.
[5] „Du bewegst Kirche“ – https://www.bibelwerk.de/shop/B%C3%BCcher.13948.html/Bibelarbeit.13969.html/Materialien+aus+dem+Verein.14006.html/Du+bewegst+Kirche.+Bibeltexte+zum+Zukunftsbild..113376.html
[6] „Damit sie zu Atem kommen“ Vgl. http://zu-atem-kommen.de/txt.3/txt.3.2/txt.3.8/index.html
Ursula Silber ist Bildungsreferentin im Tagungszentrum Schmerlenbach bei Aschaffenburg. Sie wirkt mit in der Arbeitsgruppe „Lectio Divina“ des Katholischen Bibelwerks Stuttgart e.V.
Foto: Tim Reckmann / pixelio.de