Ausgehend von dem dokumentarischen Theaterprojekt „Hier spricht die Polizei“ geht Wolfgang Beck den Ambivalenzen polizeilicher Arbeit und den mit ihr verbundenen Gewalterfahrungen nach. Er identifiziert in einem Gemenge aus Selbstüberhöhung, Erfahrungen von Überforderung und Vertrauensverlust schmerzliche Lernpotenziale.
Selten treffen Theater- und Kulturprojekte dermaßen ins Zentrum aktueller gesellschaftlicher Debatten, wie das bei dem Theaterprojekt „Hier spricht die Polizei…“ der Fall ist. Angesichts des tragischen und gerade im Vorfeld der Wahlen zum EU-Parlament vielfach debattierten Mordes an dem Mannheimer Polizisten Rouven L. entzünden sich an der Polizei als dem zentralen Organ der demokratischen Exekutive viele Fragen und hitzige Diskussionen.
Während in den zurückliegenden Jahren aufgrund einer Reihe von Skandalen im Polizeiapparat wie etwa den rechtsextremistischen und rassistischen Chatgruppen, den Pannen im Verlauf der Hanauer Terrorakte und der vielen Ermittlungsfehler im Erkennen der rechtsterroristischen Taten des „NSU“ die problematischen Strukturen innerhalb der Polizei und ihre offensichtlichen Professionalitätsdefizite diskutiert wurden, gelangen nun auch Überlastungen, Überforderungen gesellschaftliche Geringachtung und erhebliche Risiken des Berufs in den Blick.
Darf man das? Sich vollständig an die Seite einer gesellschaftlichen Gruppe stellen, ausschließlich ihre Vertreter:innen befragen und ihre Perspektive abbilden? Genau das tun die Verantwortlichen des Künstlerinnenkollektivs „werkgruppe2“, wenn sie etwa an den Protesten um den Braunkohletagebau in Lüzerath teilnehmen und die Geschehnisse dort aus der Perspektive der Polizei verfolgen.
Eine anspruchsvolle Gratwanderung
Es ist gerade diese radikale Einseitigkeit, die als „Monoperspektive“[1] gelobt wird und dabei ohne ergänzende Kommentierungen und Einordnungen dennoch die eklatanten Problemfelder sichtbar macht. Gerade der schwer erträgliche Verzicht auf die Perspektive von Opfern der vieldiskutierten Polizeigewalt und von Kritiker:innen bundesdeutscher Exekutive stellt eine erhebliche Provokation dar. Und sie bringt die Zuschauer:innen dazu, selbst die Aufgabe der Infragestellung der polizeilichen Perspektive zu übernehmen. Das macht das „dokumentarische Theaterprojekt“[2] zu einer anspruchsvollen Gratwanderung.
Theater am Puls der Zeit
Das Team des Theaterkollektivs „werkgruppe2“ rund um Silke Merzhäuser und Julia Roesler hat offensichtlich ein feines Sensorium, immer wieder drängende gesellschaftliche Fragen aufzugreifen. Ihre kultur-ethnografische Arbeitsweise besteht aus aufwändigen Gesprächen mit Menschen in gesellschaftlichen Bereichen jenseits der üblichen medialen Aufmerksamkeit, in diesem Fall mit Polizist:innen. Die gaben offenbar recht offenherzig Auskunft über ihre persönlichen Grenzerfahrungen, wenn sie bei Demonstrationen beschimpft werden, bei Protesten mit Exkrementen beworfen werden oder im Umgang mit häuslicher Gewalt und psychisch kranken Menschen Überforderungen erleben:
„Wir haben Stress und auch wir haben Angst.
Und gerade junge Kollegen, wenn die das erste Mal mit Molotowcocktails beworfen werden.
Das ist auch völlig okay, dass die Angst haben und das sage ich denen vorher auch,
ihr müsst handlungsfähig bleiben, aber ihr dürft Angst haben.“[3]
Gewalt – praktiziert und erlitten
Das Hadern mit der eigenen Berufswahl und die immer wieder vermisste Rückendeckung durch politische Verantwortungsträger:innen oder eine konsequent agierende Justiz haben manchmal etwas Anrührendes. Zugleich ist da immer wieder die Erfahrung von Gewalt – jene, die sie selbst anwenden, und die, der sie ausgesetzt sind:
„Das waren Platten, die von oben aus dem Fenster runtergeworfen wurden
und dann steht man da und da hilft auch der Helm nicht.
Und ja, das war blanker Hass.
Und das sieht auch ein bisschen aus wie Bürgerkrieg.
Und da hat man natürlich auch Angst um sein eigenes Leben
und was jetzt alles passieren kann.“
Das Theaterstück besteht aus Originalzitaten aus den Gesprächen mit den Beamt:innen und beschreibt Episoden aus ihren Schilderungen des Polizeialltags. Immer wieder gibt es dabei Passagen, die die Zuschauer:innen erschauern und die Hoffnung aufkommen lassen, all das möge doch übertrieben sein: der exzessive Alkoholkonsum in einer Arbeitsgruppe, die für Rauschgift-Delikte zuständig ist. Die überzeugten Statements gegen Rassismus und Diskriminierung, die im nächsten Moment durch die eigene Praxis ad absurdum geführt werden.[4] Exzessive Partys nach Dienstschluss, in der die Gewöhnlichkeit des Personals ungeschönt sichtbar und gängigen Überhöhungen der eigenen Rolle ad absurdum geführt werden, während zugleich immer wieder auf ein elitäres Selbstverständnis verwiesen wird. Die Mischung aus menschlicher Normalität und dem besonderen gesellschaftlichen Status erscheint immer wieder problematisch und spannt das Feld auf, in dem mit einer übersteigerten Vorstellung von interner Loyalität das Benennen und Bearbeiten von Missständen unterbunden wird.
Überforderung, ständig!
Das Theaterstück „Hier spricht die Polizei“, das nach seiner Premiere bei den Ruhrfestspielen 2024 in Recklinghausen ab dem 13. September im Schauspiel Hannover gezeigt wird, lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Säule des gesellschaftlichen Miteinanders in einem demokratischen Staat, die gerade aufgrund moralischer Übersteigerungen zum Problemfall geworden ist. Denn zu den bitteren Erfahrungen polizeilicher Überforderung bei der Loveparade-Katastrophe von Duisburg, in den prägenden Erfahrungen von erlittener und angewandter Gewalt in den Einsätzen um die Rote Flora in Hamburg oder die jährlichen Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin gesellen sich die vielen Skandale um rassistische Praktiken oder das polizeiliche Versagen um das Todesopfer Oury Jalloh in einer Polizeistation in Dessau.
Selbstüberhöhungen
Vielleicht ist die Arbeit von „werkgruppe2“ ein Auftakt für eine gesellschaftliche Bearbeitung des Problemfalls einer notwendigen Exekutive, die bislang offenbar ihr demokratisches Gleichgewicht nicht findet. Selbstüberhöhungen und Idealisierungen wie sie zum manifesten Selbstbild in weiten Teilen der Polizei gehören, lassen Außenstehenden ratlos den Atem stocken:
„Es ist ja so, dass wir immer alles richtig machen,
weil wir eben alles richtig machen müssen.”
Ein derartiges Überheben an der eigenen Bedeutung und Unangreifbarkeit verhindert selbst im Versuch ironischer Brechung jegliche Problemwahrnehmung; von einer überzeugenden Bearbeitung der Probleme ganz zu schweigen. Deshalb sind zaghafte Einsichten in die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit besonders schmerzlich. Wer sich ihnen stellt, erlebt Verunsicherung. Wer sie in den eigenen Reihen benennt und den Vorgesetzten Fehlverhalten meldet, gilt schnell als „Netzbeschmutzer:in“:
„Nestbeschmutzer, Kollegenschwein!
Es wird auch oft gesagt, was ich besonders kränkend und und ähm verletzend finde ähm,
dass man, dass Kollegen ja bei mir nicht wissen können ähm,
ob sie sich überhaupt auf mich verlassen können
oder ob ich ihnen dann nicht selbst noch hinten den Dolchstoß verpasse
oder sie da ungeschützt lasse.“
Der Einbindung in das Theaterprojekt von „werkgruppe2“ gelingt ein beeindruckender Spagat: Einfühlsam werden die Überforderungserfahrungen der Beamt:innen nachgezeichnet. Die Problemfelder der Polizei werden schon durch ihre eigenen Zitate sichtbar, ohne dass sie noch mit einer sonst schnell zu beobachtenden Attitüde des Oberlehrerhaften flankiert werden müssten. Und die musikalischen Unterbrechungen durch das Trio um Christian Decker, Dominik Decker und Uli Genenger als Bestandteil der Inszenierung ermöglichen ein Durchatmen, wo man sonst nur noch sprachlos den Kopf schütteln mag. Es mag als gesellschaftlicher Reifungsprozess erscheinen, wenn sich die Polizei kaum noch als „Freund und Helfer“ präsentiert und Simon Strauss in einem Beitrag der FAZ darin eine „infantilisierende Ausdrucksweise“[5] erkennt.
Was bleibt, ist eine umfassende Sprachlosigkeit, die sich auch angesichts des Ansehensverlustes in weiten Gesellschaftsteilen bis hin zu offener Missachtung einstellt:
„Neulich, ich war ich eingeladen.
Und dann auf einmal sagt dann da halt einer abends zu mir „Bullenfotze“,
einfach so, Alter. In dem Moment.
Ich bin dann einfach gegangen und habe halt wirklich geweint.“
Augen öffnen, nicht wegschauen.
Wer sich bei offenen Auskünften der Polizist:innen und den Einblicken in die Abgründe auch an die männerbündisch-klerikalen Loyalitäten als Verhinderungsstruktur von Gewalt in der römisch-katholischen Kirche oder an die Selbstüberschätzungen der evangelischen Kirche mit ihrem Wegschweigen der umfangreichen Missbrauchsphänomene durch elitäres Selbstverständnis erinnert fühlt: Parallelen sind wohl nicht zufällig. Inklusive der umfangreichen Zersetzung früheren Ansehens. Die Arbeiten von „werkgruppe2“ wirken angesichts der Versuchung wie ein Therapeutikum für alle, die vom Verschließen der Augen befallen sind.
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Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Foto: PTH Sankt Georgen
Titelfoto: Max Fleischmann / unsplash.com
Bilder im Textverlauf: Staatstheater Hannover / Kerstin Schomburg
[1] https://nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/nordrhein-westfalen/ruhrfestspiele-recklinghausen/hier-spricht-die-polizei-ruhrfestspiele-recklinghausen-werkgruppe2-mit-einem-dokumentartheaterstueck-ueber-polizeiarbeit#comment-109337 (entnommen: 15.11.2024)
[2] Menden, Alexander, Bloß nicht rumopfern, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2024.
[3] Zitate sind der Aufführung des Theaterstückes „Hier spricht die Polizei“ in Recklinghausen entnommen.
[4] Starzmann, Paul, Ein Sachse namens Sam. Diversität in der Polizei ist kein Schutzschild gegen Rassismus, in: Kleffner, Heike / Meisner, Matthias (Hg.), Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern, Freiburg i.B. 2023, 246-254.
[5] Strauss, Simon, Wer will diesen Job noch machen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.06.2023, 13.