Bischof Bätzing, allein im Stuhlkreis. Die deutschen Bischöfe beim Ad-limina-Besuch – angetreten zur Disziplinierung in Rom? Man kann das auch anders deuten, meint Saskia Wendel.
Die deutschen Bischöfe waren zum Ad Limina-Besuch in Rom, und das ist bekanntlich alles andere als eine fröhliche Pilgerfahrt einer Großgruppe von Menschen mit kirchlicher Leitungsfunktion zu den Schwellen der Apostelgräber. Vielmehr ruft die Zentrale alle fünf Jahre die Peripherie zu sich, und dies – so schien das jedenfalls bislang der Regelfall zu sein – eher weniger, um zu hören und Anregungen entgegen zu nehmen, sondern um zu regulieren und angesichts konkreter Probleme Weisungen zu erteilen. Aus diesem Grund sind die Erwartungen an solche römischen Visiten der Bischöfe in der Regel recht bescheiden.
Unsichtbare hierarchische Struktur
Im Rahmen der Berichterstattung über den Besuch gibt es ein Foto des Gesprächs der Bischöfe mit dem Papst. Die Bischöfe (und auch die DBK-Generalsekretärin) sitzen in einem riesigen Stuhlkreis (oder besser -quadrat) in einem ebenso riesigen Raum, vor Kopf sitzt der Papst an einem Tisch. In der Mitte des Quadrats, gegenüber des Papstes, jedoch in gebührender Distanz, steht an einem Mikrofon ein einzelner Bischof. Es ist Dr. Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Offensichtlich ist er gerade dabei, dem Papst etwas zu erläutern, während der episkopale Stuhlkreis schaut und lauscht. Es scheint so, als ob die gleichsam unsichtbare hierarchische Struktur der Kirche zu Bild und damit sichtbar geworden ist, offen zu Tage tritt, Raum und Gestalt geworden ist in einer Szenerie mitten in einem vatikanischen Saal.
Wie die Schuljungen im Stuhlkreis
Während ich das Foto betrachtete, beschlich mich zunächst eine Mischung aus Erstaunen und Empörung: Dass sich gestandene Bischöfe so etwas gefallen lassen – wie die Schuljungen im Stuhlkreis aufgereiht zu werden, eine Art bischöfliche Schulklasse, während einer der ihren vom päpstlichen Lehrer abgefragt wird. Auch ein anderer Vergleich tat sich auf: Der Papst sitzt zu Gericht über die deutsche Kirche und diejenigen, die sie leiten, und stellvertretend für die anderen muss wie ein Angeklagter vor Gericht der Vorsitzende der Bischofskonferenz aussagen. Das Ergebnis, so denkt man, steht dann schon fest: roma locuta, causa finita! Päpstlicher Urteilsspruch, so die Erwartung, ganz klar, wie allezeit und so auch jetzt in Ewigkeit: Beuge Dich der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt, Bischof Bätzing, und mit Dir die Mehrheit deiner Mitbrüder dieser ach so protestantisierten katholischen Kirche in Deutschland! Denn: Es gebe ja schon eine protestantische Kirche, daher brauche man keine zweite!
Vexierbild
Aber dann erinnerte ich mich an das berühmte Hase/Ente-Vexierbild: Je nach Perspektive, je nach Sprachgebrauch und Kontext ändert sich die Wahrnehmung dessen, was wir als „wirklich“ bezeichnen: Das so gewiss als „Hase“ identifizierte Bild könnte sich auch als „Ente“ entpuppen und umgekehrt. Auf unseren Schnappschuss von der römischen Pilgerreise bezogen heißt das: Mit anderer Perspektive betrachtet eröffnet sich ein ganz anderes Bild: Da steht einer stellvertretend nicht nur für seine Mitbrüder, sondern für die ganze katholische Kirche in Deutschland, dem päpstlichen Gegenüber aufrecht, offen und klar Rede und Antwort, offenbar mit der Tugend der Freimut (parrhesia) beschenkt. Da hat offensichtlich einer den Mut, frei nach Gal 2,11 dem Petrus ins Angesicht zu widerstehen. Und noch ein anderer Vergleich drängte sich auf: Da steht einer allein vor dem mit absoluter Macht ausgestatteten Souverän und kann nicht anders, als für seine Überzeugung einzustehen, mit der er ja überdies nicht allein ist, nicht in seiner eigenen Ortskirche, und auch, wie mittlerweile durch Befragungen entgegen mancher Behauptungen eines „deutschen Sonderfalls bzw. -wegs“ deutlich wurde, auch nicht in der Weltkirche.
Nicht die Zentrale spricht, sondern die Peripherie
Er trägt somit keine bloße Privatmeinung vor, sondern vertritt seiner bischöflichen Aufgabe gemäß einen sensus, den ein großer Teil der Gläubigen, zu deren Leitung er bestellt ist, besitzt und teilt. Selbstverständlich ist dieser Vergleich zum (wohl nie tatsächlich stattgefundenen) „Hier stehe ich, ich kann nicht anders…“ Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms etwas prekär, weil er ja den Verdacht befeuern könnte, dass die katholische Kirche in Deutschland schon auf dem Weg in die zweite Reformation sei, und möglicherweise ist Bischof Bätzing über diesen Vergleich alles andere als glücklich. Aber dennoch drängt sich die Analogie zur damaligen Szenerie auf. Bemerkenswert aber auch: Nicht nur der episkopale Stuhlkreis schaut und lauscht, sondern auch der kraft seines Amtes mit Infallibilität und Jurisdiktionsprimat ausgestattete Mann in Weiß. Rom spricht nicht im Augenblick des Fotos, und es beendet auch nichts. Nicht die Zentrale spricht, sondern die Peripherie.
Wenig eindeutig
Ebenso wenig eindeutig wie das Foto ist das Fernbleiben des Papstes am nächsten Tag beim Gespräch der Bischöfe mit drei Kurienkardinälen. Die einen werten es als Geringschätzung des Papstes gegenüber seinen deutschen Mitbrüdern im Bischofsamt und als verachtend der gesamten deutschen Kirche gegenüber. Die anderen dagegen werten es als klugen strategischen Schachzug eines gewitzten Jesuiten: Ich bleib mal weg, damit die in Ruhe und in Offenheit diskutieren können, anstatt sich ständig an der päpstlichen Autorität abzuarbeiten oder aus katholisch-habituell eingeschriebener Scheu, vor eben jener Autorität den Mund aufzutun. Egal, welche Deutung nun womöglich dem Ansinnen des Papstes nähersteht: Es entbrannte eine Diskussion zwischen römischen Kardinälen und deutschen Kardinälen und Bischöfen, die, so scheint es, ein Novum bei einem Ad Limina Besuch darstellte. Bischöfe ließen sich nicht durch römische Autoritäten beeindrucken, nahmen keineswegs folgsam römische Direktiven entgegen, um dann nach der Rückkehr ins Heimatland einmal mehr achselzuckend vor ihrem Gottesvolk zu stehen und zu sagen, dass leider nichts möglich sei, weil…
Moratoriumsvorschlag
Im Gegenteil verhinderte man den als Moratoriumsvorschlag getarnten Befehl zum Stopp des synodalen Weges. Entlarvend die offenkundige Furcht der Zentrale vor einem „Flächenbrand“ in den kirchlichen Peripherien, die Furcht davor, den einbetonierten status quo nicht mehr lange halten zu können, wenn das Volk Gottes seine durch die Kraft des Geistes geschenkte Souveränität nicht nur erkennt, sondern in Anspruch nimmt. Die einmal mehr als unverhandelbar definierten Themen und angeblichen „roten Linien“ nahm man von episkopaler Seite zur Kenntnis, um dann im gleichen Atemzug zu versichern, dass hierzulande Diskussion und Prozess weitergehen, ungeachtet autoritativ verkündeter „roter Linien“. Tapfer versichert man, dass man keine Entscheidungen treffe, die von universalkirchlicher Bedeutung seien.
Den Beton zum Sprengen bringen
Aber, so kann man das auch lesen, man arbeitet ebenso tapfer weiter im Zusammenwirken der Peripherien daran, dass universalkirchlich einmal Entscheidungen herbeigeführt werden, die den Beton zum Sprengen bringen, und man wird hier vor Ort ggf. Entscheidungen herbeiführen, die sehr kreativ mit den bestehenden Möglichkeiten unterhalb der universalkirchlichen Ebene umgehen, die Grenzen ausloten und dehnen – immer mehr, immer weiter. Das ist meines Erachtens neu, und es ist in seiner Bedeutung alles andere als gering zu schätzen. Neu ist auch, dass das Tabu der Einheit der Bischöfe gebrochen ist, plötzlich ist von Mehrheitspositionen die Rede und von denen, die in einer Minderheit sich befänden – was selbstverständlich noch nichts über tatsächliche Machtpositionen aussagt. Wo es aber um Mehrheiten und Minderheiten geht, befinden wir uns in einem demokratischen Verfahren, in Abstimmungsprozessen – also genau dort, wo sich die Bischöfe eigentlich seit jeher auch befanden und befinden, wenn man etwa an die Abstimmungspraxen auf Konzilien denkt, aber auch genau dort, wo manche finden, dass Kirche sich buchstäblich um Gottes Willen niemals befinden dürfe, könne man doch über Gottes Willen und die von ihm geoffenbarten Wahrheiten nicht abstimmen, seien doch einmal definierte Lehren ewig und unveränderlich.
Einüben des Paulinischen Widerstandes
Der Schnappschuss aus Rom sollte daher nicht in irgendeinem Pressearchiv verschwinden, er sollte vielmehr gleichsam zur Erinnerung wie Mahnung allen präsent bleiben, die in und für die Kirche und deren Erneuerung arbeiten. Man kann ihn selbstverständlich als Dokument des Üblichen lesen und dann ggf. vollends resignieren, man kann in ihm aber auch ein Zeichen aufkeimender Veränderung sehen. Auf jeden Fall sollte er dazu ermuntern, nicht mehr allzuviel Energie für Erlaubnisdiskurse zu verschwenden, die zu nichts führen, und nicht mehr darauf zu warten, dass die römische Zentrale irgendwann von selbst aus gleichsam heiterem Himmel von ihren selbst gesetzten Linien sich abkehrt bzw. Grenzzäune einzieht. Es gilt vielmehr, vor Ort und ganz konkret mutig und kreativ zugleich neue Wege zu gehen und enggezurrte Grenzen zu weiten, liegt doch, so hat das ja der Papst selbst einmal geschrieben, die Kraft und die Zukunft der Kirche an der Peripherie. Das Einüben des Paulinischen Widerstehens ins Angesicht – „hier stehe ich und kann nicht anders“ – wird hierzu unabdingbar sein, eingedenk eines zunächst wie die ewige Wiederkehr des Gleichen wirkenden Fotos aus einem vatikanischen Barocksaal, aufgenommen im Herbst 2022.
Saskia Wendel ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Bildquelle: © Deutsche Bischofskonferenz/Matthias Kopp