Spiritualität ist keine harmlose Sache. Was helfen und stärken soll, richtet manchmal den größten Schaden an. Klaus Mertes zeigt, wie und wozu geistliche Beziehungen missbraucht werden (können) und was dagegen zu tun ist.
Nicht jeder Missbrauch ist geistlicher Missbrauch, auch nicht jeder Missbrauch durch „geistliche Personen“, die sich als Träger eines religiös legitimierten Lehr- und Verkündigungsauftrages verstehen. Es gibt den zynischen, auf materielle oder sexuelle Eigeninteressen reduzierbaren Machtmissbrauch von Personen, die ein geistliches Amt innehaben. Geistlicher Missbrauch hingegen, wie ich den Begriff verstehen will, basiert auf einer tiefer liegenden Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes selbst, wobei ich drei mögliche Varianten der Verwechslung sehe: Erstens: Der Seelenführer verwechselt sich selbst mit der Stimme Gottes. Zweitens: Die Seele verwechselt den Seelenführer mit der Stimme Gottes. Drittens: Beide unterliegen zugleich derselben Verwechslung.
Ein biblisches Beispiel
Vielleicht lässt sich das, was ich damit meine, am Gegenbeispiel einer alttestamentlichen Geschichte verdeutlichen, der Berufung des Samuel (1 Kön 3,18). „Der junge Samuel versah seinen Dienst unter der Aufsicht Elis.“ (V1) Eines Nachts passiert es. Samuel schläft und hört eine Stimme, die ihn ruft: „Samuel, Samuel!“ (V10) Samuel meint, dass Eli ihn gerufen habe. Er unterliegt der Verwechslung der Stimme Gottes mit der Stimme seines Seelenführers. Deswegen läuft er zu Eli und sagt: „Hier bin ich, du hast mich gerufen.“ (V5) Eli hat ihn aber nicht gerufen. Deswegen schickt Eli Samuel zurück: „Geh wieder schlafen.“ (V5) Der Vorgang wiederholt sich noch zweimal. Als Samuel zum dritten Mal zu Eli kommt, merkt Eli etwas. „Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben gerufen hatte.“ (V8) Er gibt Samuel eine Anweisung: „Geh, leg sich wieder schlafen. Wenn er dich wieder ruft, dann antworte: Rede Herr, dein Diener hört.“ (V9)
Begreifen, dass man nicht selbst die Stimme Gottes ist
Wir haben es hier mit dem glücklichen Fall zu tun, dass es gelingt, die Verwechslung aufzulösen. Das setzt voraus, dass die angesprochene geistliche Person, in diesem Fall der Priester Eli, begreift, dass er selbst nicht die Stimme ist, die Samuel ruft. Vielmehr weist er Samuel auf die Verwechslung hin. Aber genau darin „führt“ er Samuel – er führt ihn zu sich selbst, in seine Herzenskammer, in der Gott ruft. Eli weiß nicht, was es ist oder sein könnte, wozu der Herr den Samuel ruft. Aber das wiederum weiß Eli, dass er es nicht weiß. Er spekuliert nicht, er misstraut auch nicht, er maßt sich nichts an. Er traut Samuel zu, dass die Stimme Gottes in ihm, Samuel, spricht und dass er sie hören kann.
Geistliche Begleitungen ermöglichen Glaubensentwicklung
Alle Religionen kennen Meister-Jünger-Beziehungen, die deswegen zustande kommen, weil auf der einen Seite ein Wunsch da ist, mehr von Gott zu erkennen, und auf der anderen Seite ein Angebot da ist, dabei behilflich zu sein. „Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger zu beten lehrte“ (Lk 11,1), bitten die Jünger. Zu allen Zeiten schlossen und schließen sich Menschen mit ihrer Frage und Sehnsucht nach Gott einem geistlichen Weg an; sie suchen nach einem „mehr“, einer vertieften Erfahrung von Transzendenz, nach einem Grund unter dem Seelenabgrund, nach dem „Selbst“ hinter dem „Ego“, nach der Quelle des Lebens, der Freude und der Liebe. Geistliche Übungen, kurz genannt: Exerzitien sind Angebote für Menschen, die von einer solchen Sehnsucht und Suche bewegt sind.
Nirgendwo tritt Macht mit größerem Anspruch auf, als wenn sie mit dem Göttlichen verbunden wird.
Geistliche Begleitungen sind also grundsätzlich etwas Positives. Geschieht in dieser Beziehung jedoch geistlicher Missbrauch, bedarf dieser neben der psychologischen Kritik auch einer theologischen Kritik. Wenn der geistliche Missbrauch vollständig in nicht-theologische Begrifflichkeit aufgelöst wird, ist die Theologie aus dem Schneider. Ich würde dann auch nicht mehr von „geistlichem“ Missbrauch sprechen. Es geht aber bei der Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch um die Frage nach Gott. Die Theologie ist da einschließlich des Lehramtes herausgefordert.
Zusätzlich impliziert der Begriff des „geistlichen Missbrauchs“ den Aspekt der Macht – es geht um Missbrauch geistlicher Macht. Ein Mensch lässt sich bei seiner spirituellen Suche auf einen anderen Menschen ein, einen Rabbi, einen Meister, einen Guru, um sich von ihm anleiten zu lassen. Er oder sie begibt sich damit in ein asymmetrisches Verhältnis. Ohne diese Asymmetrie könnte man nicht von Missbrauch sprechen, denn Missbrauch, ob sexueller, psychologischer oder eben geistlicher Missbrauch, ist Machtmissbrauch. Nirgendwo allerdings tritt Macht mit größerem Anspruch auf, als wenn sie mit der Sphäre des Göttlichen verbunden wird.
Die Aufgabe des Seelenführers
Dem Seelenführer kommt bei der geistlichen Begleitung nicht die Aufgabe zu, die Seele des anderen anzuführen, sondern sie dazu hinzuführen, dass sie selbst hören kann; sich selbst führen kann; oder, um es mit Ignatius zu sagen: um aus den vielen Bewegungen der Seele jene Bewegung heraus zu spüren, die von Gottes Geist herkommt. Die geistliche „Begleitung“ dient der Selbstwerdung der begleiteten Person im religiösen Verhältnis. Keine Person kann eine andere Person lehren, was Gott von ihr will. Sie kann sie nur lehren, zur eigenen Erkenntnis im religiösen Verhältnis zu kommen.
… dass man einer Sache schon am Anfang ansehen kann, wohin sie führt.
In den ignatianischen Regeln zur Unterscheidung der Geister steht lapidar, dass eine gute Sache „am Anfang, in der Mitte und am Ende ganz und gar gut und auf das Gute ausgerichtet“ sei[1]. Damit ist gemeint, dass man einer Sache schon am Anfang ansehen kann, wohin sie führt, und dass man von daher auch entscheiden kann, ob man sich überhaupt auf sie einlässt. Allerdings ist die Gesamtrichtung einer „guten Sache“ vom Anfang her schwerer zu erkennen als vom Ende her. Der Satan kleidet sich, um es mit Paulus zu sagen, als Lichtengel (2 Kor 11,14).
Was geistlicher Missbrauch anrichtet
Was geschehen kann, wenn diese Aufgabe nicht korrekt ausgeführt wird, möchte ich am Beispiel eines Aussteigers greifbar machen. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen Bericht aus meiner eigenen Kirche, der katholischen Kirche, da ich der Meinung bin, dass man sich dem Thema des Missbrauchs am angemessensten über den Modus der Selbstkritik nähert. Unterwerfung und Hörigkeit unter religiöse Autoritätsansprüche, Preisgabe der Intimsphäre, Vermischung von forum internum und forum externum, Lese- und Fortbildungsverbote, Kontrolle der privaten Post, Schulddruck, Verteufelung der Außenwelt, Kontaktverbote, Ausbeutung, Sklavenarbeit, sexuelle Ausbeutung insbesondere von Frauen/Nonnen – dies alles geschieht nicht nur außerhalb der Kirche in „Sekten“, sondern mitten in der Kirche, wie sich Aussteigerberichten aus den unterschiedlichsten kirchlichen Gruppen entnehmen lässt.
Ein System, das den ganzen Menschen mit Haut und Haaren verlangt
Ein Mensch, der in ein System eintritt, das den ganzen Menschen mit Haut und Haaren verlangt, verliert viel, wenn nicht alles, wenn er dieses System verlässt. Die Begleiterin eines Aussteigers berichtet: „Er hat enorme Angst vor der Zukunft, obwohl er früher ein guter Lehrer war und sofort wieder in den Beruf einsteigen könnte. Er kann keine Entscheidungen treffen, fragt nach jeder Kleinigkeit, ob er darf oder nicht darf. Er kommt nach eigenen Aussagen mit der Welt nicht mehr zurecht, hat Angst, auf die Straße zu gehen, obwohl er knapp über 30 Jahre alt ist und früher mobil und selbstständig war. Er leidet unter massiven Schlafstörungen und grübelt ständig darüber nach, was er verkehrt gemacht hat, möchte zurück in die Gruppe, obwohl er weiß, dass er dort nicht leben kann und sie deswegen verlassen hat. Trotz der ablehnenden Haltung seines früheren Oberen sucht er immer wieder den Kontakt zu ihm und leidet jedes Mal neu unter der Verweigerung von Kontakt.“ Und so weiter. Der Weg in die Freiheit dauert lange und ist steinig.
Struktur, Theologie und Autorität
Ich sehe mindestens drei System-Aspekte, die das Eintreten solcher Fälle begünstigen. Zum einen den strukturellen Aspekt: Strukturell verankerte Kritik-Verbote (das „Nächstenliebe“-Gelübde der Legionäre Christi untersagte zum Beispiel den Mitgliedern der Ordensgemeinschaft öffentliche Kritik an den eigenen Oberen, dies wurde inzwischen jedoch von Papst Benedikt XVI. aufgehoben); arkandisziplinarisch aufgebaute Konstitutionen (esoterisches Wissen wird geschützt, in das man erst nach dem Eintritt schrittweise eingeführt wird; die neu Eintretenden kaufen die „Katze im Sack“); Abwesenheit von Beratungs- und Wahlverfahren innerhalb der Gemeinschaft, Schweigen über reguläre Austrittsverfahren.
Zweitens der theologische Aspekt: Die Beanspruchung von exklusiven Gnaden, zu denen nur eine bestimmte Gemeinschaft Zugang verschafft; Selbstverständnis von „Kirche in der Kirche“; als elitärer, heilender Sauerteig in einer lauen und kranken Großkirche; theologisch anmaßendes Amtsverständnis; Reduktion des Gehorsamsverständnisses auf einen Akt der Unterwerfung unter eine Autorität.
Der dritte systemische Aspekt des geistlichen Missbrauchs ist die Blindheit der kirchlichen Autoritäten gegenüber den Symptomen des geistlichen Missbrauchs. Der Satan kleidet sich nicht nur in der Phase der Anwerbung neuer Mitglieder als Lichtengel, er präsentiert sich auch innerkirchlich auf der Kirchenbühne als Lichtengel. Er bedient ein nachvollziehbares Bedürfnis in der Hierarchie nach Loyalität, die sich sowohl in der kritiklosen Akzeptanz der kirchlichen Lehre als auch in der Feier schöner Liturgie oder in der Mehrung von Priester- und Ordensberufungen zeigt oder zeigen kann.
Wie Aufarbeitung gelingen kann
Geschieht geistlicher Missbrauch, muss jeder einzelne Fall aufgearbeitet und durchleuchtet werden. Die drei Säulen von Aufarbeitungsprozessen sind: Aufklärung, Sühne/Gerechtigkeit, Prävention. Die Reihenfolge ist wichtig: Die Aufarbeitung beginnt mit der Aufklärung. Sie ist in sich selbst bereits ein Teil der Gerechtigkeit, auf welche die Opfer einen Anspruch haben. Prävention muss auf die Erkenntnisse eingehen, die sich aus der Aufklärung ergeben, insbesondere was die strukturellen Aspekte betrifft, die nicht nur den Missbrauch im engeren Sinne, sondern auch die interne Betriebsblindheit für das Geschehen des Missbrauchs betreffen. Mit der Gerechtigkeitsfrage bleibt die Beziehungsdimension zu den Opfern im Blick. Das bewahrt Prävention zugleich davor, sich von den real existierenden Opfern im Namen potentieller Opfer abzuwenden.
Die geistliche Anmaßung muss theologisch dekonstruiert und zurückgewiesen werden.
Geistlicher Missbrauch hat unter den möglichen Formen von Missbrauch ein Alleinstellungsmerkmal, das die Theologie besonders herausfordert. Die geistliche Anmaßung muss theologisch dekonstruiert und zurückgewiesen werden – das ist die Aufgabe von kirchlicher Theologie und kirchlichem Lehramt.
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Klaus Mertes ist ein deutscher Jesuit, Gymnasiallehrer, Autor und Chefredakteur. Seit September 2011 ist er Direktor des Kollegs St. Blasien.
Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung einer Gastvorlesung an der Universität Tübingen im November 2016.
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[1] Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 333.