Daniela Feichtinger hört genau hin, wenn die Grunge-Band Alice in Chains ihre unfrohe Botschaft hinausschreit, und entdeckt eine Theologie, die Gottes schmerzhaft erlittene Abwesenheit zur Sprache bringt.
„Wohin soll ich mich wenden / wenn Gram und Schmerz mich drücken?“[1], fragt ein alter Klassiker der christlichen Gesangbücher. Das fromme Ich gibt sich die Antwort selbst: „Zu dir, zu dir!“, schmettert es Gott entgegen. Man hat es kommen sehen: Was soll das fromme Ich der Schubert-Messe denn sonst auf seine rhetorische Frage sagen.
Nicht jeder leidgeprüfte Mensch lässt Gott so ungeschoren davonkommen, wie das eingangs zitierte Lied. Heinrich Heine beispielsweise ringt in seinen letzten, qualvollen Jahren Löwenkämpfe mit dem lang verschmähten Gott. Die Reden von und mit ihm umschlingen einander in seinen Zeilen inniglich – aufmerksam lauscht und lernt die Theologie.[2] Doch auch die jüngere Vergangenheit hat hörenswerte Schmerzensmänner hervorgebracht.
Gott nicht ungeschoren davonkommen lassen
Alle Jahre wieder jährt sich der Todestag von Kurt Cobain, dem mittlerweile legendären Sänger von Nirvana, der am 5. April 1994 Selbstmord beging. Der Tag ist eine der wenigen Gelegenheiten, heute noch mit einem Gespenst in Berührung zu kommen, das ab Ende der 80er umging: dem Grunge.
Der unglamouröse Musikstil aus Seattle, Washington, macht seinem Namen „Dreck“ alle Ehre: Optisch besticht er durch schäbige Kleidung, musikalisch durch schroffe und harte Klänge, inhaltlich durch Selbstironie und Verzweiflung, die bis zum Nihilismus geht. Grunge war die Antwort auf die Musik der 80er, die nur so strotzte vor Haarspray, Makeup und überproduzierten Synthesizer-Klängen.
Die lärmende Verzweiflung ist je nach Temperament der Hörerin oder des Hörers kathartisch oder nicht auszuhalten, jedenfalls aber kein Marketinggag. Von den „großen Vier“ des Seattle Grunge – Nirvana, Alice in Chains, Soundgarden und Pearl Jam – lebt mittlerweile nur noch ein Leadsänger, nämlich Eddie Vedder. Kurt Cobain verließ die Bildfläche als Erster und brannte sich wohl auch deshalb am tiefsten in das kollektive Gedächtnis ein. Layne Stayley starb 2002 nach jahrelanger Isolation an seiner Heroinsucht. Chris Cornell nahm sich im Mai 2017 das Leben. Der Grunge fraß und frisst seine Kinder, könnte man meinen. Doch der Musikstil ist eher ein Symptom als die Ursache der tödlichen Probleme.
Spricht aus diesen Tracks nicht der klagende Hiob, der seine Geschwüre mit einer Scherbe kratzt?
Auf den ersten Blick kommt sein Programm wohl nicht nur einer Theologin recht gottlos vor: Dionysische Selbstinszenierung, drogeninduzierte Ekstase und zielstrebige Selbstzerstörung gehören zweifellos nicht zum christlichen Tugendkatalog. Aber gerade die Theologin – „Generation Y“ und mit der unfrohen Botschaft des Grunge großgeworden – bleibt immer wieder bei der schon erwähnten Verzweiflung hängen, die aus vielen Tracks spricht.
Sie hält beispielsweise inne bei Alice in Chains.[3] Mit Schreien beginnt deren Album Dirt („Them Bones“, 1992), und wird erst drei bombastische Nummern später, bei „Down in a Hole“, kurz ein wenig ruhiger. Spiegelt sich in diesem Lied, das vom Mutterschoß, dem tiefen Loch, dem eigenen Grab und der ungewissen Rettung spricht, nicht der klagende Hiob, der seine juckenden Geschwüre mit einer Scherbe kratzt?
„Ja, aber Hiob ohne Gott“, könnte der nächste Trugschluss lauten. Ein unvoreingenommener Blick auf das Oeuvre der Gruppe lehrt Besseres: Gott ist der Bezugspunkt einiger Lyrics. Freilich bewegen sich diese nicht auf dem literarischen Niveau, das aus Heines Matratzengruft an unser Ohr dringt. Alice in Chains sind nicht nobelpreisverdächtig, aber heiße Anwärter für die Rock’n’Roll Hall of Fame. In die wird Heine wiederum niemals eingehen.
Der Klassiker „Bleed the Freak“ (1990), mit dem die Gruppe bis heute oft ihre Konzerte eröffnet, beginnt mit einem Psalmenzitat (Ps 23,5) im altertümlichen Englisch der King James Bible. Im Refrain fordert das lyrische Ich auf, den eigenen Gott zu benennen und den Freak auszubluten. Fantasiert es hier von seiner eigenen Passion im Stil des leidenden Gottesknechts (Jes 52,13-53,12)? Doch da wendet sich der Blick: „Ich möchte sehen, wie ihr alle für mich blutet.“ Aus „Der Herr ist mein Hirt“ wird ein Fluch- und Klagepsalm.
Immer ist Gott der grinsende Gewinner. Er jätet die Kranken wie Unkraut.
In „God Am“ (1995) hebt das Ich zum Gespräch mit Gott an. Den Anfang macht diesmal kein Psalmenzitat, sondern die Frage eines hörbar berauschten Junkies: „Klar ist Gott allmächtig. Aber hat er auch Lippen?“
Vielleicht kann er ja gar nicht antworten, wenn das Ich wissen will, wie’s dem lieben Gott so geht. Dem Ich geht’s übrigens nicht gut, und es pfeift darauf, das noch länger zu verbergen. Es wirft Gott vor, nur Tod zu senden, anstatt einmal eine Runde Herzensreparaturen springen zu lassen. Wären vielleicht die Sünden vergeben, ließe man Gott ins Herz? Wohl eher nicht: „Mein Gott relaxt. Die Welt stirbt, und ich zahl’ immer noch Steuern“, lautet das zynische Fazit der ersten Strophe. Immer ist Gott der grinsende Gewinner. Wie viel blühendes Leben er auch nährt – nichts kann über die Kranken hinwegtäuschen, die er wie Unkraut jätet.
Im Refrain verschwimmen das Ich und sein Gegenüber, an das sich die Strophen richten, in einer grammatikalischen Unmöglichkeit: „Kann ich sein wie mein Gott bin?“ – Ist das pure Selbstvergottung? Ernstgenommene Gottebenbildlichkeit? Nonsens? Seine Wurzel hat das Wortspiel wohl in „goddamn“, „gottverdammt“, wie im Titel („God Am“) und der zweiten Refrainzeile noch hörbar ist: „Kann ich dermaßen gottverdammt sein?“ Ob sie denn so gottverdammt sein können, müssen sich später auch Gott und die Zuhörenden fragen lassen.
Dürfen nur die Frommen Gott beim Namen nennen?
Die Theologin wird nervös. „Warum hat denen niemand gesagt, dass ihr Gottesbild falsch ist?“, regt sich der uralte Irrtum der Freunde Hiobs.
Es ist eine Sache, jemanden darauf hinzuweisen, dass man über Gott mehr und anderes sagen kann. Eine andere Sache ist, den geschlagenen Hiob anzusehen und anzuerkennen, dass er Gott nicht als denjenigen erfährt, von dem die Traktate Güte und Liebe aussagen.
„Hiob war ein gerechter Mann. Diese Musiker sind doch keine frommen Leute!“, höre ich die Ersten einwenden. Dürfen nur die Frommen Gott beim Namen nennen? Sind nur jene von Belang, über die schuldlos Katastrophen kommen? Und woher wissen wir denn, dass Hiob keine Schuld trifft? Aus seinem eigenen Mund – und aus dem Prosarahmen des Buches (Ijob 1,1-2,13; 42,7-17).
Dieser unfassbare Prosarahmen! Seit jeher fasziniert mich, was die Erzählstimme alles weiß: Gott und Satan haben eine Wette laufen und stellen den gerechten Hiob auf die Probe. Wir wissen nichts dergleichen, wenn wir einen leidenden Menschen vor uns haben. Und so fehlt auch den Lyrics von Alice in Chains die erklärende Rahmenhandlung.
Keine schlüssige Argumentation? – Weder Leid noch Kunst sind den Gesetzen der Logik verpflichtet.
Biografien wie jene von David de Sola[4] rahmen die Lyrics mit einer profanen Erzählung. So kann man sich nach der Lektüre fragen, ob die Aufforderung, den eigenen Schöpfer zu verleugnen („Man in a Box“, 1990), nicht vielleicht doch eher dem irdischen als dem himmlischen Vater gilt. Doch waren diese beiden je völlig zu trennen?
Die Theologie von Alice in Chains ist krude und wirr. Es ist nicht der Anspruch der Gruppe, ihre Aussagen schlüssig zu argumentieren. Wer wird es ihnen vorwerfen? Weder Leid noch Kunst sind den Gesetzen der Logik verpflichtet.
Sind Lieder wie „God Am“ aber nicht gotteslästerlich? Im Mund der Gequälten wird die Gotteslästerung zur gangbaren Theologie: Was Hiob in Kapitel 3 sagt, spricht auch nicht von tiefer Wertschätzung für die göttliche Gabe des Lebens.
Im Grunge ist immer Karfreitag und nie Ostern. – Was Gott wohl davon hält?
Immer Karfreitag und nie Ostern. Eine gnadenlose Anklage.
Vielleicht würde er sagen: „Alice in Chains haben recht von mir gesprochen.“ (Vgl. Ijob 42,7) Wie bitter, falls dann niemand zugehört hat! Wo doch die Musiker aus Seattle so zuvorkommend waren, sich vertrauter Begriffe zu bedienen. Vieles bleibt schließlich ohne Widerhall, weil keiner die Sprache versteht und aus dem Dreck nichts Wesentliches erwartet wird.[5]
Gesangbücher wie jene, in denen sich die Schubert-Messe findet, werden vorrangig von und für Gemeinschaften geschrieben, die Ostern voraussetzen: „Gott“ kommt ihnen häufig und leicht über die Lippen, und seine schmerzhaft erlittene Abwesenheit spielt kaum eine Rolle. – Wo also wird die gnadenlose Anklage erschallen, wenn nicht außerhalb der Kirchenmauern?
Daniela Feichtinger promoviert im Fach Altes Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät Graz.
Von ihr bisher auf feinschwarz erschienen:
Photo: By Jeff White from Seattle, WA, USA (Jerry Cantrell & William Duvall) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons
[1] Schubert-Messe (1827), Text: Johann Philipp Neumann, Musik: Franz Schubert, Nr. 145 und 711,1 in: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die (Erz-)Diözesen Österreichs, herausgegeben von den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen, Stuttgart: Kath. Bibelwerk/Wien: Dom-Verlag 2013.
[2] Siehe Karl-Josef Kuschel: Der Kampf mit Gott. Heinrich Heine, Düsseldorf: Patmos 2009.
[3] Ich beschränke mich im Folgenden auf die ersten drei Alben Facelift (1990), Dirt (1992) und Alice in Chains (1995), die in der Besetzung aus Layne Staley, Jerry Cantrell, Sean Kinney und Mike Starr bzw. Mike Inez bei Columbia Records erschienen sind.
[4] David de Sola: Alice in Chains. The Untold Story, New York: St. Martin’s Press 2015.
[5] Für einen Zugang zu der in dieser Hinsicht weniger zuvorkommenden Band Nirvana siehe Steven Félix-Jäger: With God on Our Side. Towards a Transformational Theology of Rock and Roll, Eugene: Wipf & Stock 2017, 133-152.