Was war so faszinierend am Nationalsozialismus, dass er lange die Mehrheit der Deutschen für sich gewann? Auf welche Sehnsüchte reagierte er? Und: Ist es mit diesen Sehnsüchten wirklich vorbei? Von Rainer Bucher.
„Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“
Dietrich Bonhoeffer
Der Nationalsozialismus war etwas wirklich Neues: eine für viele faszinierende Verbindung von technischer Modernisierung, nationalem Gemeinschafts- und sozialem Gleichheitsversprechen, voller ästhetischer Faszinationsangebote und individueller Heroismusanmutung.
In ihm schien wieder verbunden, was spätestens in der forcierten Modernisierung der Weimarer Republik, wie viele meinten, auseinander gedriftet war: Individualität und Kollektiv, Modernität und Traditionsanschluss, Freiheit, etwa gegenüber dem altbackenen Christentum, und Gebundenheit ans große Alte.
Der Nationalsozialismus versprach eine Idylle.
Dass solch ein Projekt in einer differenzierten Gesellschaft nur mit massiven Gewalt- und Ausschlussmechanismen funktioniert, war von Anfang an klar und wurde vom Regime auch nie versteckt. Die offene Gewaltbereitschaft all jenen gegenüber, die nicht mitmachen wollten, war spätestens seit dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 und den ihm folgenden Verhaftungswellen offenkundig.
Die Ermordung inner- und außerparteilicher Machtkonkurrenten Ende Juni/Anfang Juli 1934 und die früh einsetzende Diskriminierung der jüdischen Deutschen zeigte sehr schnell: Wer nach Hitlers Meinung nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörte oder nicht dazugehören wollte, der wurde zuerst hinaus- und bald schon in die Vernichtung geschickt. Freilich: Lange wollten sehr viele in Deutschland, und nicht nur dort, dazugehören.
Hitler lehnte, wie die Linke und anders als die Rechte, die reaktionäre Restauration vorrevolutionärer Zustände, seien dies nun jene vor 1919 oder gar vor 1789, ab und glaubte an die Unumkehrbarkeit, ja Wünschbarkeit der jeweiligen Revolutionen. Hitler suchte eine neue, nicht-restaurative, aber eben doch anti-pluralistische gesellschaftliche Integrationsbasis. Er wollte mehr als bloß die konservative Restauration vormoderner Ordnungsstrukturen. Anders als die Linke aber suchte er diese Integrationsbasis nicht auf marxistischer „Klassenbasis“, sondern auf der Basis eines noch fiktiveren Konstrukts: der „arischen Rasse“.
Die faszinationsgeleitete Einführung neuer Technologien, das Programm einer auf wissenschaftlicher und technischer Dauerinnovation beruhenden Industriegesellschaft, zentrale anti-konservative Ideen wie jene der Chancengleichheit, der Erhöhung vertikaler und horizontaler sozialer Mobilität bis hin zu egalitären Tendenzen etwa im Bildungssystem: Mit all dem wurde Hitler anschlussfähig an die Weimarer Republik, beerbte er vor allem die Glücksversprechungen der Moderne, einschließlich des Versprechens von deren technologischer Produzierbarkeit und sozialer Zugänglichkeit für alle.
Die Basis von all dem freilich und heißer Kern des Hitlerschen Politikprojekts war ein scharfer rassistischer Anti-Universalismus.
Hitlers Projekt läuft auf eine nach innen „harmonisch“ geeinte, nach außen kriegerisch-heroische, rassisch definierte Volksgemeinschaft hinaus.
Für sie brauchte er den „Raum im Osten“, aus ihr müssen Angehörige „minderwertiger Rassen“, „Minderwertige“ der eigenen „Rasse“ und vor allem die Juden entfernt werden, aber natürlich auch jene, die sich diesem Projekt entgegenstellen.
Diese deutsche oder arische Volksgemeinschaft ist, so meint Hitler, auf Grund ihrer rassischen Überlegenheit, die sich nicht zuletzt in ihrer kulturellen Überlegenheit zeige, zu nichts weniger denn zur Weltherrschaft berufen. Grundiert und vielleicht auch motiviert ist dies alles bei Hitler, dem verhinderten Kunstmaler, mit einem kulturell-ästhetischen Anti-Modernismus, der die Künste, vor allem die Bildende Kunst, aber auch die Musik auf den Geschmack der (damaligen) unteren Mittelschichten hin reduziert und trivialisiert.
Hitler hätte durchaus auch siegen können. England stand im Mai 1940 kurz davor, mit Hitler Friedensverhandlungen aufzunehmen. Alle Waffentechniken, die seither Weltmächte schufen, Atombomben und Interkontinentalraketen, Radar und Düsenjäger, Computer und elektronische Kommunikation, lagen grundsätzlich auch in Hitlers Reichweite.
Hitlers „Erlösungspolitik“ (Ian Kershaw) war und bleibt gefährlich faszinierend.
Der Kern dieser Politik ist das Projekt der Reinigung, der „Säuberung“ von den anderen und der Zumutung, die sie darstellen. Es ist eine „eliminatorische Erlösung“, die dieses Projekt verspricht, eine Erlösung auf Kosten der Existenz anderer. Es ist dies die Erlösung von den Leiden dieser Welt, indem alles und alle beseitigt werden, die für dieses mein Leiden angeblich verantwortlich sind. Diese „Erlösung“ hat einen großen Vorteil: Sie ist politisch herstellbar, so verspricht sie zumindest.
Innerhalb dieses Projekts hatte Hitlers Gottesdiskurs die Funktion, Sehnsüchte in Aufträge umzuformatieren. Da diese Sehnsüchte auch unabhängig von der Theologie Hitlers existierten und politisch genutzt werden konnten, war es nicht notwendig, diese Theologie innerhalb des Nationalsozialismus wirklich verbindlich zu machen.
Für Hitler selbst freilich war diese Umformatierung höchst relevant, bei anderen mochten andere Mechanismen wirksam werden. Wichtig war, spezifische Sehnsüchte zu teilen und sie mit jenen Strategien und Mitteln befriedigen zu wollen, die der Nationalsozialismus anbot. Diese Sehnsüchte entwickelten, wie alle tiefen Sehnsüchte, eine ungeheure Kraft. An sich sind diese Sehnsüchte ambivalent; die Antworten Hitlers auf sie aber erwiesen sich allesamt als fatalste Versuchungen.
Betrachtet man den Nationalsozialismus als das Projekt, das Ideal einer kulturell nicht irritierten weil homogenen „Volksgemeinschaft“ als Antwort auf die Kränkung der Niederlage von 1918 und den Irritationen durch die kulturelle Modernisierung in der Weimarer Republik politisch umzusetzen, einer „Volksgemeinschaft“, in der eine heroische Herrenrasse das Ideal des Kampfes zelebriert und sich dabei von einer ebenso religiösen wie „wissenschaftlichen“ Weltanschauung getragen weiß, dann lässt sich rekonstruieren, welche Sehnsüchte er hervorrief und zugleich bediente: die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die Sehnsucht nach Kränkungslinderung, die Sehnsucht nach dem „heroischen“ Leben und die Sehnsucht nach einem religiösen Monismus jenseits der modernen Wissens–Glauben-Spaltung und jenseits übrigens auch der konfessionellen Trennung. All dies aber kommt in einem überein: in der Sehnsucht nach kollektiver Selbsterlösung.
Versuchungen sind haltlose Versprechen, Versprechen, die zwar gegeben, aber nie gehalten werden können. Versuchungen spielen mit Sehnsüchten und beziehen von daher ihre politische Kraft und ihre persönliche Faszination.
Die monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus verdecken jene Elemente an ihm, die bleibende Anziehung entwickeln können.
Diese spielen mit Sehnsüchten und Hoffnungen, die nicht einfach mit dem Nationalsozialismus untergegangen sind. Der Rückblick auf Hitlers Theologie macht sichtbar, welche Antworten auf welche Sehnsüchte offenbar wirkliche Versuchungen sind.
Was bedeutet das für heute? Hitler teilte, wie viele damals, die Sehnsucht nach Erlösung, nach einer Erlösung nicht durch den Gott der Gnade und der Barmherzigkeit, sondern durch eigene Kraft und Anstrengung. In Hitlers Theologie bedeutete das, sich als wirkliches Mitglied des Herrenvolkes zu erweisen. Denn das war der Imperativ dieses Gottes: Das deutsche Volk sollte sich der von ihm mit der „Schöpfung“ gegebenen „Erwählung“ würdig zeigen.
Selbsterlösung statt Gnade.
Der Gott Hitlers erlöste aber nur jene, die sich seiner als „würdig“ erwiesen. Das aber ist das Dogma der Selbsterlösung: Man muss würdig sein der Erlösung. Die Gläubigen dieses Gottes brauchen und kennen daher auch keine Gnade. Ihr Gott ist nicht der Spender der Erlösung, sondern der Garant der Gnadenlosigkeit. Sich selbst erlösen zu wollen aber ist gnadenlos. Was bedeutet das für heute?
Politisch bedeutet das die Option für die Freiheitsrechte des Einzelnen statt der Erlösungsvision einer bergenden Gemeinschaft, die Option für die Identifikation mit den leidenden Menschen statt mit politischen Gebilden, die Ausrichtung eines Gemeinwesens auf die Alltäglichkeit des Lebens der Menschen statt auf heroische Existenzentwürfe.
Theologisch bedeutet es, jeden Totalitarismus zu überwinden, der Gott zur alles erklärenden, alles bestimmenden gnadenlosen Singularität macht statt zum gnädigen Erlöser aller, und es bedeutet auch, jene Haltung zu überwinden, die meint, wir könnten uns selbst erlösen und bräuchten Gottes Gnade nicht. Es bedeutet, der Freiheit zu vertrauen und Gott praktisch im Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit zu dienen.
Individuell und geistlich formuliert aber bedeutet es: notfalls einsam sein zu können, ohne zu verzweifeln, Kränkungen zu erleiden, ohne Rache zu üben, die Alltäglichkeit des eigenen Lebens auszuhalten, ohne sich in Heroismus zu flüchten, sich selbst nicht erlösen zu wollen, sondern auf einen Gott zu vertrauen, den wir nicht in der Hand haben und der uns unbekannt, ja fremd bleibt und dessen Zentrum die Hingabe an jene ist, die seiner Gnade am meisten bedürfen.
Literaturhinweis: Rainer Bucher, Hitlers Theologie, Würzburg 2008