Gibt es spezifische Faktoren, die den Missbrauch geistlicher Autorität in der Hochschulpastoral begünstigen? Sr. Marie-Pasquale Reuver geht dieser Frage nach und identifiziert dabei spezifische Gefahrenstellen.
Machtmissbrauch, spiritueller Missbrauch, gefährlicher Glaube auf der einen Seite und Hochschulpastoral auf der anderen wirken im ersten Moment möglicherweise wie zwei Gegensätze: Hochschulgemeinden gelten als Orte aufgeklärten Glaubens und sind demokratischer ausgerichtet als es in vielen anderen kirchlichen Settings der Fall ist. Sind Hochschulgemeinden also vor geistlichem Missbrauch gefeit? Die klare Antwort muss (leider?) Nein lauten. In Hochschulgemeinden treffen die Seelsorgenden auf zum Teil sehr vulnerable Menschen. Zugleich finden sich im Nahfeld von Universitäten unterschiedliche Gruppierungen mit bedenklichen und zum Teil missbräuchlichen Strukturen wie krankmachenden Glaubensvorstellungen. Einige Bischöfe scheinen in letzter Zeit besonders auf neue geistliche Gemeinschaften an Hochschulstandorten zu setzen, die meist strukturell ein hohes Gefährdungspotential für geistlichen Missbrauch in sich tragen mit dem unterschiedlich bewusst umgegangen wird. So war es den hauptamtlichen Hochschulseelsorger:innen Deutschlands ein Anliegen, sich auf ihrer jährlichen Herbsttagung des Bundesverbands Katholische Kirche an Hochschulen mit dem Thema zu beschäftigen[1]: Was sind besondere Gefährdungsräume? Welche konkreten Erfahrungen gibt es mit geistlichem (Macht)Missbrauch? Welche Verantwortung hat die Hochschulpastoral und welche Chancen bietet sie?
Gefährdungspotentiale in Hochschulgemeinden
Auf den ersten Blick zeichnen sich Hochschulgemeinden durch niedrigere Hierarchien, besonders aufmerksam ausgewähltes Personal und eine Klientel aus, die es gewohnt ist, wissenschaftlich zu denken. Alles Faktoren, die in der Regel keinen guten Nährboden für geistlichen Missbrauch bereiten. Jedoch sind viele Studierende in einer sehr vulnerablen Lebensphase: Ablösung von zuhause und Suche nach der eigenen Form der Lebensgestaltung, Zukunftsangst und Leistungsdruck, Einsamkeit an einem neuen, unbekannten Ort und Ängste den Studienalltag (finanziell) nicht zu meistern. Eine Situation, die ansprechbar macht für Menschen, die versprechen, dass „alles gut wird“, wenn sie nur nach diesen und jenen Regeln leben und vor allem beten. Eine Situation der Orientierungslosigkeit, die falsche Leuchttürme und einfache Antworten sehr anziehend erscheinen lässt.
vulnerable Lebensphase zwischen Zukunftsangst, Leistungsdruck und Einsamkeit
In dieser Lebensphase treffen Studierende – oft das erste Mal – auf pastorales Personal, das jünger und nahbarer ist, als sie es gewohnt sind. Leute wie sie. Ein weiteres Gefährdungspotential, um in Abhängigkeiten zu geraten, da die Vertrautheit schnell dazu führen kann, dass eigene Grenzen nicht mehr wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass heute kaum noch Studierende „zufällig“ in unsere Veranstaltungen hineinplatzen: Es kommen Suchende, mit einem echten Interesse an einem Raum für ihre Glaubensfragen. Seelsorger:innen sollten sich daher bewusst sein, dass sie auf Menschen treffen, die Gefahr laufen, sich zu schnell einer Meinung anzuschließen, da sie eine hohe Motivation und Sehnsucht aufweisen. Gleichzeitig suchen sie Sicherheit in aller Orientierungslosigkeit. Hier braucht es Begleitung, die besonders aufmerksam für die je individuelle Persönlichkeit der Studierenden ist. Kinderglaube geht, Erwachsenenglaube ist oft noch nicht da – es gilt Mut zu machen, sich auf das Geheimnis Gottes einzulassen, ohne zu schnell eine neue Antwort zu finden.
Noch größer jedoch ist die Gefahr, die von speziellen Gruppierungen an den Hochschulstandorten und bestimmten spirituellen Zentren in Deutschland ausgeht. Zum einen sind da Hochschulgemeinden, die von Bischöfen mit Vertreter:innen neuer geistlicher Gemeinschaften besetzt werden, die ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotential in sich tragen, was Céline Hoyeau zuletzt eindrücklich aufgezeigt hat.[2] Zum anderen sind da Gruppen wie der SMD (Studentenmission in Deutschland) oder „Campus für Christus“, die ein sehr rigides Gottes- und Menschenbild aufweisen: schwarz-weiß Denken, Leistungsfrömmigkeit, Überbetonung von Reinheit, Elitedenken und Postulierung des einzig richtigen Glaubens.
Versprechen von Sicherheit und Eindeutigkeit
Ebenso ist der Einfluss von Gruppierungen wie Jugend 2000, Loretto Gemeinschaft, dem Augsburger Gebetshaus mit Johannes Hartl oder Influencer: innen wie „liebezurbibel“ nicht gering in Studierendenkreisen: Wer nach spirituellen Inhalten sucht, wird oft auf eine dieser Gruppierungen aufmerksam und findet dort andere junge Menschen, ansprechende Musik und einen Glauben, der Sicherheit vorgaukelt. Nicht selten werden hier jedoch Arbeitskräfte Ehrenamtlicher durch immensen Einsatz, der Reflektion oft unmöglich macht, ausgebeutet. Andauernd wird vor vermeintlich gefährlicher Sexualität gewarnt. Theologisch verantwortete Aussagen treten hinter subjektiven Gotteserfahrungen zurück, eine Kontrolle von außen findet nicht statt und Leitungsfiguren werden idealisiert. An der Situation der neuen geistlichen Gemeinschaften in Frankreich wie sie Céline Hoyeau beschreibt, kann erahnt werden, was in den nächsten Jahren in Deutschland auf uns zukommen wird. Das Vorwort von Hildegund Keul zu Hoyeaus Buch nimmt die Situation in Deutschland bereits in den Blick.
Beispiele aus der Hochschulseelsorge
Auf all diese Situationen treffen Seelsorgende an Hochschulen: Da ist die Studentin, die von mir wissen möchte, wie sie richtig betet, damit ihre Depressionen weggehen. Sie würde sich nach Gottesdiensten mit mir besser fühlen. Ich solle ihr sagen, welche Gebete sie sprechen müsse, damit Gott sie erhört. Da ist die hinduistische Studentin, die zivil mit einem Christen verheiratet ist, der ihr nach einem Jahr gelebter Sexualität sagt, sie müssten nun enthaltsam leben um dann kirchlich zu heiraten, damit Gott ihnen gnädig ist. Ihre Frage an mich: „Hat er damit recht? Muss ich das so machen?“ Da ist ein Vortrag, den eine Studierende in Kooperation mit dem SMD geplant hat. Der Referent erzählt davon, dass nur er „den Vater kenne und wir das nicht beurteilen könnten“ – jeder Einspruch wird ignoriert. Da ist ein Priester, der für die internationale Messe einspringt und am Ende verkündet: „Bis zum nächsten Mal habt ihr den englischen Text auswendig gelernt, Gott will euren Lobpreis hören. Ich warte, bis ihr es gelernt habt oder ich feiere nicht mehr mit euch.“
Verantwortung und Chancen
Hochschulseelsorge hat die Chance, ein Ort für junge Menschen zu sein, der sie erfahren lässt, dass Gott letztlich Geheimnis ist. Grundsätzlich verfügen die hier tätigen Seelsorger:innen über die nötigen Kompetenzen und das entsprechende Setting, um einen Ort zu schaffen, der Studierende widerstandsfähig und resilient gegenüber jedweder Form von spiritueller Bevormundung machen kann. In Betroffenenberichten wird deutlich, dass das beste Hilfsmittel gegen Missbrauch geistlicher Autorität theologische Bildung und unvermittelte Gotteserfahrungen sind. Aber diese Berichte fordern auch heraus: Es wird berichtet, dass Menschen oft in die Fänge „gefährlicher Seelenführer:innen“ geraten, weil da „wenigstens jemand über Gott geredet hat“. So sind wir als Hochschulseelsorgende aufgefordert Raum zu bieten, um tatsächlich über Gott zu sprechen oder mitunter auch Sprachlosigkeit auszuhalten. Die beste Prävention ist, denke ich, junge Menschen zu begleiten, ihren je eigenen Weg mit Gott zu finden – das bedeutet ansprechbar zu sein, Bildungsangebote zu machen und sie gleichzeitig nicht in eine bestimmte Ecke zu drängen. Es braucht Orientierungsräume, um nicht vermeintlich sicheren Leuchtfeuern vorschnell nachzueifern. Es braucht Seelsorger:innen, die sich ihrer Deutungsmacht bewusst sind und deshalb umso bewusster einen Schritt zurück treten.
Einfühlungsvermögen und ein langer Atem sind notwendig
Es braucht einen langen Atem im Umgang mit Menschen, die schon in problematische Gruppierungen und Abhängigkeiten hineingeraten sind. Viele Berichte zeigen, dass – auch wenn es Jahre dauern kann – einmal gesäte Zweifel an problematischen Abhängigkeiten Frucht bringen können, wenn die Zeit reif ist und so bei der Ablösung helfen. Und letztlich braucht es eine Begleitung, die Studierende befähigt ihre eigene Deutungskompetenz in Fragen des Glaubens und Zweifelns zu entwickeln – und das gelingt nur mit gutem theologisch-spirituellem Wissen und einem hohen Respekt vor der Gegenwart Gottes in jeder und jedem Einzelnen.
[1] https://kircheanhochschulen.de/veranstaltung/missbrauch-macht-gebrauch-herbsttagung-2023-der-katholischen-hochschulseelsorgerinnen/
[2] Vgl. Hoyeau, Céline: Der Verrat der Seelenführer, Herder 2023.
Bildnachweis: Wander Fleur via unsplash
Sr. Marie-Pasquale Reuver ist Pastoralreferentin und Hochschulseelsorgerin der Ökumenischen Hochschulgemeinde Hohenheim.