Die Kolumne für die kommenden Tage 47
In meiner Wohnung – wo sonst? – muss ich gerade häufiger über das Höhlengleichnis von Platon nachdenken. Warum? Mein zweijähriger Sohn verlangt von mir täglich eine frische Höhle aus Decken und Stühlen. Gelegentlich setze ich mich mit ihm hinein und staune über das Gefühl, das sich bei mir einstellt. Irgendwie fühlt es sich befreiend an, in diesem Kunstraum zu hocken, als würde ich für kurze Zeit einer Welt entfliehen können, die einem momentan viel abverlangt. Das Hineinkrabbeln kommt mir dabei weniger wie eine Flucht vor, mehr wie ein bewusster Transit in eine Welt größerer Gegenwart und Konzentration.
Höhlenaufenthalte
Ohne ihr zu entfliehen, in der Höhle sitzend bekomme ich eine wohltuende Distanz zur Welt und auch zu mir selbst. Meist hält der Zustand zwar nur solange an, bis mich die schrillen Glocken des Alltags wieder in den Drahtseilakt zwischen Arbeit und Kind zurückrufen. Dennoch erfahre ich meine Höhlenaufenthalte als etwas geistig Anregendes, was mich die Alltagsglocken für kurze Zeit aus einer abständigeren Perspektive wahrnehmen lässt, weniger aufdringlich, weniger angriffslustig. Beinahe ein Stück friedlicher kommt mir alles danach vor. Dass die Höhle Geborgenheit vermitteln würde, wie man ja vermuten könnte, kann ich nicht bestätigen. Die Höhlendecke bildet zusammen mit der Wohnungsdecke eher eine Art doppeltes Dach, und wie in der Mathematik ergibt sich aus beiden Minuszeichen (ein Dach ist für mich derzeit mehr Minus- als Pluszeichen, will man die mathematischen Symbole normativ aufladen) das Pluszeichen eines freien Himmels über dem Kopf. Ich sitze quasi in der Höhle unter freiem Himmel. Die heimatliche Einkehr in die Höhle schließt nicht ein, sondern macht frei.
wieder zurück in die Welt?
Im Höhlengleichnis bei Platon dreht sich der von den Fesseln Gelöste um und steigt langsam aus der Höhle ins grelle Sonnenlicht, um dort dem echten Licht, d.h. der wahren Erkenntnis gewahr zu werden. Was oft weggelassen wird: der „Erleuchtete“ soll wieder in die Höhle zurück, um den anderen Menschen zu helfen, einen Geschmack für das Gute zu gewinnen, das sie alle schon in sich tragen, damit auch sie sich die Fesseln lösen und auf den Weg machen. Zwei Richtungen: hinaus und – verwandelt – wieder hinein. Die christliche Mystik zeichnet sich übrigens genau durch diese zweite Bewegung aus: wieder zurück in die Welt, indem man Gott geschaut hat. Imitatio Dei.
Vertauschte Richtungen
In meinem Höhlengleichnis scheinen die Richtungen derzeit vertauscht zu sein: Ich gehe hinein, um befreit hinauszugehen. Die eigentliche Höhle ist das Wohnzimmer, das Draußen; der Ort der Befreiung das Drinnen, die Höhle in der Höhle.
In Zeiten von „social distancing“ ist die Familie zum Ort der „social closeness“ geworden; meine Höhlen helfen mir und uns als Familie, die Zeiten durchzustehen und auf bessere Umstände in Form eines Impfstoffs zu warten.
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Autor: Johannes Lorenz ist Theologe und arbeitet als Referent bei der Akademie Rabanus Maurus im Frankfurter „Haus am Dom“
Bild: Ksenia Kudelkina / unsplash.com