Der britische Historiker Ian Kershaw ist bekannt für seine zweibändige Hitler-Biographie. Nun hat er eine Analyse Europas von 1914-1949 vorgelegt unter dem Titel „Höllensturz“. Francesco Pagagni rezensiert das Buch.
Höllensturz – das ist eine leider angemessene Metapher für die Beinahe-Selbstzerstörung, die unser Kontinent zwischen 1914 und 1945 durchläuft. Und Ian Kershaw, der seine Könnerschaft durch eine Massstäbe setzende Hitler-Biographie bewiesen hat, erfüllt die Voraussetzungen für das kolossale Projekt, die Epoche von 1914 bis heute in zwei Bänden auf den Begriff zu bringen.
Politische Geschichte, Wirtschafts- und (populäre) Kulturgeschichte sind hier vereinigt.
Der nun vorliegende erste Band, der die Zeit bis 1949 abdeckt, ist jedenfalls mehr als gelungen: politische Geschichte, Wirtschafts- und (populäre) Kulturgeschichte sind hier vereinigt, nicht nur nebeneinander gestellt. Zudem beschränkt sich Kershaw nicht mit den grossen Ländern Westeuropas, sondern geht knapp auch auf die kleinen Staaten Osteuropas ein, so dass tatsächlich eine Gesamtgeschichte Europas resultiert.
Ereignis- und Strukturgeschichte verbunden
Methodisch verschränkt der britische Historiker Ereignis- und Strukturgeschichte, letztere überdies oft vergleichend, wie der folgende Passus belegt: „Der Faschismus triumphierte dort, wo die staatliche Autorität vollkommen diskreditiert war; wo die politischen Eliten zu schwach waren, um sicherzustellen, dass das System nach ihren Interessen funktionierte; wo die Parteienlandschaft zersplittert war; wo Spielraum genug bestand, eine Bewegung aufzubauen, die eine radikale Alternative versprach. Im Nachkriegsitalien waren diese Bedingungen zwischen 1919 und 1922 gegeben, im von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Deutschland zwischen 1930 und 1933.“ (S. 326)
Das Gewicht wirtschaftlicher Faktoren
Trotz der Aufmerksamkeit für die kleineren Länder ist doch Deutschland das Zentrum der Entwicklung. Anders als sein Kollege Christopher Clark sieht Kershaw den Ersten Weltkrieg absichtlich vom Deutschen Reich, konkreter vom preussischen Generalstab ausgelöst: Die Furcht vor der russischen Aufrüstung und einem Zweifrontenkrieg liess die Generäle auf einen raschen Kriegseintritt Deutschlands drängen. Grossbritannien und Frankreich gehen zwar als Sieger aus diesem schrecklichen Gemetzel hervor, liegen aber wirtschaftlich am Boden – die Kredite der USA werden schon während des Krieges überlebenswichtig. Die zögerliche, zu Zugeständnissen neigende Haltung Grossbritanniens gegenüber Hitler sind wesentlich, so der Verfasser, von der eigenen wirtschaftlichen und finanziellen Schwäche bestimmt. Die politische Elite des Inselreiches wusste nur zu gut, dass das Land weder militärisch noch ökonomisch auf einen neuen Krieg vorbereitet war. Die Appeasement-Politik war also nicht nur aus der Fehleinschätzung der Absichten Hitlers geboren, sondern entsprang auch aus der realistischen Beurteilung der eigenen Möglichkeiten.
Hätte der Zweite Weltkrieg verhindert werden können?
Hätte Nazi-Deutschland 1938 noch gestoppt werden können? In der deutschsprachigen Historiographie sind solche hypothetischen Fragestellungen verpönt, in der angelsächsischen hingegen werden sie dazu eingesetzt, den tatsächlichen Geschichtsverlauf besser zu verstehen. Kershaw meint, dass ein grosses Verteidigungsbündnis, dem allerdings auch die Sowjetunion hätte beitreten müssen, den Kriegsausbruch zumindest verzögert hätte. Nachdem Frankreich und Grossbritannien die Tschechoslowakei 1938 fallen liessen, verstärkte sich bei Hitler der Eindruck, dass die Westmächte absolut schwach und zum Widerstand unfähig wären. Die britische Garantie für Polen wurde unglaubwürdig.
Der grosse Einschnitt erfolgt für Kershaw nicht mit dem Kriegsende, vielmehr mit der Herausbildung der bipolaren Weltordnung.
Die Schilderung des Zweiten Kriegsverlaufs nimmt vergleichsweise wenig Raum in Anspruch, dafür geht der Verfasser auf die unmittelbare Nachkriegszeit ein, das Buch endet ja mit 1949. Periodisieren heisst interpretieren: der grosse Einschnitt erfolgt für Kershaw nicht mit dem Kriegsende, vielmehr mit der Herausbildung der bipolaren Weltordnung. 1945 war es überhaupt nicht klar, wie es mit dem auch moralisch zerstörten Europa weitergehen würde.
Die USA ziehen sich dieses Mal nicht zurück
Erst das Engagement Amerikas mit dem Marshall-Plan und mit der Bereitschaft, auch weiterhin Truppen in Westeuropa zu unterhalten, erlaubte im Westteil des Kontinents einen Neuanfang. Im sowjetisch besetzten Gebiet setzen sich die überall minoritären Kommunisten unter zum Teil massivem Druck der Besatzungsmacht auf die anderen Parteien durch. Auch dort findet bald ein Wirtschaftsaufschwung statt, allerdings nicht im gleichen Ausmass wie im Westen.
Ein sehr aufschlussreiches Kapitel betrifft die Entnazifizierung, die überall begonnen wird, aber mangels Ressourcen – alleine die Auswertung der 1,5 Millionen westdeutschen Fragebögen hätte einen riesigen Stab an Mitarbeitenden erfordert – bald eingestellt wird. Österreich ist übrigens das Land, wo diese am wenigsten weit gedeiht.
Entmischung Mittel- und Osteuropas
Eine Einschätzung muss uns, die wir für Vielfalt plädieren, irritieren: Es ist Kershaws Beurteilung der politischen Folgen der ethnischen Entmischung, die vom Baltikum bis zum Balkan vonstattenging:
„Die Grenzverschiebungen und Umsiedlungen führten, auch wenn sie unter furchtbarem Blutvergiessen stattfanden, zu einem – verglichen mit der Zwischenkriegszeit – viel höheren Mass an ethnischer Homogenität. Auch das trug zur Befriedung der östlichen Hälfte des Kontinents bei, obwohl es unter der harten Hand des sowjetischen Unterdrückungssystems stattfand.“ (S. 698)
Ein vorzügliches Antidot gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit
Alles in allem bietet dieses Buch eine souveräne Gesamtschau, ein vorzügliches Antidot gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit. Aber auch wer sich mit dem Schicksal Europas befasst, wird neue Erkenntnisse gewinnen. Ich jedenfalls konnte es, einmal angefangen, kaum mehr aus der Hand legen. Wir dürfen gespannt auf den zweiten Band sein.
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Autor: Francesco Papagni, freier Journalist, Zürich
Buch: Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 – 1949. München 2016, 703 Seiten