Helfen ist keine christliche Tugend. Diese gewagte Behauptung steht am Anfang eines Paradigmenwechsels, den die Gemeinschaft im Sonnenhügel zu leben versucht: Mit den Gästen gemeinsam nach dem Wesentlichen suchen, statt etwas anzubieten, was die Distanz zu ihnen vergrössert. Von Lukas Fries-Schmid.
Im Sonnenhügel beherbergen und begleiten wir seit 25 Jahren Menschen in teils akuten Krisensituationen. Sie verbringen je nach Lebenssituation eine Woche bis mehrere Monate mit uns und leben in dieser Zeit in unserer Gemeinschaft mit. Der Sonnenhügel verbindet Kloster auf Zeit mit Elementen einer therapeutischen Wohngemeinschaft und unterscheidet sich dennoch in zentralen Punkten von vergleichbaren Angeboten der einen wie der anderen Art. Immer wieder fällt uns auf, dass wir die Erwartungen der Menschen mit unserem Angebot irritieren. Das ist gut so, weil manche Irritation uns auf Entscheidendes aufmerksam machen kann.
Immer wieder fällt uns auf, dass wir die Erwartungen der Menschen mit unserem Angebot irritieren.
Die grösste Irritation besteht wohl darin, wie wir Menschen in Not empfangen. Die meisten potentiellen Gäste, welche uns anrufen um abzuklären, ob ein Aufenthalt für sie bei uns möglich ist, befinden sich in einer mehr oder weniger akuten Situation. Es sind vielfältige Auslöser, welche dazu führen, dass jemand den Tag vorübergehend nicht mehr selber strukturieren kann oder dass jemand zur Einsicht kommt, dass eine Veränderung, ein Ortswechsel heilsame Bewegung in eine stockende Situation bringen könnte. Für viele Menschen in dieser Situation ist ein Anruf im Sonnenhügel mit dem Gefühl des Versagens verbunden. Sie müssen sich selber gegenüber und nach aussen eingestehen, dass sie es alleine nicht mehr schaffen, sondern auf fremde Hilfe angewiesen sind.
In genau diese Verletzlichkeit hinein möchte unsere paradigmatische Irritation sprechen, dass wir unser Angebot nicht als Hilfe verstehen. Ja, Sie haben richtig gelesen. Wir verweigern gleichsam eine Hilfe, wie sie oft erwartet wird, und setzen etwas anderes an ihre Stelle:
Wir verstehen den Auftrag der Nächstenliebe nicht darin, etwas für das Gegenüber zu tun, sondern mit ihm. Wir laden den Menschen ein, zu uns zu kommen, mit uns zu leben und mit uns ein Stück Weg zu gehen. Dadurch verlassen wir unsere Position der Stärke und begeben uns bewusst in eine Situation der Ohnmacht.
Helfen ist Macht.
Helfen ist Macht. Es ist eine verlockende Rolle, jemandem, der/die um Hilfe bittet, ein Gegenüber zu sein. Das Vertrauen dieses Menschen in meine vermeintlichen Kompetenzen schmeichelt mir. Aus einer Situation der Stärke heraus interpretiere ich die Welt und das Leiden meines Gegenübers und urteile oft unbewusst darüber. In diesem dualen Denkschema glaube ich zu erkennen, was richtig oder falsch, gut und hilfreich oder schädlich und hinderlich für mein Gegenüber ist. Dabei lasse ich ausser Acht, dass die Wirklichkeit weit über meine Wahrnehmung hinaus geht. Meine vermeintliche Position der Stärke gibt mir die Möglichkeit, dem Gegenüber etwas anzubieten, von dem ich glaube, dass dies Leiden lindert. Dies wiederum gibt mir erneut ein gutes Gefühl und noch mehr Macht. Im Extremfall schafft es sogar Abhängigkeit. Ich zementiere ein Gefälle zwischen helfender und hilfesuchender Person und mache Erfolg oder Misserfolg, ja gar das Wohlergehen meines Gegenübers von meinem Tun abhängig.
Die Anfrage eines potentiellen Gastes ist aber (…) immer eine Frage nach Beziehung.
Selber bleibe ich dadurch aber auf Distanz. Ich mache mir vor, es gehe um mein Gegenüber und nicht um mich. Die Anfrage eines potentiellen Gastes ist aber, selbst wenn sie als Hilferuf daherkommt, immer eine Frage nach Beziehung. Gefragt ist nicht meine Hilfe, sondern der Einsatz meines Lebens. Der/die Suchende möchte keine Antworten, sondern ernst genommen werden in seinem/ihrem Suchen. Es wäre falsch zu meinen, ich hätte Antworten. Bestenfalls kann ich helfen, weiterführende Fragen zu stellen. Sicher gefragt ist aber meine Bereitschaft, die unbeantwortbare Frage nach dem «Warum?» auszuhalten.
Das ist allerdings unangenehm und darum oft nicht einfach. Denn durch die Verletzungen und Not meines Gegenübers werde ich – wenn ich es denn zulasse – konfrontiert mit meiner eigenen Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Es wird mir bewusst, dass wir vor Gott alle gleich sind, unabhängig von unserer momentanen Lebenssituation: Wir sind Geschaffene, Ebenbilder und Geliebte, bisweilen aber auch Orientierungslose, Suchende und nach Vertrauen und Vergebung Lechzende. Die Grenze zwischen hilfesuchender und helfender Person ist eine dünne Linie und auf welcher Seite der Grenze ich stehe, entzieht sich meinem Einfluss weitgehend.
Meine Hilfe besteht darin, dass ich mich vor der eigenen Dunkelheit nicht verschliesse.
In dieser Gleichheit vor Gott steckt das eigentliche christliche Hilfsangebot. Dem Menschen in Not ist das Bewusstsein abhandengekommen, dass sie und er trotz allem geliebt ist. Der innerste göttliche Kern, der jederzeit da und unantastbar ist, ist verschüttet. Ich kann diesen Kern für niemanden freiräumen. Jeder Mensch muss selber durch diese Dunkelheit hindurch. Meine Hilfe besteht darin, dass ich mich vor der eigenen Dunkelheit nicht verschliesse. Indem ich es wage, den eigenen Schmerz an mich heran zu lassen, den gerade auch die Not des Gegenübers in mir auslösen kann, halte ich die Hoffnung aufrecht, nach der mein Gegenüber sich so sehnt. Einander gegenseitig in der Hoffnung zu bestärken, halte ich für das zentrale christliche Hilfsangebot.
Dieses Geschehen bleibt jedoch ein «theologisches Passiv».
Das ist jedoch gerade nicht ein Geschehen zwischen Starken und Kranken, zwischen Helfenden und Suchenden, sondern ein Akt der Solidarität. Es ist eine radikale Solidarität, in der ich meine eigene Existenz riskiere, weil ich erkenne, dass die eigentliche Hilfe nicht von mir kommt. Ich kann bestenfalls Rahmenbedingungen schaffen, dank denen hoffentlich Heilung geschehen kann. Dieses Geschehen bleibt jedoch ein «theologisches Passiv»: Erfolg oder Misserfolg sind nicht von meinem Tun abhängig, zumal ich gar nicht beurteilen kann, was Heilung in den Augen meines Gegenübers oder in den Augen Gottes bedeutet. Nicht ich bin der Heiland. Heilung geschieht und Akteur in diesem Geschehen ist jene Instanz, welche mein Denken, Fühlen, Handeln und Bewusstsein deutlich übersteigt und die trotzdem jederzeit da ist.
Wenn ich also meine Machtposition des Helfens aufgebe und mich auf die letzte Ohnmacht gegenüber Gott einlasse, begegne ich dem/der Suchenden an unserer Klosterpforte auf Augenhöhe. Dadurch kann ich allerdings meine Existenz nicht mehr aus dem Spiel lassen. Seine Not ist auch meine Not; ihre Freude auch meine Freude. Gemeinsam lachen und weinen, essen und arbeiten, singen und schweigen ist im Grunde alles, was wir anzubieten haben. So wird aus Hilfe Solidarität, aus einem Füreinander ein Miteinander. Es wird erahnbar, was gemeint sein könnte mit: Vor Gott sind wir ein Leib, und: in meinem/meiner Nächsten begegnet mir Gott.
Im ehemaligen Kapuzinerkloster Schüpfheim LU lebt seit 1993 der Sonnenhügel. Diese Gemeinschaft beherbergt als wohl einzige klösterliche Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum auch Menschen in Krisen und mit psychischen Beeinträchtigungen und führt so das franziskanische Erbe der Kapuziner in einmaliger Weise weiter.
Die auf Spenden angewiesene Gemeinschaft konnte in den vergangenen Monaten das historische Gebäude aus dem Jahre 1655 umfassend renovieren und mit einem neuen Anbau ergänzen.
Am Wochenende vom 20./21. Oktober besteht im Rahmen zweier Tage der offenen Klosterpforte die Möglichkeit, das Kloster zu besichtigen und mit den Mitgliedern der Kerngemeinschaft ins Gespräch zu kommen.
Gästeaufenthalte sind ab Ende Oktober wieder möglich.
Nähere Informationen unter www.sunnehuegel.org.
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Text und Bilder:
Lukas Fries-Schmid, lic. theol., DAS in Pastoral Care and Pastoral Psychology, verheiratet, Vater von zwei Kindern. Er leitet seit 2009 zusammen mit seiner Frau den Sonnenhügel.