Überlegungen der Religionslehrerin Eva-Maria Spiegelhalter zum Ziel und den Möglichkeiten des Religionsunterrichts ohne Schule.
Homeschooling ist für alle Beteiligten eine Herausforderung:
Eltern werden zu Lehrer*innen, Kinder benutzen zum ersten Mal ihre Zimmer als Büro und ihre digitalen Geräte zum Lernen. Und Lehrer*innen versuchen alles zu vergessen, was sie jemals über Lernen und Schule gelernt haben: Dass Schule und Unterricht Bedürfnisse von Jugendlichen aufnehmen sollen. Dass kooperative Arbeitsformen lernförderlich sind, weil sie das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit befriedigen und Kompetenzerfahrung ermöglichen. Oder die empirisch nachgewiesene Erkenntnis, dass die Begeisterung der Lehrer*innen für das Fach den Lernzuwachs der Schüler*innen bestimmt genauso wie die konstruktive Unterstützung der Lehrer*innen, die Schüler*innen zum Lernen motiviert.
Alles Bisherige vergessen?
All diese Grundlagen des Lernens bleiben unberücksichtigt und es erscheint zumindest in manchen Diskussionen so, als würde Lernen lediglich von der entsprechenden digitalen Ausrüstung und der Nutzung der richtigen Tools abhängen.
Besonders interessant entwickelt sich die Lage im Bereich des Religionsunterrichts.Soll es Aufgaben im Fach Religion geben? Ja, sagen die einen. Religion ist ein reguläres Nebenfach. Schüler*innen haben ja Zeit zum Lernen. Warum nicht auch Themen zu Religion und Glauben anbieten? Wer will schon wochenlang nur Mathe, Deutsch und Englisch lernen? Nein, argumentieren die anderen.
Ordentliches Schulfach oder
generell marginal?
Nebenfächer sind generell und „Reli“ insbesondere marginal. Quasi eine Art Hobby. Wer Lust und Spaß daran hat, vielleicht. Aber wirklich wichtig sind diese Inhalte nicht.
Diese Positionen führen sehr gut vor Augen, in welchem Dilemma der Religionsunterricht, mit oder ohne Corona ohnehin steckt. Doch was bedeutet das jetzt für das Hometeaching bzw. homeschooling? Aufgaben ja oder nein und wenn ja, welche?
Themen fallen aus?
Schon die Auswahl der Themen ist schwierig: Ethische Themen verbieten sich aufgrund der eventuell schon abgespannten Lebenssituationen der Schüler*innen. Wer zu Hause gerade Gewalt erlebt oder wessen Eltern finanzielle Sorgen umtreiben, möchte sich nicht mit den Vor- und Nachteilen von embryonaler Diagnostik beschäftigen. Auch das Thema Sterbehilfe scheidet aufgrund möglicher Betroffenheit aus. Zudem fehlen die Diskussions- und Austauschmöglichkeiten mit der Lerngruppe.
Auseinandersetzen mit Themen,
statt Abarbeiten von Hausaufgaben.
Ähnlich sieht es mit Glaubensbotschaften aus. „Das Recht zu wissen und die Freiheit zu glauben.“ So bestimmt das Erzbistum Freiburg Religionsunterricht und grundsätzlich finde ich diese Devise auch gut. Für das Homeschooling ergibt sich jedoch folgendes Szenario: Meine Aufgaben für den Religionsunterricht erreichen die Schüler*innen im Paket mit Mathe, Deutsch und Physik. Hier geht es meist nicht darum, sich zu einer Aussage zu positionieren, diese zu hinterfragen und sich kritisch damit auseinanderzusetzten, sondern die gestellten Aufgaben zu bearbeiten. Ich muss also damit rechnen, dass Schüler*innen die Aufgaben für Religion im gleichen Modus durcharbeiten: fokussiert auf Lösungen, die durch die Kategorien „richtig“ oder „falsch“ bestimmt sind. Wie sinnvoll ist es jedoch, Schüler*innen zu kritischen Fragen zu religiösen Inhalten und Zweifel an Lebensformen anzuregen, wenn ich gleichzeitig weiß, dass die Schüler*innen diese Fragen nicht untereinander diskutieren können?
Schwierige Interaktion mit Videokonferenzen
Damit stellt sich die Frage der Videokonferenz. Viel diskutiert, häufig gefordert. Den Schulen stehen bisher kaum Möglichkeiten zu Verfügung, datenschutzkonform Videokonferenzen durchzuführen. Zudem eignet sich meiner Ansicht nach eine Videokonferenz dazu, inhaltliche Fragen zu klären. Die Interaktionsmöglichkeiten der Teilnehmenden sind jedoch begrenzt und für Schüler*innen der Sekundarstufe 1 ist die Videokonferenz nur eines: unglaublich langweilig. Denn die Schüler*innen sitzen ja im realen Unterricht auch nicht zwanzig bis dreißig Minuten still da und hören zu. Sozialformen und Arbeitsformen wechseln dort sehr schnell. Interaktionen in der Videokonferenz sind unglaublich langsam, zudem vollständig auf das Gesprochene fokussiert.
Kommunikative Einbahnstraßen
Körpersprache geht nahezu verloren. Daher stellt die Videokonferenz eher häufig eine kommunikative Einbahnstraße dar, es sei denn, ich befinde mich in einer Videokonferenz mit vier Menschen. Meine Lerngruppen sind größer. Zudem marginalisieren Videokonferenzen Schüler*innen mit den fehlenden technischen Möglichkeit. Ganz zu schweigen vom organisatorischen Aufwand für die Eltern und dem Stress, wenn die Videokonferenz im Fach Religion zeitgleich zur Homeoffice-Konferenz der Eltern liegt. Ich sehe davon ab.
Unterrichtsmaterialien,
die schwer einzuordnen sind.
Ähnlich herausfordernd ist die Auswahl der Materialien. Besonders kontroverses Material, z.B. witzige Darstellungen, Comics zum Leben Jesu oder provozierende Abbildungen sind für den realen Unterricht genial, denn sie bringen Diskussionen in Gang. Im Homeschooling habe ich als Lehrperson keine Möglichkeit der Einordnung, der Relativierung, der kritischen Nachfrage. Auch gemeinsame Beobachtungen, die die Lerngruppe teilen und diskutieren kann und die den Unterrichtsprozess ausmachen, gibt es nicht. Im falschen Kontext können diese Materialien missverstanden werden.
Bilder, die Anstoß erregen,
statt Diskussionen zu ermöglichen
Wie reagieren Eltern unterschiedlicher Milieus auf meine Materialauswahl? Was denken bürgerlich-traditionsorientierte Elternhäuser über die Kampagne des BDKJ „Katholisch – anders als du denkst“ , die mit Slogans wirbt wie „Wir predigen nicht rum, wir handeln“? Jesusdarstellungen, die in der Werbung verwendet werden, finde ich sehr geeignet, um im Unterricht über Vorstellungen von Jesus ins Gespräch zu kommen. Aber die Diskussionen im Netz zeigen, dass gerade diese Bilder Anstoß erregen und religiöse Gefühle verletzen können. Fürs Hometeaching in einer stressgeprägten Zeit ebenfalls ausgeschieden.
Leider fehlt die Reli-App
Interessantes, unverfängliches und motivierendes Material? Ein Blick auf die verschiedenen Internetseiten zum Thema Religionsunterricht ernüchtert: zwar finde ich Material, aber wie so häufig, passt es in den meinen Unterricht nicht. Die Suche nach interessanten Lernapps, die Spaß machen, führen mich zum Städel Museum in Frankfurt, das eine App entwickelt hat, die Lern- und Abenteuerspiel zugleich ist. Witzig, motivierend, interessant. Für Religion hätte ich so etwas auch gerne, finde aber nichts Vergleichbares.
Texte lesen und bearbeiten für ein fundiertes Grundwissen – ohne den Gedankenaustausch in der Lerngruppe? Das ist schon möglich, aber nicht über Wochen. Es trifft sich auch nicht mit dem, was ich mit Religionsunterricht erreichen möchte: Wenn ich Religion als Unterrichtsfach an der Schule präsentiere, ist das mein Text: „Stell dir vor, es ist Reli, und jede/r geht hin. Warum? Weil das, was du erlebt hast, vorkommt (sofern du es willst).Weil es um Fragen geht, die Menschen immer schon beschäftigt haben: Was ist gerecht? Warum gibt es Leid? Was kommt nach dem Tod? Bin ich frei? Was bringt Religion? Weil du Texte kennen lernst, in denen Menschen ihre Fragen und Zweifel gegenüber Gott festgehalten haben. Weil du neue Arten kennen lernst, über Gott zu denken. Weil deine Gedanken unersetzlich sind. Weil es um dich geht.“
Auseinandersetzung über Glauben funktioniert nicht ohne direkten Kontakt?
Im Homeschooling weiß ich nicht, was meine Schüler*innen erleben und ich kenne ihre aktuellen Fragen nicht. Ich nehme an, dass angesichts der vorliegenden schulischen Aufgaben, der Herausforderungen, das eigene Leben völlig umzustellen und auf unzählige Verabredungen, Treffen und Unternehmungen zu verzichten, die Frage nach Gott nicht an erster Stelle steht. Meine Unterrichtskonzepte sind auf reale Situationen mit realen Menschen, realer Kommunikation und realen Rückmeldungen angelegt. Auseinandersetzungen über Glauben funktioniert nicht ohne direkten Kontakt. Etwas über den Glauben zu lernen vielleicht.
Unerträgliche Mut-Botschaften
Ich weiß nicht, ob Mutbotschaften in der Mittelstufe gut ankommen. Meine beiden Töchter finden es unerträglich, wenn ihre Lehrer*innen solche Botschaften verschicken. Wer will jetzt schon die Welt erklärt bekommen? „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ „Liebe deinen Feind“, auch wenn er dir jede Woche unlösbare Mathe -und Lateinaufgaben schickt? Relevant ist gerade eher die Frage: Wie bastele ich einen Mundschutz? Dafür gibt es viele Anleitungen im Internet. Lebensnah: Wie löse ich meine Aufgabe für die Schule? Aber auch Lerntipps werden schon reichlich verschickt.
Ich entscheide mich, das Internet weiter nach Interessantem zu durchsuchen und konzipiere schließlich für die Mittel- und Oberstufe Rechercheaufgaben bezüglich aktueller Entwicklungen: Wie fasten Muslime* trotz Corona im Ramadan? Beschreibe den Zusammenhang zwischen Corona und Antisemitismus. Was denkt ihr über die virtuellen Angebote der Kirche während der Corona-Zeit?
Hoffentlich interessiert das meine Schülerinnen und Schüler. Und macht keinen Stress.
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Autorin: Eva-Maria Spiegelhalter arbeitet als Religionslehrerin am allgemeinbildenden Gymnasium und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Theologischen Fakultät Freiburg.
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