Lebensräume von Mensch und Tier verdichten sich zunehmend und werden zu Cohabitaten. Dies fordert, wie im Falle der Wiederansiedlung von Wölfen in unseren Regionen, Menschen heraus – und damit auch die Theologie. Zeit, den in ihr vorherrschenden Anthropozentrismus zu überdenken, findet Paulina Pieper.
Gott ist Mensch geworden. An dieses Ereignis erinnerten sich in den vergangenen Tagen und Wochen Christ:innen auf der ganzen Welt. Obwohl an der Krippe die symbolische Ordnung der Schöpfungsgesellschaft aufgehoben, ja gar umgekehrt wird, spielen die anwesenden Tiere in theologischen und spirituellen Betrachtungen selten eine Rolle. Diese Tiervergessenheit lässt sich als Zeichen einer anthropozentri(sti)schen Theologie deuten.
Dass das Christentum in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur zum Guten in der Welt beigetragen hat, ist kein Geheimnis. Mit Blick auf gegenwärtige Herausforderungen, wie Klimakatastrophe oder Zoonosen, stellt sich dennoch die Frage nach einer spezifischen christlichen Verantwortung. Bei der Beantwortung muss neben Überlegungen zu gegenwärtigen christlichen Positionen und Handlungsmöglichkeiten auch die Rolle der christlichen Theologie und Philosophie bei der Entwicklung und Implementierung eines anthropozentristischen Weltbildes bedacht werden. Während östliche Religionen und Theologien Menschen als Teil einer natürlichen Ordnung in den Blick nehmen, stellt die christliche Theologie sie von Beginn an als Krone der Schöpfung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Die Schöpfung als ökologisches System sowie Gott selbst werden von der christlichen Theologie einzig und allein aus der menschlichen Perspektive, vom Menschen her und auf den Menschen hin gedacht. Der dieser anthropozentristischen Perspektive zugrundliegende, im Schöpfungsbericht überlieferte „Herrschaftsauftrag“ (Gen 1,28) wird in der exegetischen Forschung mittlerweile weitläufig als „tätige Verantwortung für das Ganze der natürlichen Schöpfungswelt“[1] im Sinne einer Teilhabe an der göttlichen Schöpfungsverantwortung verstanden. Anhand der Debatte um die Wiederkehr des Wolfes im Alpenraum lässt sich jedoch zeigen, dass diese begriffliche Nachschärfung Fachkreise nicht verlassen und daher kaum etwas an der anthropozentristischen und speziesistischen Auffassung, nichtmenschliches Leben existiere lediglich zum Gebrauch und Nutzen des Menschen, verändern konnte.
begriffliche Nachschärfungen verlassen Fachkreise nicht
Seitdem der erste Wolf im österreichischen Alpenraum gesichtet wurde, finden sich in vielen Ortschaften an Ställen und über den Talstraßen Plakate mit Aufschriften wie „Stoppt den Wolf!“ oder „Wenn der Wolf kommt, müssen wir gehen“.[2] Gerahmt sind die Parolen von Bildern mit friedlichen Kühen auf grünen Weiden oder freudig motivierten Familien bei einer Bergwanderung – und fauchenden oder reißenden Wölfen. „Der Wolf muss weg“ lautet also die Parole derjenigen, die der Meinung sind, dass der Wolf im Kulturraum Alpenland kein Existenz- und Bleiberecht mehr hat.[3]
Der Wolf muss weg!
Eine Verkettung gängiger Argumente für die Vertreibung lautet zum Beispiel: Wenn sich im Alpenraum erneut Wölfe niederlassen, kann im Sommer das Vieh nicht mehr auf der Alm weiden, da dort die Bestände kontinuierlich reduziert werden und ausreichender Schutz nicht finanziert werden kann. Wenn das Vieh nicht auf die Alm kann, lässt sich kein Fleisch mehr aus regionaler, ökologischer Viehhaltung gewinnen, was der Massentierhaltung und Billigfleischproduktion in die Hände spielt. Außerdem verbuschen die Berghänge und Wälder, was bedeutet, dass sich die menschengemachte Kulturlandschaft aus Almwiesen und Fichtenwäldern[4] verändert. Zu guter Letzt muss bei einer Wiederansiedlung von Wolfsrudeln damit gerechnet werden, dass der Bergtourismus sich spätestens dann verändern wird, wenn der:die erste Tourist:in vom Wolf zerfleischt wurde.
weil es so ist, soll es so sein
Dass solche Argumente, die oft genug in einem naturalistischen Fehlschluss (weil es so ist, soll es so sein) enden, gerade in einem Lebensraum Geltung gewinnen, in dem das Miteinander in sogenannten koevoluierten Systemen vor nicht allzu langer Zeit noch funktioniert hat, ist erstaunlich. Dennoch sind die Ängste der Alpenbewohner:innen in Bezug auf die Rückkehr von Wölfen nachvollziehbar. Schließlich scheint das System, das die Alpenländer:innen sich in den vergangenen hundert Jahren als Existenzgrundlage geschaffen haben, in etwa so stabil wie ein Kartenhaus, das vom bösen Wolf einfach umgepustet werden kann. Spielt man den theologischen Bewahrungsauftrag in dieses Gedankensystem ein, trifft er das Bedürfnis dieses Kartenhaus vor den Übeln der Schöpfung zu schützen.
Diesem Schutz dient ebenfalls das evolutionäre Argument, dass der Mensch nun mal nach dem Prinzip „survival of the fittest“ mit seiner Anpassungsfähigkeit (durch die Befriedung und Kultivierung von Lebensraum oder die Domestizierung und Nutzung von nichtmenschlichen Tieren) auftrumpft. Doch welche Fähigkeiten machen uns gegenüber anderen Tieren zu den „most fitting survivors“? Obwohl wir die Vergangenheit reflektieren, wiederholen wir Fehler immer und immer wieder. Obwohl wir in die Zukunft denken und so Ideen und Visionen verwirklichen können, stellt sich die Frage, für welche Innovation der vergangenen zweihundert Jahre wir nicht unmittelbar auf natürliche Ressourcen und deren gleichzeitige Zerstörung angewiesen waren? Obwohl wir längst außerhalb der tierischen Nahrungskette stehen können, hat uns das nicht dazu bewegt, keine Lebewesen mehr zu töten. Lautet die evolutionäre Anpassungsstrategie des Menschen also sich nicht selbst anpassen zu müssen, sondern einfach die Mitwelt zu zerstören?
Evolutionäre Anpassungsstrategie des Menschen: die Mitwelt zerstören.
Beide Argumentationslinien führen so in eine Sackgasse, in der sich das menschliche Tier, um zu überleben, über die Natur stellen und sich durch deren Beherrschung und Ausbeutung von dieser abgrenzen muss. Dadurch fallen kultiviertes und natürliches Leben zunehmend auseinander: Jedes neue Haus aus Beton und Stahl gemahnt wie eine Manifestation anthropozentristischer Denkmuster die Abgrenzung der menschlichen Spezies von allem Natürlichen. Obwohl die autarke Lebendigkeit und Menschen-unabhängige Existenz der Natur gerade in urbanisierten Räumen weit entfernt zu sein scheint, bleiben Menschen als Beziehungswesen jedoch mit ihrer gesamten Mitwelt verbunden. Wir sind in höchstem Maße abhängig davon, dass diese Mitwelt lebendig bleibt und sich nicht gänzlich von uns zerstören lässt; wir sind darauf angewiesen, dass die Natur uns ab und zu, z.B. durch die Rückkehr von Raubtieren in bewirtschafteten Lebensraum, unsere Grenzen aufzeigt. Oder – und diese Idee klingt gar verrückt – wir tragen selbst zum Erhalt unserer Mitwelt bei, hören auf sie zu zerstören, überdenken unsere Anpassungsstrategien und entwickeln ein neues Bewusstsein dafür, dass nichts unabhängig existiert[5] – auch wir nicht.
Nichts existiert unabhängig – auch wir nicht.
Wenn die mitteleuropäische Theologie dazu beigetragen hat, die bisherige evolutionäre Anpassungsstrategie menschlicher Tiere zu legitimieren, dann kann nur eine ganz neue Denkrichtung wie die anthropo-de-zentrierte Theologie zu einem Paradigmenwechsel beitragen, die sich selbst von ihrer anthropologischen Fixierung befreit und Gott nicht nur vom Menschen, sondern von seiner ganzen Schöpfung her denkt. Eine solche Theologie müsste mutig und sensibel, explorativ, performativ, intersektional und manchmal auch radikal aktivistisch kreative und ungewöhnliche Zukunftsvisionen entwerfen, damit neue Erfahrungsräume eröffnen und diese selbst betreten – oder sie müsste, mit einer Vorreiterin anthropodezentrierter Theologie im deutschsprachigen Raum gesprochen, in jeder nur denkbaren Hinsicht schlicht „entschieden anders“[6] sein.
Autorin: Paulina Pieper ist Stipendiatin des Cusanuswerks und Doktorandin im Fach Pastoraltheologie an der Universität Innsbruck.
Beitragsbild: Marek Szturc, unsplash.com
[1] Janowski, Bernd: Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26-28 und die Semantik von רדה, in: Braulik, Georg / Groß, Walter / McEvenue, Sean (Hrsg.): Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel (FS Norbert Lohfink), Freiburg-Basel-Wien 1993, 183-198, 191.
[2] Siehe z.B. die Tiroler Initiative „Alm ohne Wolf“ (https://www.almohnewolf.at).
[3] Da in der Schweiz schon seit den 90er Jahren wieder Erfahrungen im Umgang mit Wölfen gesammelt werden, bietet z.B. das Interview mit dem Schweizer Hirten David Gerke, der für die Coexistenz von Wolf, Mensch und Weide- bzw. Wildtieren eintritt, eine überzeugende Gegendarstellung zu den oben angeführten Argumenten der Wolfsgegner:innen (siehe https://www.bund-naturschutz.de/fileadmin/Bilder_und_Dokumente/Themen/Tiere_und_Pflanzen/Tiere/Säugetiere/Wolf/Interview-Gerke-Herdenschutz-Schweiz.pdf).
[4] Man beachte, dass das Ausmaß an Fichtenwäldern in den Alpen einer erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts künstlich angelegten Monokultur zu verdanken ist. Dieser künstliche Eingriff bietet eine hohe Anfälligkeit für durch den Klimawandel begünstigte Herausforderungen wie Borkenkäferbefall oder Waldbrände.
[5] Ich empfehle den Film: But beautiful. Nichts existiert unabhängig (2019).
[6] Enxing, Julia: Entschieden anders? Überlegungen zu einer anthropozentrismuskritischen Theologie
des Lebens, in: ÖR 70 (03/2021), 300-317.
Weiterhin von Paulina Pieper auf feinschwarz.net erschienen:
https://www.feinschwarz.net/mit-foucault-im-seminar-ein-leserinnenbrief/
https://www.feinschwarz.net/weil-uns-die-kirche-nicht-egal-ist-pfarreiratswahlen/
https://www.feinschwarz.net/33726-2/
https://www.feinschwarz.net/synodaler-weg-mehr-als-anstrich/