Zwischen den Jahren nimmt sich Daniela Ordowski, eine junge Kirchenfrau auf dem synodalen Weg, einen Augenblick Zeit, um auf 2021 zurückzublicken. Herausgekommen sind fünf Erwartungen an sich selbst und die deutschen Bischöfe:
Ich bin im Urlaub auf Baltrum, als die Spiegel-Reportage zu den Missbrauchsfällen im Bistum Trier erscheint. Ich muss raus, an die frische Luft, um Stück für Stück den Text zu lesen. Neben mir rauscht das Meer, es wird langsam dunkel und mir laufen Tränen über das Gesicht. Immer wieder frage ich mich, weshalb ich überhaupt noch erschrocken bin, über die schmerzlichen Berichte von Betroffenen, von den offensichtlich strukturellen Ursachen und dem Vertuschen. Ich weiß davon und bin trotzdem noch Teil dieser Kirche. Ich versuche, das System von innen heraus zu verändern. Aber reicht das? Ich glaube, Verantwortung zu tragen, heißt auch, immer wieder erschüttert zu sein, wenn ich von Missbrauchsfällen höre, zu weinen, zu schreien und unglaublich wütend zu sein, erschrocken darüber zu sein, wie viel vertuscht wird, immer wieder misstrauisch zu sein, Machtstrukturen zu hinterfragen und sie dadurch Stück für Stück abzubauen. Um sexualisierte Gewalt auszuüben und Macht zu missbrauchen, braucht es nicht nur die Täter und Vertuscher, sondern auch diejenigen, die es geschehen lassen.
… konstruktiv-kritisch-katholischen Widerstand!
Ich erwarte deshalb im neuen Jahr von mir selbst, im Widerstand zu bleiben, erschüttert zu sein und mich nicht von Worten der Reformbereitschaft ablenken zu lassen, konstruktiv-kritische Katholikin zu sein, indem ich keinen Stein auf dem anderen lasse, um Machtmissbrauch zu verhindern. Und ich erwarte von den Bischöfen, endlich zu konstruktiv-kritischen Katholiken zu werden, die ihr eigenes Handeln hinterfragen und insbesondere das System, das sie ständig zu beschützen versuchen.
Nach einem Podiumsgespräch mit Bischof Ackermann diesen Sommer zum Thema „Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche“ sagte er zu mir: „Frau Ordowski, da haben Sie heute Abend aber häufig die Gerechtigkeitskeule geschwungen. An der komme ich ja dann nicht vorbei.“ Diese Worte klingen seither bei mir nach. Ich wünsche mir für das neue Jahr, dass es uns in Kirche darum geht, am Gerechtigkeitsanspruch nicht vorbeizukommen. Und dass die Bischöfe endlich genau dies einsehen: dass es nicht ihre Aufgabe ist, sich wegzuducken, um an der Gerechtigkeitskeule vorbeizukommen, sondern Verantwortung für Gerechtigkeit zu übernehmen.
… Verantwortung und Rechenschaftspflicht.
In der Jugendverbandsarbeit habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, konnte mich ausprobieren, Talente entdecken und sie einsetzen. Am 8. März 2020 wurde ich zur KLJB-Bundesvorsitzenden gewählt und es fällt mir leicht, diese Verantwortung zu tragen, weil ich von Menschen umgeben bin, die sich ebenfalls verantwortlich fühlen – für ihre Mitmenschen, für ihre Umwelt, für ihr Handeln, für die Organisation, in der sie tätig sind. Nicht leicht fiel es mir im letzten Jahr, Verantwortung zu tragen in dieser Kirche, denn nicht immer bin ich dort von Menschen umgeben, die ebenso ihre Verantwortung wahrnehmen. In der Kirche habe ich erneut sehr deutlich erfahren müssen, dass Menschen, die ganz klar in Verantwortungspositionen sind, ihre Verantwortung nicht übernehmen, schlimmer noch, nicht zur Verantwortung gezogen werden, da nicht von ihnen verlangt wird, Rechenschaft abzulegen. Der Papst nimmt Rücktrittsgesuche nicht an, Bischöfe warten auf ein Wort des Papstes, um Verantwortung zu übernehmen. Und kein Bischof steht mutig auf und empört sich darüber, dass auf die Ergebnisse von Gutachten und Recherchen keine ernsthaften Konsequenzen folgen.
Wie ich von mir selbst erwarte, Verantwortung zu tragen, erwarte ich im neuen Jahr, dass seitens der Bischöfe Verantwortung getragen und Rechenschaft abgelegt wird. Das „Nichts geahnt, nichts geahnt“ zieht schon lange nicht mehr.
… echten Diskurs.
Als Mitglied der Synodalversammlung werde ich häufig gefragt, welche Ergebnisse ich mir vom Synodalen Weg erhoffe, und was passiert, wenn die erhofften Ergebnisse nicht das Resultat dieses Reformprozesses sind. Das wird die große Frage für das Jahr 2022 sein: welche Konsequenzen müssen wir ergreifen, wenn ersichtlich wird, dass nicht genügend Resultate erzielt werden. Da der Synodale Weg noch nicht im Jahr 2022 endet, bleiben meine Erwartungen für dieses Jahr diesbezüglich zunächst andere: Ich erwarte – auch von den Bischöfen – einen echten Diskurs. Einen Diskurs, den die katholische Kirche noch lernen muss, in dem nicht jeglicher Kritik direkt das angebliche Wort des Herrn entgegengeschmettert wird.
… keine faulen Kompromisse.
Ich wünsche mir, dass weniger für mein Seelenheil gebetet und dafür mehr tiefe Diskussionen auf der Basis von Fakten statt Glaubensgewissheit geführt werden. Einen Diskurs, der ganz klar im Blick hat, dass wir systemische Ursachen für Missbrauch beseitigen müssen. Und wir müssen ganz dringend über Macht sprechen und sie nicht weiterhin als Dienst tarnen. In der Synodalversammlung müssen wir deutlich aufzeigen, wo Machtmissbrauch stattfindet, gegen einzelne Personen und auch durch die Struktur des Synodalen Weges. Wir müssen uns noch stärker vernetzen und zeigen, dass wir uns nicht wieder in einem „Dialogprozess“ verirren, der in eine Sackgasse führt.
Ich erwarte von mir selbst wie von den Bischöfen, dass wir uns nicht einreden, ein schwacher Kompromiss tut es auch und es gäbe dazu keine Alternativen. Ich erwarte, dass Menschlichkeit und Menschenwürde die rote Linie sind, die wir nicht übertreten.
Gewöhnlich schaue ich mit großen Erwartungen auf ein neues Jahr, formuliere Vorsätze und hoffe auf einen Neubeginn. Dieses Jahr fällt es mir schwer, meine Erwartungen an das neue Jahr aufzuschreiben, weil es mir so ernst ist mit meinen Wünschen. In mir hat sich in diesem Jahr viel bewegt und dadurch haben sich so einige Überzeugungen gefestigt. Meine Kritik an der Amtskirche bringt mit sich, dass ich immer wieder auch für mich ganz genau herausfinden muss, wofür ich in dieser Kirche kämpfe. Umso öfter mir in den letzten Jahren gesagt wurde, „du bist nicht katholisch“, umso mehr Hassbriefe es gab, umso genauer wusste ich für mich, dass ich mir das Katholisch-Sein von niemandem absprechen lasse, dass ich Menschenrechte in der Kirche geachtet sehen möchte, Frauen in allen Ämtern und Diensten, die Ehe für alle, echte Aufarbeitung, Rechenschaftspflicht und gewählte Ämter.
Für mich sind all diese Punkte Überzeugungen, die aus meinem Glauben heraus gewachsen sind. Gerade auch meine internationale Arbeit zeigt mir deutlich, welche Verantwortung wir tragen. Selten habe ich so genau gewusst, woran ich glaube – und selten habe ich mich so verloren gefühlt in dieser Kirche. Ich bin vorsichtiger geworden, meine Wünsche zu formulieren, denn einmal ausgesprochen, steckt Herzblut in diesen Erwartungen. Und ich weiß, dass ich mir dann Gedanken darüber machen muss, was passiert, wenn die Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Als Glück empfinde ich, nicht alleine, sondern in der Gemeinschaft der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) zu sein. Das gibt mir Mut und meinem Glauben eine sichere Heimat.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag saß ich im Gottesdienst und dachte nach der Predigt: Ich habe Glück, in einen Gottesdienst gehen zu können, in dem ich keine Angst haben muss, dass menschenverachtende Äußerungen fallen. Das Glück hatte ich in diesem Jahr häufig nicht. Ich habe mich entschieden, die Verachtung und das Unrecht noch einmal mit in das neue Jahr hineinzunehmen, und alle Kraft darauf zu verwenden, die Wut über diese Ungerechtigkeiten in Mut zu verwandeln.
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Text: Daniela Ordowski, Politikwissenschaftlerin, ist Bundesvorsitzende der Katholischen Landjugendbewegung Deutschlands (KLJB) und Mitglied der Synodalversammlung des Synodalen Weges.
Bild: privat