Ein Interview mit Tuğsal Moğul. Er arbeitet als Arzt und Theatermacher und inszeniert sein Stück AND NOW HANAU am Staatstheater Mainz. Anlässlich des fünften Jahrestags des rechtsterroristischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau hat Melanie Wurst mit ihm gesprochen.
Tuğsal Moğul: Ich komme gerade von der Demo am Rhein in Mainz.
Feinschwarz: Was hat das mit Ihnen gemacht, dass die CDU im Bundestag zusammen mit der AfD abgestimmt hat?
Tuğsal Moğul: Es war ein Schock. Und ich war unheimlich wütend. Ich habe im Auto via Radio die Debatte und die Abstimmung verfolgt, bin nach Mainz gefahren zu den Proben und war sehr wütend, als ich ankam. Wir haben erst einmal darüber gesprochen, bevor wir proben konnten. Dass die so billig Wahlkampf machen auf Kosten der Demokratie, das nimmt mir den ganzen Glauben. Es beschämt mich auch. Am Morgen noch die Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag und dann ohne Not diese Abstimmung. Es erstaunt mich ohnehin, dass man das alles in einen Topf wirft und instrumentalisiert: Aschaffenburg, Magdeburg. Hanau erwähnen sie nicht. „Endlich muss was getan werden“, sagen sie. Ja, warum ist denn nach Hanau nichts passiert?
Ich wünsche mir, dass Hanau und Magdeburg in einem Atemzug genannt werden. Nicht Magdeburg und Aschaffenburg. Warum macht das keiner? Warum widersprechen auch Journalist*innen nicht? Man spielt hier förmlich mit den Emotionen der Menschen. Natürlich ist das eine grausame Tat in Aschaffenburg, aber die so zu instrumentalisieren, bestraft die Eltern des getöteten Kindes doppelt. In Hanau gedenken sie, jetzt handeln sie. Das ist unfassbar.
Feinschwarz: Denken Sie manchmal konkret an „Tschüss, Deutschland, jetzt reicht es mir“?
Tuğsal Moğul: Ja, klar, ich habe beide Staatsangehörigkeiten[1]: Das ist gerade auch so eine absurde Idee, weil jemand eine doppelte Staatsbürgerschaft hat, könnte er ausgewiesen werden. Das sind die Gedanken, die auch beim Geheimtreffen der Rechtsextremen in der Potsdamer Villa formuliert wurden. Absurd, dass man sich darüber jetzt auch jenseits der AfD Gedanken macht und daraus Regularien erstellen will.
Natürlich denke ich darüber nach, wegzugehen. Ich bin hier geboren, bin Westfale, durch und durch deutsch. Ich habe kein Problem damit, zu sagen, dass ich mir kein anderes Land vorstellen kann, in dem ich lieber leben würde. Und trotzdem.
Eine Freundin hatte kürzlich eine Postkarte von mir gefunden und mir ein Foto davon geschickt. Als 1992 in Mölln der Anschlag war, habe ich in Lübeck Medizin studiert. Ich war beim Gedenken in Mölln und habe ihr dann diese Postkarte geschrieben: „Hallo, ich glaube, wenn es so weiter geht, kann ich mir vorstellen, dieses Land zu verlassen.“ Das hat mich wirklich erschreckt, als sie mir das kürzlich schickte. Anscheinend steckt das in einem drin, egal wie „passdeutsch“ du bist.
Ich wollte das so nicht mehr hinnehmen.
Feinschwarz: Was hat Sie dazu bewegt, solche Theaterstücke zu machen wie „Auch Deutsche unter den Opfern / NSU“ oder AND NOW HANAU?
Tuğsal Moğul: Das lässt einen ja nicht los. Seitdem ich denken kann, hat mich das mein Leben lang begleitet, solche Taten, die in Deutschland immer wieder passiert sind. Es fing an in den Neunzigerjahren mit der Wiedervereinigung. Die Taten nimmt man so nebenbei immer mit.
Als es mit den NSU-Morden begann in den Zweitausenderjahren hieß es erst: „Dönermorde“. Ich weiß das noch wie heute, dass ich damals das Gefühl hatte, hier passiert gerade etwas, das eher aus dem rechtsextremen Spektrum kommt. Nur die Hürriyet, also eine türkische Zeitung, hat anders berichtet und die Frage gestellt: Warum sterben so viele türkischstämmige Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen an so unterschiedlichen Orten in Deutschland?
Elf Jahre später, als sich das NSU-Trio selbst enttarnt hat, hat mir das erstmal die Schuhe ausgezogen. Das hat mich innerlich wachgerüttelt. Ich wollte das so nicht mehr hinnehmen: die Katastrophen, die Fehler, die Vermischung mit dem Verfassungsschutz, die Vertuschungen …
Ich bin dann nach München gefahren ans Oberlandesgericht zum NSU-Prozess: 13 mal war ich da. Dann habe ich das Stück geschrieben Auch Deutsche unter den Opfern / NSU-Morde.
Da habe ich gemerkt, was für eine Kraft und Energie das Theater hat. Wenn man sich Zeit nimmt, rekonstruiert. Bei mir ist es das Theater. Es gibt andere Wege: künstlerisch-bildende, journalistische, poetische.
Das Theater ist mein Handwerk. Und AND NOW HANAU gehört auch in die Spielpläne der deutschen Theater.
Feinschwarz: Was hat der rechtsextreme Terror am 19.2.2020 in Hanau mit Ihnen gemacht?
Tuğsal Moğul: Das war eine erneute Reaktivierung. Das hat mich nochmal sehr angefasst. Vor dem ersten Jahrestag habe ich Marcin Wierzchowskis Film Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen gesehen. Ich saß zuhause – das weiß ich noch wie heute – und habe geheult. Da habe ich dann entschieden, zum Jahrestag nach Hanau zu fahren, die Familien zu begleiten und daraus ein Stück zu machen.
Feinschwarz: Wie war das?
Tuğsal Moğul: Das war sehr aufregend. 2021. Es war viel los. Erstmal war es wichtig, da zu sitzen, aufzunehmen, was da ist. Es war sehr bewegend. Ich wusste, dass es vielleicht ein bisschen zu früh ist. Theater braucht ein bisschen Luft. Nicht so wie heute die Demo in Mainz. Da kannst du auf die Straße gehen und schreien und es ist gut. Aber Theater braucht ein bisschen Zeit. Der rechtsextreme Anschlag muss für eine theatrale Aufarbeitung ein bisschen ruhen und reflektiert werden.
Damals waren die Familien noch sehr stark in ihrer Trauer verhaftet. Aber ich habe mir auch kein Zeitlimit gesetzt.
Dann habe ich die Theater angeschrieben, viele. Es gab auch viel Interesse. Ich habe mich für eine Zusammenarbeit mit dem Theater Oberhausen/Münster entschieden. Wir haben dann die Ruhrfestspiele Recklinghausen als Partner gewonnen. Die Erstinitiative habe ich auf eigene Faust ergriffen. Ich wollte vor Ort sein, bei den Protesten in Hanau dabei sein. Nachdem ich das Go erhalten habe, habe ich zwei Jahre meine Recherchen intensiviert.
Feinschwarz: Sie haben recherchiert und viele Gespräche geführt, um zu dem zu kommen, was jetzt in Ihrem Stück zu sehen und zu hören ist.
Tuğsal Moğul: Ja, ich habe vor allem zugehört. Hab versucht, das Vertrauen der einzelnen Familien zu bekommen. Das war nicht einfach, aber das war die Voraussetzung, um das Stück machen zu können. Und ich war sehr froh am Tag der Uraufführung, dass wir uns gegenseitig umarmt haben und ich mich mit AND NOW HANAU bei den Betroffenen und Angehörigen bedanken konnte.
Feinschwarz: Das Stück ist ja eine Form von Aktualisierung, aber nicht voyeuristisch, sondern durch die Stellvertretung der Schauspieler*innen und die Präsenz dessen, was passiert ist, ist das ein ganz anderer Zugang.
Tuğsal Moğul: Das ist die Kraft des Theaters. Die Transformation mit professionellen Schauspieler*innen. Es ist keine Illusion und wir haben versucht, keine Fiktion zu verkörpern, sondern die Authentizität dessen, was passiert ist. Aber mit dem Handwerk von Schauspieler*innen. Das ist das Tolle, dass du als Schauspieler*in jeden Menschen verkörpern kannst. Egal ob das eine klassische Figur, ob das eine moderne Figur ist, ob das eine Täterfigur ist, ob das eine ermordete Figur ist. Dass man sich immer in diese Familien oder Rollen einlassen kann. Durch die Transformation des Künstlers eignet man sich eine Biografie an. Es war für die Spielenden nicht einfach, zum Beispiel Said Etris Hashemi zu repräsentieren. Aber sie machen das gern.
Hanau ist geschehen
und es hört nicht auf.
Feinschwarz: Dokumentarisches Theater hat auch einen politischen Charakter. Ist das auch ein Auftrag für Sie, das Geschehene möglichst vielen Menschen greifbar zu machen?
Tuğsal Moğul: Ich glaube, ich verarbeite so am besten. Ich positioniere mich mit meinen Arbeiten. Ich fühle mich nicht so stark darin, eine politische Rede zu halten. Aber ich merke, dass meine Stärke darin liegt, dass ich das nach einer bestimmten Zeit komprimiert veröffentlichen kann. Das empowert mich, das macht mich aktiver, ich fühle mich lebendiger und gesund. So kann ich das besser verarbeiten. Mir tut das gut, solange ich diese Kraft und Energie habe.
Auch weil ich die Möglichkeit hatte, Abitur zu machen und zu studieren, habe ich gedacht, dann muss ich auch Verantwortung übernehmen. Das hat mich bis jetzt immer begleitet. Das Gefühl ist ja da: Hanau ist geschehen und es hört nicht auf. Man könnte immer wieder ein Stück machen, aber es gibt halt eine begrenzte Energie und Lebenszeit. Ich bin heilfroh und dankbar, dass ich das gemacht habe.
Feinschwarz: Sie haben gesagt, dass viele Theater interessiert reagiert haben. Gibt es noch andere kulturelle und zivilgesellschaftliche Player*innen, die Sie gerne positioniert sähen?
Tuğsal Moğul: Ich rede ja als Mensch. Ich übernehme natürlich Verantwortung als Künstler und Arzt, das sind ja meine Berufe, aber gleichzeitig übernehme ich Verantwortung als Mensch, als Tuğsal. Jeder Mensch, der die Möglichkeit hat, auch in der Öffentlichkeit etwas zu erzählen, etwas zu bewegen, sich zu positionieren, sollte diese Verantwortung übernehmen.
Die Bischöfin, die bei Trumps Inauguration in der Kirche das Wort ergriffen hat, die hat die Chance genutzt. Was für eine Stärke! Sie hat im Gottesdienst an den Humanismus erinnert und daran, dass man an die denken sollte, die es schwer haben im Leben, und Erbarmen haben. Das ist überall möglich. Jeder Mensch kann das machen. Es braucht keine bestimmte Beauftragung.
Natürlich können Institutionen Rahmen schaffen, dass es möglich ist, das auszusprechen. Ich kenne das ja zum Beispiel im Krankenhaus. Institutionen tun sich schwer, brauchen manchmal länger, sich zu positionieren, ob es darum geht antirassistisch zu arbeiten oder um gendergerechte Sprache. Aber Institutionen haben auch eine Verantwortung für ihre Leute.
Wir können uns auch ein Beispiel nehmen an den Stimmen der Angehörigen in Hanau. Was sie für eine Zivilcourage zeigen. Wie sie mit Menschen und Institutionen reden. Das erstaunt mich immer wieder und bewegt mich. Welche Stärke die haben. Im Grunde haben die das Stück geschrieben. Nicht ich.
Ich wünsche mir, dass das
noch lange erzählt wird.
Feinschwarz: Jetzt ist der fünfte Jahrestag: Was bedeutet das für Sie?
Tuğsal Moğul: Das bedeutet für mich, dass alle Strafanzeigen eingestellt sind. Eigentlich sind nur noch wir übriggeblieben, die Ausstellungen machen, die Bücher veröffentlichen, die Angehörigen vor allem. Aber auch das Theaterstück, um die Erinnerung weiter aufrecht zu erhalten.
Ich wünsche mir, dass das lange noch erzählt wird, dass man seinen Enkelkindern noch von Hanau erzählen wird. Dass es wirklich ein Stück deutscher Geschichte wird und in alle Schulbücher kommt.
Ich glaube an die Kraft der Erinnerung. Es muss auch immer wieder erinnert werden, wir brauchen das. Es ist so vergänglich alles. Ich wohne im Norden, Hanau liegt in der Mitte Deutschlands. Je weiter du dich entfernst, desto weniger weiß die Mehrheitsgesellschaft davon. Ich habe Tests auf der Straße gemacht. Es ist ein Unterschied, ob du in Flensburg oder Frankfurt nach dem Anschlag in Hanau fragst.
Am Jahrestag spielen wir
in der Staatskanzlei
Feinschwarz: Wie ist es, das Stück nochmal näher an Hanau zu inszenieren?
Tuğsal Moğul: Die Arbeit in Mainz ist wichtig, um die Erinnerung nochmal zu stärken und zu stabilisieren. Das Theater ist sehr vergänglich. Aber wir haben so viele Anfragen überall, bundesweit. Ich glaube, es ist so wichtig, das auch nochmal hier zu machen. Es ist ja wirklich nah. Ein Brückenschlag nach Wiesbaden, wo der Landtag ist, in dem der Untersuchungsausschuss zu Hanau stattgefunden hat.
Am 16. Februar ist die Premiere im Landgericht in Mainz. Am 19. Februar, also am Jahrestag spielen wir es in der Staatskanzlei. 2025 werden wir in Weimar, Chemnitz, auch an vielen anderen Orten in Hessen und anderswo spielen (s.u.). Am 18. März sogar im Bundeskanzleramt.
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Titelfoto: Theater Oberhausen / Münster – Bettina Stöß
AND NOW HANAU – Termine
Mainz:
16.02.2025 → Premiere, 19.02.2025, 22.02.2025, 23.02.2025, 15.03.2025, 16.03.2025, 22.03.2025 (Weitere Termine: Staatstheater Mainz)
Münster: 22.04.2025 (Weitere Termine: Theater Münster / Theater Oberhausen)
Allgemeine Übersicht: www.tugsalmogul.de/termine/
Das Interview führte Melanie Wurst. Sie lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Theologin und Systemische Beraterin.
[1] Neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit.