Oktober – traditioneller Rosenkranzmonat – Maria geweiht: Frauen erzählen, was sie heute mit der Gebetsform anfangen und was ihnen Maria bedeutet. Elfriede Schießleder outet sich als Fan des Rosenkranzgebets.
Ich trete in unsere Kirche ein und seit frühester Kinderzeit das gleiche Ritual: Bis der Priester zur Messe kommt, beten fromme Seelen den Rosenkranz. Quasi nebenbei füllen die langsam hereinkommenden Gottesdienstbesucher*innen das Gotteshaus. Das maximal gedehnte „Geeegrüssät seist du…“, seine Intonation und der seltsame Sprachrhythmus wirken gruselig, verlieren für mich bis heute nichts von seiner bedrohlichen Fremdheit. Was beten die da? Eine Beschwörungsformel weit abseits jeder Alltagssprache? Diese „Vater unser“ mit den vielen folgenden „Ave Maria“ bewirken Segen?
Beschwörungsformel von bedrohlicher Fremdheit.
Lange war ich misstrauisch geblieben. Doch dann hat auch mich der Rosenkranz erwischt und zu seinem Fan gemacht. Wenn auch an einem ganz anderen Ufer, als Spiegel meines eigenen Lebens. Ja, er erhöht eigene Erfahrungen. Meinen Alltag. Meine Sorgen. Meine Ohnmacht. Er eröffnet Ordnung im Chaos. Stille. Geduld. Gelassenheit. Gegen alles Elend, das über mich hereinbricht. Und weckt in mir ungeahnte Kreativität. Zu seinen Gesätzen nämlich. Also den Sätzen, die nach der Erwähnung Jesu als gebenedeite Frucht aus Mariens Leib traditionell eingeschoben werden. Klassischerweise das Leben Mariens und Jesu in Erinnerung rufend. Nun werden diese Einschübe von mir mit aktuellen Übersetzungen transparent für meine Anliegen.
Stille. Geduld. Gelassenheit.
Aber nochmal zurück auf Anfang. Re-set also. Rosenkranz ist nichts für mich. Das Bild von der jungfräulichen Mutter, die huldvoll dem Dominikus eine Perlenschnur übergibt, haptische Zählhilfe für abzuleistende Gebetseinheiten, diese huldvolle Bewegung von oben nach unten, der zutiefst ergebene Empfänger, die Legitimation der steten Wiederholung – nein, all das ist mir keine Offenbarung des Ewigen. Dieses Beharren in der Endlosschleife, nein, nichts für mich, dachte, nein wusste ich!
Nach langer Zeit, genauer gesagt drei Söhne und etliche Berufsjahre als Pastoralreferentin später, geschah mir das Unerwartete: die kritisierte Endlosschleife ist eine Meditationstechnik, welche Entdeckung! Es beruhigt mein Herzrasen, verlangsamt den fliegenden Puls, zwingt die gehetzte Atmung zur Regelmäßigkeit und ermöglicht so (m)einen Ausbruch aus einem ewig gleichen Karussell von Gedanken, das mein Herz quält und meine Sorgen vervielfacht. Wer kennt ihn nicht, den ewigen Kreisel, der einen nicht schlafen lässt und sich endlos um dasselbe dreht? Ich habe Angst vor dem Untersuchungsergebnis des Arztes! Der Älteste hat solche Aussetzer in der Schule! Die Oma scheint sich in eine andere Welt zu verabschieden! Warum nur schaff ich es nicht mit dieser Klasse, dieser Aufgabe? So viele Probleme, ungelöste Situationen und meine typische Ungeduld. Dazu Hektik, Druck, Hilflosigkeit: genau hier, in dieser Zeit entdeckte ich die Segnung des Rosenkranzgebets. Ich brauche nicht selber denken, ich darf mich fallen lassen.
Mir geschah das Unerwartete.
Ein starker Anfang, das „Vater unser“ – alles drin, was ich brauche. Und ob ich nun bete, „Gott führe mich nicht in Versuchung“ oder „Gott führe mich durch die Versuchung“ oder „Gott führe mich in der Versuchung“ – alles gut, alles recht, je nach Stimmungslage, alles möglich. Hört ja auch niemand im privaten Gebet.
Und dann das „Gegrüßet seist du, Maria“. Endlich erscheint die Frau, die Mutter Weisheit, die große Mutter. Und der Sohn, er ist aus ihr gesegnet: Er, der ihre Güte, Gnade, Weisheit und Größe trägt. Ein starkes Paar, Mutter und Sohn, in deren Zweisamkeit das ganze Universum geborgen ist. Das Urbild göttlicher Vollkommenheit schlechthin. Und nun kommt mein kleines Universum dazu, in dem Gesätz, also Satz, der mein Leben mit der großen Fügung Gottes verknüpft.
- Jesus, der meine Geduld stärke,
- Jesus, der meinem Jüngsten Einsicht schenke,
- Jesus, der die Schwägerin in ihrer Not begleite,
- Jesus, der dem ängstlichen Schüler Kraft gebe,
- Jesus, der in dieser Klasse ein wenig mehr Interesse wecke,
- …
Ach, welche Vielfalt ist hier möglich! Meine ganze Phantasie kann sich entwickeln und immer wieder neue Anliegen finden, sich regelrecht austoben in dieser Gebetsform.
Austoben im Gebet.
Dazu kommen universale Orte zum Beten. Überall ist Gottes Geist, überall auch Gelegenheit, ihn anzurufen. Ein allerbester Ort etwa ist das eigene Auto. Einmal die Strecke zwischen Daheim und der Schule, ein andermal eine gefährlich-langweilige Autobahnfahrt, dann der Stau mit all seinen Ärgernissen. Im Rosenkranz liegt Ruhe, Segen erwächst für mich und meine Umgebung. Allein schon durch die Ruhe und Kontinuität der Kerntexte. Ach ja, Beifahrer*innen sollten schweigen können und Alleinfahrer*innen sind sowieso auf sich alleine gestellt. Der Rosenkranz kann immer begleiten. Inzwischen begleitet er mich sogar ins nächtliche Bett, wenn sich weder Ruhe noch Schlaf einstellen wollen:
- Jesus, der unserem jungen Paar eine gute Ehekultur finden lasse. Ach …
ICH habe es nicht in der Hand, Ich kann nichts dazu tun, nur beobachten und abwarten – ER hat es in der Hand. Ein/e Ehepartner/in möchte gern regelmäßig heim zu den Eltern, wie bisher auch. Der/die andere legt großen Wert auf eigene Wochenenden, allein, zu zweit oder mit Freunden, wie bisher auch. Doch Ehe heißt Neuanfang, Veränderung, eigene Lebenskultur. Klingt banal, ist es aber nicht.
Überall ist Gottes Geist.
Also die eigenen Sorgen in Gott geborgen sein lassen. Das bedeutet mir inzwischen das Beten des Rosenkranzes. Ordnung darf einkehren in mein Chaos, und – ganz Maria – Projektionsfläche für meine Nöte werden: Frau, was willst du? Natürlich geht mich so vieles aus dem Leben meiner Söhne nichts mehr an – aber Mutter-Sein hört halt nie auf.
Der Rosenkranz als persönlicher Kummerkasten und bewährtes Beruhigungsmodell? Ist das zu wenig? Oder viel genug, angesichts eines immer komplexer werdenden Lebens? Wo bleibt seine liturgische Dimension? Im Oktober bete ich ihn gerne mit Frauen gemeinsam – und weite die persönliche Betroffenheit am Beispiel von Schlagzeilen, die tagtäglich erschüttern. In der Gemeinde haben wir so eine Form gefunden, Gottes Segen über alle Not herabzurufen und sie betend zu betrachten.
Die Sorgen in Gott geborgen sein lassen.
Tausende obdachlose Flüchtlinge in Moria – und an anderen Orten der Welt: Jesus, der mit seinen Eltern selbst auf die Flucht nach Ägypten musste. Eine Frau, die ihr Neugeborenes erstickte und hinter Buschwerk versteckte: Jesus, den du, oh Jungfrau, im Stall in Betlehem geboren hast. Da leisteten wenigstens noch Hirt*innen Gesellschaft. Was hätte wohl diese verzweifelte Frau gebraucht? Eine Hinrichtung in den Staaten, obwohl der Delinquent seit Jahrzehnten seine Unschuld behauptet: Jesus, der Blut geschwitzt hat. Und Jesus, der am Kreuz gestorben ist – unschuldig, nur Wut und Lügen der Welt ertragend. Nun steht wohl der Hingerichtete vor ihm, wie sollte der nicht Gerechtigkeit erfahren – schuldig oder unschuldig? Wie oft wird von Festnahme und Verschleppung Oppositioneller in diktatorisch regierten Ländern berichtet: Jesus, der gegeiselt, mit Dornen gekrönt, ans Kreuz geschlagen wurde.
Ja, meine Phantasie und Kreativität lassen sich beim Blick in die Zeitung kaum bändigen. So viel Leid und Elend, das dem großen Gott, der in Gestalt seines Sohnes alles menschliche Leid selber getragen und erlitten hat, vertraut ist. Welche Größe, welche Unbegreiflichkeit, welcher Trost für die leidende Seele heute!
Andererseits gibt es Freude und Jubel, wenn sich etwa eine lang ersehnte Schwangerschaft einstellt: empfangen in Liebe und Sehnsucht! Oder das Gegenteil, ungewollte und unerwartete Lebenswenden, der sorgenvolle Blick in die Zukunft, mit bangem Herzen. Es gilt, „Ja!“ zu sagen wie damals Maria. Ja sagen und zu sich nehmen, wie Josef, der starke Mann an ihrer Seite. Nicht billig, einfach so, nein, sehr bewusst mit allem Weh und Ach das absehbar kommen wird, und doch: „Ja!“
Ich liebe den Rosenkranz!
Maria, in den Himmel aufgefahren – das gönne ich so mancher alten Dame, die unbeachtet blieb und dennoch wichtig für ihr kleines, alltägliches Umfeld war. Ihr Dasein sollte bei Gott ihren Lohn finden. Vor zwei Tagen ist meine Schwiegermutter gestorben, eine treue Seele voller Umsicht und Zuwendung, der Mittelpunkt ihrer Familie. Für sie finden sich heute Abend bestimmt besonders schöne Gesätze, wenn ganz traditionell zwischen Beisetzung und Beerdigung der gemeinsame Rosenkranz gebetet wird. Unsere ländliche Pfarrei lebt ihre Bräuche.
Ob das die Dogmatik zufriedenstellen würde? Das ist mir nicht wichtig, solange es hilft, Gottes Wort im Leben treu zu erkennen, ihm treu zu bleiben und frischen Atem zu verleihen. Manchmal lache ich über mich selbst, wie kumpelhaft mir dieses alte Gebet nahe kommt. Darf das Kleid, das altmodisch ist, nicht auch umgearbeitet werden? Upgrade nennt man das wohl, Recycling, oder auch Anleihe nehmen bei guten Traditionen. In jedem Fall macht es Freude und Hoffnung der Welt zu Freude und Hoffnung der Jünger, resp. Jüngerinnen Jesu. Darauf sollte es ankommen!
___
Text: Elfriede Schießleder,
Bild: Birgit Hoyer