Am 30. Mai 2022 starb der deutsche Schriftsteller und Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius (1943-2022). Hans Jürgen Benedict nimmt in seinem Nachruf auf die religiösen Wurzeln von Delius Bezug nimmt. In seiner eigenen Leidensgeschichte als Junge bringt dieser eine strukturelle Schwäche biblischer Texte und kirchlicher Rituale auf den Begriff.
Eines der schönsten Bücher, die der am 30.5.2022 im Alter von 79 Jahren in Berlin verstorbene Friedrich Christian Delius verfasst hat, ist seine Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Als ich jetzt Delius‘ Erzählung aus dem Jahr 1994 (Neuausgabe Reinbek 2004) wieder las, überraschte mich, wie sehr ich die ersten zwei Drittel seiner Erzählung, die sich mit der Lebens- und Glaubenswelt des Erzählers in einer Pastorenfamilie in dem hessischen Dorf Wehrda in den 50er Jahren beschäftigten, verdrängt hatte. Verdrängt hatte ich seine beredt geschilderte Leidenszeit in diesem kirchlichen Gefängnis der 50er Jahre.
Reportage des WM-Endspiels 1954 von Herbert Zimmermann.
In Erinnerung war mir vor allem das letzte Drittel mit der Reportage des WM-Endspiels 1954 von Herbert Zimmermann geblieben, die ich ja selber vor über 60 Jahren gehört hatte. Für Delius war diese Reportage die Befreiung aus der doktrinären Welt des Pastorvaters. War Befreiung aus der Routine der täglichen Gebetsrituale mit dem Dank für das Wunder des Brotes, Befreiung aus allen religiösen Machtansprüchen – durch die Sprachmächtigkeit eines Fußballreporters, der aus Versatzstücken religiöser Sprache, ein Wunder, Gott sei Dank, so haben wir gehofft und gebetet , aus Geistesgegenwart und aufgeregter Identifikation mit dem Schicksal der deutschen Nationalmannschaft eine sportlich-heidnische Gegenwelt aufbaute – und das im Amtszimmers des Vaters, in dem der einzige Radioapparat des Haushalts stand und wo der Erzähler, während die Eltern und Geschwister einen Mittagsschlaf halten, die Übertragung aus Bern hören darf.
Dem Zimmer mit all seinen religiösen Bildern und Gegenständen, den theologischen Büchern, dem Zimmer, wo der Vater seine Predigten schrieb, mit dem Bild des die 10 Gebote empfangenden Moses: „ Du sollst keine andern Götter haben neben mir“ und doch gefiel mir, noch immer gebannt von dem Nachklang der drei Silben Fußballgott, daß dieser Gott sehr menschlich war, daß diese Götter, statt blutend am Kreuz zu hängen, für mich im Tor standen oder Tore schossen, sich abrackerten im strömenden Regen und kämpften wie Liebrich, immer wieder Liebrich und langsam ahnte ich, weshalb meine Eltern für den Fußball und für meine schüchterne Neigung zu diesem Sport nichts übrig hatten und hier vielleicht die Konkurrenz anderer lebendiger Götter fürchteten.“(94) Der elfjährige Pastorensohn, stotternd und an Schuppenflechte leidend, ein unglücklicher Junge lauscht gebannt den Worten des Reporters in Bern.
Für zwei Stunden dem sonntäglichen Alarmzustand, dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen entronnen.
Mit dem schnellen 1:0 und 2:0 der Ungarn erfüllt sich zunächst die Erwartung, gegen diese Supertechniker keine Chance zu haben. Doch dann die beiden Tore von Morlock und Rahn zum nicht erwarteten Ausgleich noch in der ersten Halbzeit. Schließlich die entscheidende Szene: Schäfer nach innen geflankt, Kopfball abgewehrt, aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen, Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland! Drei zu zwei führt Deutschland fünf Minuten vor Spielende, halten Sie mich für verrückt. Nochmals gefährliche Angriffe der Ungarn. Doch dann der Aufschrei: Aus! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwei im Finale in Bern. Und der Kommentar des Erzählers, der weinen muss: „Ich fühlte deutlich, daß es mir für zwei Stunden gelungen war, dem sonntäglichen Alarmzustand, dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen entronnen zu sein.“(117)
Gefangen in dieser engen kirchlichen Welt einer Pastorenfamilie.
Er geht nach draußen, unter den Linden auf dem Kirchplatz stehend überkommt ihn „die Ahnung, was es heißen könnte, befreit zu sein von dem Fluch der Teilung der Welt in Gut und Böse, befreit von der Besatzungsmacht, dem unersättlichen Gott“.(117) Das sind starke Worte, nur zu verstehen auf dem Hintergrund der Schilderung seines Gefangenseins in dieser engen kirchlichen Welt einer Pastorenfamilie im ersten Teil der Erzählung. Die scheinbar intakte Welt eines hessischen Dorfes nahe der Zonengrenze mit der Kirche mitten im Ort und dem Pastor als einer zentralen Figur des Dorflebens, nur neun Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs. Mit einem sensiblen Pastorenkind, das die biblischen Geschichten, die kirchlichen Rituale und die elterlichen Erziehungsmaßnahmen ganz ernst nimmt und unter ihrer Einschüchterung leidet.
Nichts wird ausgelassen: Die morgendlichen Glocken, „die Glocken schlugen mich wach“, die absolute Feiertagsheiligung am Sonntag, die Vaterstimme während des Gottesdienstes, der Vater, der im Namen des Vaters sprach, ununterscheidbar für das Kind, und der sich nie Vati, Papi oder Papa nennen liess, der Vater auf der Kanzel, der den biblischen Geschichten einen menschlichen Ton zu geben versuchte, dazwischen der widerwillige Blick auf den Gekreuzigten, „Er hat auch für dich gelitten, ich konnte und wollte nicht einsehen, weshalb man soviel Leben aus einem Gequälten sog“(46), der Friedensgruß des Kanzelspruchs Er ist unser Friede, der den Jungen verwirrte, weil es nicht sein Friede war.
Es ist eine dicht gewebte Erinnerungserzählung, angetrieben von der seelischen Not eines Jungen.
Delius findet für diese Angst und Verwirrung auslösende kirchliche Sprach-und Ritualwelt eine rhapsodische Sprache, die von einer Ungeheuerlichkeit zur nächsten eilt, einem kaum Raum lässt aufzuatmen. Es ist eine dicht gewebte Erinnerungserzählung, angetrieben von der seelischen Not eines Jungen, der nicht die Freiheit seiner Kameraden hat, über die Pastorenwelt zu lächeln und der eine körperliche Symptomatik entwickelt, die er auch wieder biblisch verorten muß.
Er stottert, die Konsonanten wollen nicht herauskommen, sie verknoteten sich zwischen Zunge, Zähnen und Gaumen, besonders die Doppelkonsonanten, „ich haßte Wörter wie Glocken, Glaube, Gnade“(55), da stand er oft „schlotternd, stotternd mit rotem Kopf an der Sprache würgend, verfangen in Schuldgefühlen“(56). Und findet eine Erklärung in der Turmbaugeschichte von Babel, als Gott die Sprache der Menschen verwirrte. „Mein Stottern war der Beweis, daß ich in Babel dabei gewesen war (…) Ich trug die Babelgeschichte mit mir herum, trug sie in mir aus, ich spürte den Turm in meinem Körper wachsen.“(58f)
Töten als Liebesbeweis!?
Der Junge hat eine lebhafte Phantasie, und ein böser Höhepunkt der unglückseligen Sozialisationsrevue ist die Schilderung des Mittagessens mit dem Braten nach dem Gottesdienst, „sehet und schmecket, wie freundlich er ist der Braten,“ in der Delius die Doppeldeutigkeit der biblischen Worte bis zur Grenze des Zynismus auskostet, „bis vor lauter Gottesfleisch und Gottessoße und Gotteskartoffeln nichts mehr schmeckte, sondern ich nur noch aß.“(69ff) Und doch gleich darauf, ausgelöst durch das Messer, mit dem der Vater den Braten teilt, jene Identifikation mit Isaak, „ich war Isaak, gefesselt, vom Vater mit der linken Hand festgehalten, der mit der rechten mit dem Messer schon ausholte: Isaak konnte es nicht fassen, ich konnte es nicht fassen, was für ein Gott, der so etwas befiehlt.“(75) Töten als Liebesbeweis!? Der Junge fragt sich, wieweit würde mein Vater gehen, „das Ungeheuerliche war, dass der Schrecken des Kindes keine Rolle spielte in der Geschichte.“(78)
Delius versammelt in seiner Jugendgeschichte eines sensiblen Pastorensohns alle fragwürdigen Elemente kirchlicher Erziehung, verstärkt durch die dicht geschlossene Lebenswelt einer ländlichen Pastorenfamilie. Da gibt es wenig Lichtblicke, und wenn dann nur außerhalb der eigenen Familie bei Besuchen im Dorf, wo es alltagsweltlich-agrarisch zugeht. Er schildert sich als empfindsamen Jungen mit körperlicher Symptomatik, die Schuppenflechte, der aber in seinem Innern schon widerständig ist, weil er vieles in Frage stellt. Und der nun angesichts der Reportage vom Endspiel aus Bern eine umstürzende Befreiungserfahrung macht.
Ganz wird er das kirchliche Erbe nicht loswerden können.
Jene Erlösung, die Bibel und Kirche verkünden, vollzieht sich im Fußballspiel, genauer im Bericht des Reporters über das Endspiel. Ihn überfällt „die Ahnung, was es heißen könnte, befreit zu sein von dem Fluch der Teilung der Welt in Gut und Böse.“(117) Und zugleich weiß er, dass dieses Glück nur von kurzer Dauer sein wird. Ganz wird er das kirchliche Erbe nicht loswerden können, das im übrigen ja auch zu seiner Empfindungs- und Beschreibungskraft den Anstoß gab, ihn wohl zum Schreibenden mit machte. Selbst der „alte“ Delius arbeitet sich 2014 in seiner Erzählung Die linke Hand des Papstes und 2017 in dem in der FAZ erschienenen Brief an Martin Luther, dem er vorwirft, seine Reformation „versemmelt“ zu haben, an dem unglückseligen augustinischen Erbe der Christenheit noch einmal ab – gelassener, ironischer natürlich, aber es ist noch da.
Alles, was er anführt an Fragwürdigem in der christlichen Tradition, das gibt es.
Delius Erzählung gehört so in die große Tradition der Aufarbeitung unglücklicher religiöser Sozialisationsgeschichten – von Karl Philip Moritz Anton Reiser über Gottfried Kellers Grünen Heinrich, Hebbels Kindheitserinnerung bis zu Tilman Mosers Gottesvergiftung(mit dem Motto: „Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war.“) Sie ist anklägerisch, manchmal auch böse, aber sie ist nicht tendenziös einseitig und ungerecht. Alles, was er anführt an Fragwürdigem in der christlichen Tradition, das gibt es, und es ist nicht in jedem Fall vorauszusagen, ob das Menschenfreundliche oder das Menschenfeindliche darin die Oberhand behalten wird.
Gewiß – viele der angstmachenden Deutungen beruhen auf Missverständnissen der biblischen Aussagen – aber sind die Texte nicht auch an ihren Missdeutungen schuld? Arbeiten die kirchlichen Rituale nicht mit Drohungen des Heilsverlustes für den Fall, dass sie nicht richtig genutzt werden? Werden in den biblischen Konditionalsätzen nicht dauernd Strafen angedroht? Delius bringt in der Leidensgeschichte eines sensiblen Jungen eine strukturelle Schwäche biblischer Texte und kirchlicher Rituale auf den Begriff – sie sind missverstehbar und sie haben leider oft einen Drohaspekt. Und es kann geschehen, dass man sich von ihnen abwendet, bevor man ihren heilsamen Einfluss, ihren „Segensraum“ entdeckt hat.
Literarische Chronik der jüngsten deutschen Geschichte.
Das Bild des Pfarrer-Vaters ist in dem Roman Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde negativ gezeichnet. Sehr viel später in der kleinen autobiographischen Erzählung Die Zukunft der Schönheit aus dem Jahr 2016 lässt Delius aber diesem Vater Gerechtigkeit widerfahren. Delius erzählt, wie am 1. Mai 1966 ein junger deutscher Autor aus der hessischen Provinz in einem New Yorker Jazzclub die Macht der Musik erfährt. Es spielt der schwarze Saxofonist Albert Ayler mit einer Kraft und Schönheit, die den jungen Deutschen gefangen nimmt und ihn zu einer beredten Schilderung dieser Musik instand setzt. In diesem Zusammenhang denkt er an den frühverstorbenen Vater, der eben ein Mann des Wortes war und damit des Sohnes Sprachsensibilität beeinflusste, denkt an das „kräftige Lutherdeutsch“ und die „Schlagkraft der Choräle“, die sein Sprachempfinden und seine Empfindlichkeit gegen Hohlheit und Phrasen geschärft hätten.
F.C. Delius war stärker als die meisten seiner Kollegen der Chronist seiner Epoche. Wer sich seine Romane, Erzählungen und sonstigen Texte seit 1970 anschaut, der hat in gewisser Weise eine literarische Chronik der jüngsten deutschen Geschichte vor sich. Von Unsere Siemens-Welt über Die Birnen von Ribbeck, Mogadischu Fensterplatz, Mein Jahr als Mörder bis zu Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus, um nur die wichtigsten zu nennen, immer ist der Zeitbezug dominant. Bereits vielfach ausgezeichnet wurde Delius 2011 mit dem Büchnerpreis geehrt. Mit seinem Tod verstummt eine wichtige Stimme der deutschen Literatur.
Hans Jürgen Benedict, Hamburg, Prof. em., ist Theologe, Friedensforscher und Diakoniewissenschaftler.
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