Theres Spirig-Huber und Karl Graf führen in ignatianisch geprägte spirituelle Biografiearbeit ein. Der Jesuit Christian M. Rutishauser bespricht ihr Buch: „Ich werde, also bin ich“.
Karl Rahner hat von einer anthropologischen Wende der Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprochen und sie dadurch vorangetrieben, dass er die religiöse Erfahrung zu einem wichtigen Ausgangspunkt seines Denkens machte. Hans-Urs von Balthasar wiederum hat zur selben Zeit gefordert, dass die Biografien von heiligen Frauen und Männern zu einem theologischen Ort werden, um über Gott nachzudenken. Die Erkenntnisse, die gerade in einem bewusst an Gott ausgerichteten Leben entstehen, wären eine wichtige Quelle auch für die Schultheologie. So unterschiedlich die theologischen Entwürfe beider grossen Denker auch sind, sie vertrauen je auf die Lebensgeschichten als Ort theologischer Reflexion. Bis heute wird jedoch immer wieder beklagt, dass die theologisch-systematische Reflexion und gelebtes Christsein seit der Hochscholastik, besonders aber nochmals in der Moderne, auseinandergebrochen sind. Dies zeigt sich in jüngster Zeit in einer auch christlich neu aufblühenden Spiritualität, die kaum von theologischem Denken geprägt ist und selbst wiederum allzu wenig Einfluss auf dieses hat.
Gerade in der Exerzitienarbeit (…) kommen gelebte Spritualität und Bedenken des Glaubens zusammen.
Umso erfreulicher ist, dass gerade in der Exerzitienarbeit, die auf Ignatius von Loyola zurückgeht und durch die sowohl Rahner wie auch Balthasar geprägt worden sind, gelebte Spiritualität und Bedenken des Glaubens zusammenkommen. Seit einiger Zeit wird der Lehrgang für Exerzitienleitung und geistliche Begleitung der Schweiz denn auch vom Lassalle-Haus Bad Schönbrunn in Kooperation mit der Theologischen Fakultät in Fribourg verantwortet. Dass eine geistliche Ausbildung mit einem universitären MAS-Abschluss abgeschlossen werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Charisma und Reflexion beissen sich zuweilen, können sich aber auch tief befruchten.
… dass sich die Lebensgeschichte des einzelnen Menschen mit der Heilsgeschichte verbindet
Im Kontext von Exerzitienkursen, spirituellen Seminaren, geistlicher Begleitung sowie Gremien- und Führungsarbeit ist auch die hier vorzustellende neue Publikation in der Reihe der «Ignatianischen Impulse» entstanden. Sie wendet sich der Biografiearbeit zu, die in den letzten Jahren sehr populär geworden ist. Die offene Gesellschaft mit ihrer immer geringeren Rollen-, Normen- und Wertezuschreibung für den einzelnen Menschen, zwingt heute jeden Mann und jede Frau die eigene Biografie bewusst zu gestalten und eine gewisse Persönlichkeitsbildung selbst in die Hand zu nehmen. Hier knüpft das Buch von Theres Spirig-Huber und Karl Graf an, ohne zu einer postmodernen, individualistischen Selbstverwirklichungsanleitung und zu einem frommen Lebensberater zu werden. Vielmehr betonen die Autoren: «Spirituell orientierte Biografiearbeit will sich in der Auseinandersetzung mit er eigenen Biografie im Horizont der grossen Geschichte der jüdisch-christlichen Tradition dem Wirken von Gottes Geistkraft öffnen.» (S. 13) Es geht also darum, dass sich die Lebensgeschichte des einzelnen Menschen mit der grösseren Heilsgeschichte verbindet und sich von ihr durchdringen und mitformen lässt. Entsprechend wird im Buch auf psychologische Entwicklungsmodelle von Carl G. Jung und Erik H. Erikson zwar zurückgegriffen, doch werden sie zugleich durch philosophische Reflexionen eines Emanuel Levinas aufgebrochen, der vom «Humanismus des anderen Menschen» sprach. Der Andere und das Kollektiv gehören für die jüdisch-christliche Tradition, die im Buch immer wieder herbeizitiert wird, konstitutiv zusammen.
Kriterien für christliche Biografiearbeit
So werden in den ersten Seiten des Buches Kriterien für christliche Biografiearbeit aufgestellt: die jüdisch-christliche Sinnperspektive, das narrativ Bekennende, das Leid und Schuld Aussprechende, das Zukunft Erhoffende, das Dialogisch-Engagierte und das Schöpferisch-Verändernde. (S. 19-24) Daraufhin werden von Gott geprägte Lebensberichte in Bibel und Tradition beispielhaft zitiert. Leider sind gerade diese wertvollen Ausführungen etwas sehr kurz ausgefallen. Die «Bekenntnisse» eines Augustinus, die «Vida» der Teresa von Avila und der «Pilgerbericht» des Ignatius von Loyola erhalten dann etwas mehr Raum. Schliesslich wird der erste Teil des Buches damit beschlossen, dass eine nicht geringe Anzahl von Haltungen und Handlungen, Perspektiven und Zugänge zum Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte vorgestellt werden, die aus dem Geist der ignatianischen Spiritualität und der Exerzitien stammen: den dankbaren Blick, die innere Freiheit und engagierte Gelassenheit – es gilt sie einzuüben wie auch Krisen zu wagen. Auch der Mut, das Leben in aller Brüchigkeit zu feiern, wird erwähnt, um nur einige Punkte zu nennen.
Entscheidungssituationen (…), aber auch Konflikte und Sinnkrisen rufen dazu, das eigene Leben neu zu deuten.
Der zweite Buchteil will konkrete Anweisungen zu spirituell geprägter Biografiearbeit geben und stellt vor allem eine Fundgrube von verschiedensten Übungen dazu dar. Zunächst wird aber die Frage gestellt, wann die Biografiearbeit überhaupt sinnvoll ist. Entscheidungssituationen, Neuorientierung im Leben und Übergangsphasen, aber auch Konflikte und Sinnkrisen rufen dazu, das eigene Leben neu zu deuten und zu lesen. Auch zu jeder geistlichen Begleitung gehört es, aus verschiedenen Blickwinkeln zu verstehen, wie ein Mensch das geworden ist, was es er nun darstellt, um daraus ein Weitergehen abzuleiten oder sogar eine tiefere Berufung zu finden. Die Klärung von Motivation, Fokus, Erwartungen und Fragestellungen sei wichtig für die Biografiearbeit, um entsprechend vorzugehen. (S. 48f) Die zahlreichen Übungen, die folgen, können alleine im Alltag gemacht werden oder sind Anleitungen für die Arbeit mit Gruppen. Aus ihrer konkreten Seminartätigkeit stellen die Autoren Biografiearbeit zur Lebensmitte, zur Pensionierung und zum Älterwerden vor. Wie spirituelle Lektüre des Lebens gerade auch zur Einübung ins letzte Loslassen und ins Sterben werden kann, wird im vorletzten Kapitel thematisiert. (S. 92ff) Gelebtes, selbstverantwortetes und sinnvoll geordnetes Leben ist die beste Vorbereitung auf den Tod. Geschlossen werden die Ausführungen jedoch nicht damit, sondern mit der Bestimmung eines jeden Menschen, ein Segen für Andere zu sein. Damit weist Biografiearbeit, die sich an der Heiligen Schrift und ihrer Lebensweisheit orientiert, wesentlich über die Selbstsorge hinaus.
Wegweiser zu einem Leben, das gelernt hat mit Gott zu rechnen.
Der vorliegende, kleinformatige Band mit nur 96 Seiten ist ein wertvoller Wegweiser zu einem Leben, das gelernt hat, mit einem handelnden Gott zu rechnen. Gott ist nicht nur in Natur und Schöpfung zu erfahren, sondern in der konkreten, vom Alltag geprägten Lebensgeschichte. Theres Spirig-Huber und Karl Graf stellen Anregungen zusammen, wie heute wieder an die Vorsehung Gottes geglaubt werden kann. Nicht dass sie als ein fixer Plan Gottes für den Menschen zu verstehen wäre. Vielmehr ist sie die Begleitung und Führung, die jene erfahren, die sich auf eine partnerschaftliche Lebensführung mit Gott einlassen. Der Talmud bringt diese Lebenshaltung auf den Punkt, wenn er die Sentenz formuliert: «Der Mensch wird des Weges geführt (von Gott), den er wählt.»
P. Christian M. Rutishauser SJ
Buch:
Theres Spirig-Huber/Karl Graf: Ich werde, also bin ich. Biografiearbeit – spirituell. Hinführung und Übungen. Würzburg, Echter 2016 (Ignatianische Impulse 71) 96 S. ISBN 978-3-429-03927-1