Friederike Erichsen-Wendt schildert ihre Eindrücke während der Taufaktion in der Kasseler Friedenskirche und nimmt praktisch-theologische Einordnungen auf der Schwelle zu neuen Gelegenheitskulturen vor.
Im Vorfeld einer öffentlichen Einladung zur spontanen Taufe „Für Dich. Segen spüren. Taufe erleben“ in Kassel war ich gebeten worden, den Nachmittag im Sinne einer qualitativen Feldforschung zu dokumentieren und auszuwerten. Da der Andrang an Taufwilligen deutlich größer war als erwartet, war mein „going native“ an diesem Tag stärker als geplant und ich war durchgängig „mit Taufen beschäftigt“. Vor diesem Hintergrund und mit dieser sehr subjektiven Einschränkung ist dieser Text entstanden.
„Mein Leben lang habe ich auf einen solchen Moment gewartet, da kommt es auf diese Stunde nun auch wirklich nicht an“, sagt M. (67). Inzwischen ist es still geworden in der Kasseler Friedenskirche. 37 Menschen sind hier heute schon getauft worden: Babys in vererbten Taufkleidern mit großen Familien und stolzer Oma. Entschlossene Erwachsene, die allein kommen und denen nach wenigen Momenten, in denen ihnen jemand zuhört, das Herz aufgeht. Als K. an seinem 60. Geburtstag in der Straßenbahn von der Taufaktion liest, fasst er einen Beschluss: Das wird der Tag sein, an dem er Gott „Danke“ sagen wird, dass er sein widriges Leben bis hierher so gut geschafft hat. Oder eine Frau, mitten aus dem Leben, die sagt: „Ich war immer inoffiziell Christin. Und heute soll das anders werden“.
D. ist „vor 30 Jahren ein neuer Mensch geworden und möchte deshalb jetzt endlich neu getauft werden“. Seine Lebensgefährtin R. begleitet ihn und trifft „vor der Kirchentür“ die Entscheidung, für sich eine Tauferinnerung zu wollen. Ich erkläre, weshalb in den Kirchen nicht „neu“ getauft werden kann und schlage auch D. eine Tauferinnerung vor. Er ist merklich enttäuscht. Ich schlage das eine und andere vor, damit sein Anliegen einen guten Platz bekommt. Mitten im großen Kirchenraum entsteht ein besonderer Ort. Die Tauferinnerung schlägt einen weiten Bogen von Erinnerungen. R. wird hinterher sagen: „Das war schöner als heiraten“.
Dazugehören in progress.
Dazugehören kann heute offensichtlich – analog zum schleichenden Austritt – das Ergebnis eines langandauernden, jahrzehntelangen Prozesses sein. Stimmiges Erleben, die Einordnung biografischen Erinnerns und auch der einfache Weg, an diesem Tag die Schwelle zur Kirche zu überwinden, spielen eine wichtige Rolle. 89% der „Kirchlich-Religiösen“ unter den Kirchenmitgliedern und immerhin auch 58% der „Säkularen“ stimmen laut einer EKD-Studie aus dem März 2024 der Aussage zu: „Ich empfinde es so, dass mir Repräsentanten der Kirche nicht vorgeben, was ich zu glauben habe, sondern ich als Kirchenmitglied selbst darüber bestimmen kann, was die Kirche ist.“
Hier und da wird in Kirchen derzeit sichtbar, wo es der Organisation gelingt, Räume zu schaffen, in denen Menschen autonom ihrem Glauben Ausdruck verleihen können. Eine stimmige Atmosphäre, freundliche Menschen, geplante Abläufe, Möglichkeiten zum Verweilen, zum Ausloten eigener Nähe und Distanz, Getränke und gute Erreichbarkeit machen es leicht, dabei zu sein. Wer dabei ist, weiß genau, weshalb er oder sie getauft werden möchte und kann dies zum Ausdruck bringen, oft jenseits traditioneller Bekenntnislogik.
Die Taufenden umgekehrt benötigen nicht nur die Fähigkeit, dies aufzunehmen und angemessen liturgisch zu formatieren, sondern ganz allgemein die Kompetenz, autonome Einstellungen dazu, „was Kirche ist und Taufe bedeutet“, zu orchestrieren. Es könnte sein, dass es für diejenigen besonders leicht ist, die sich bewusst sind, dass sie selbst autonome Einstellungen zu dem haben, „was Kirche ist“. Eine liturgische „Werkbuchlogik“ hilft im Blick auf verantwortliche, kurzfristige Flexibilisierung liturgischen Handelns, die Voraussetzung ist für die Anforderungssituationen, die in diesem Format auftreten. Was in der pastoralen Berufskompetenzdebatte seit einiger Zeit im Grundsatz verhandelt wird, tritt hier konzentriert auf: Die Transformation von biografischen Vignetten in plausible theologische Deutungskontexte in sehr kurzer Zeit, das Management von Schnittstellen zwischen alltäglichem Sprechen und liturgischem Setting, das Handling von mehreren Kasualsettings gleichzeitig, die Orientierung im Spannungsfeld zwischen „Anleitung“ und z.T. hoher Religionsproduktivität aller Beteiligten (Menschen reden bei der „Ansprache“ mit, machen Segensgesten mit, wirken „plötzlich“ mit).
Rechtfertigung der eigenen religiösen Geschichte durch Kontakt zur Kirche.
Der Zusammenhang von Kirchenmitgliedschaft und Inanspruchnahme kirchlicher Angebote ist überwiegend nicht mehr plausibel. Gerade im Blick auf die Taufe, die derzeit notwendiges Kriterium für Kirchenmitgliedschaft in Deutschland ist, ist diese Beobachtung gravierend. Zugleich zeigt die aktuelle KMU6, dass Menschen Kontakt zu Religiosität vornehmlich über Kontakt zu Kirchen erlangen. Dabei sind 5% der sog. „Kirchlich-Religiösen“ konfessionslos, bei den „Religiös-Distanzierten“ sind es 18%.
Die Taufquote lag bis 2020 relativ stabil, mit leicht sinkender Tendenz, bei 70%, brach pandemiebedingt in der Folge deutlich ein, mit „Nachholeffekten“ in 2022. Taufbereitschaft ist in älteren Alterskohorten höher als bei Jüngeren; sie sinkt in Partnerschaften deutlich, wenn ein Partner konfessionslos ist. Trotz dieser Effekte sinkt die Taufbereitschaft langsamer als Religiosität im Allgemeinen. Dies könnte darauf hindeuten, dass es besonders plausibel sein könnte, Christsein als Lebensstil zu profilieren gegenüber der Taufe als Integration in ein Religionssystem. Gerade in einer minderheitlichen Kirche drängt dieser Lebensstil auf Anerkennung. Die Taufe ist eine Möglichkeit, diese Anerkennung zu erhalten – durch eine community gemeinschaftlichen Feierns auf Zeit, durch die Symbolpolitiken des Kirchlichen in Gestalt von Kirchraum, Talar und Urkunde.
Aktuelle Kasualkultur als Herausforderung der regionalen Kirchenentwicklung.
Der Praktische Theologe Christian Albrecht fragte bereits angesichts einer Evaluation von Segenshochzeiten 2022, ob Kirche perspektivisch einen „religiösen und spirituellen public service“ überhaupt einhalten könne. Die Frage betraf die Dichte, die Breite und die Dauerhaftigkeit solcher Formate und ist anhaltend aktuell.
Die faktische Abkehr vom normativen Sonntagsgottesdienst ist mindestens strukturell noch nicht vollzogen: Um Engagierte zu entlasten, sind dauerhaft vorgesehene Finanzierungsmöglichkeiten zur Förderung des kirchlichen Wandels als Grundaufgabe kirchlichen Handelns vonnöten. Findungskompetenz bezieht sich gegenwärtig und zukünftig eben genau nicht allein auf Innovationspotenzial, sondern wird das „neue Normal“, um als Kirche mit Menschen in Kontakt mit Religion zu kommen. Die Daten der KMU6 zeigen eindrücklich, wie sehr grundlegende Reformen der Kirche erwartet werden, und zwar unabhängig davon, ob Menschen sich einer verfassten Kirche hoch oder lose verbunden fühlen: 80% stimmen zu, wenn es darum geht, Grundlegendes zu verändern.
Diese „neue Normalität“ wird auch in einer kleiner werdenden Kirche vielfältig und divers verfasst sein. Sie wird auf unterschiedliche Bindungslogiken ebenso eingehen wie auf den Umstand, dass die konkreten Akteure und Rahmenbedingungen an einem Ort über Schwerpunktsetzungen im kirchlichen Leben sowie eine Grundausrichtung an traditioneller oder gegenwartshermeneutischer Ausrichtung maßgeblich mitentscheiden.
Erprobungen finden perspektivisch weniger im Bereich der liturgischen Formen statt, weil es hier schon viel Wissen gibt, das sich zunehmend vernetzt. Der zentrale und auch dringliche Erprobungsraum ist das Thema Ressourcen: Wofür wird wer bereit sein, was zu investieren?
Das initiale Engagement von Haupt- und Ehrenamtlichen verschleiert den nötigen Personaleinsatz. Die Evaluation von #deineTaufe in 2023 hat gezeigt, dass die Kampagnenarbeit meist zusätzlich zum „Tagesgeschäft“ erledigt wurde. In Kooperationen, gemeindeübergreifenden Projekten und konzertierter Themenkommunikation wird in einer kleiner werdenden Organisation viel stärker und auf der Basis ehrlicher Daten gefragt werden müssen, was prioritär sein soll.
Warum darf die Gottesdienstgemeinde davon nichts sehen?
Der Rückbau des Kirchraums geht dann am Ende ganz schnell. Weshalb werden keine Spuren zugelassen? Warum darf eine Gottesdienstgemeinde am Sonntag nichts davon sehen, spüren oder hören, was am Tag zuvor geschah? Profitieren christliche Lebensformen etwa auch davon, dass sie sich möglichst gut voneinander abgrenzen? Wird sich eine Rückwirkung des neuen Kasualformats mit seiner Ereignisorientierung, Serialität in der Fläche und hohen Sichtbarkeit im öffentlichen Raum auf das traditionelle Kasualangebot der örtlichen Kirchengemeinden ausmachen lassen?
Der von vielen Menschen geschilderte lange Entscheidungsweg hin zur Taufe lässt danach fragen, ob und wie Kirchen hier Kontaktpunkte definieren und bespielen können oder ob die situative Wachheit und öffentliche Kommunikation solcher Formate im guten Sinne ausreichen, damit Menschen sich auf den Weg in eine Kirche machen. Dies wird eine Kirche sein, von der sie für ihre eigenen Religionsproduktivität Haltung, Impuls und Orientierung erwarten, „ganz offiziell“.
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Bild: privat/zakariaziad