Armut wird aktuell zu einem drängenden gesellschaftlichen Thema – und das nicht nur am Rand, sondern bis in die Mitte hinein. Christoph Naglmeier-Rembeck mit Anstößen zum Hinschauen – ausgehend von #ichbinarmutsbetroffen.
Den Stein ins Rollen gebracht hat Anni W. mit Ihrem Tweet am 12. Mai:
#IchBinArmutsbetroffen
Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Nur ein kleiner Tweet zu euch. Lasst uns zeigen, wer wir sind (nicht zwingend mit Foto!), dass wir KEINE Zahlen sind. Ob H4, Rente, Aufstocker oder oder oder ^^[1]
Auslöser für ihren Tweet sei ein Artikel mit der Aussage gewesen, dass Hartz-IV-Empfänger*innen, denen die Bezüge nicht ausreichen, nicht mit Geld umgehen können. Anni W. erhofft sich durch die Aufmerksamkeit „noch mehr Sichtbarkeit.“ Ihr ist es wichtig, „dass so viele Menschen wie möglich zeigen: Wir räumen mit dem Klischee auf.“ Jessi E. fügt hinzu: „Wir wollen auf jeden Fall wahrgenommen werden als die Menschen, die wir sind.“[2]
Die Initiative lenkt den Blick auf unterschiedliche Erfahrungsdimensionen von Armut, jenseits von absoluten Zahlwerten, die für sich stehend schon alarmierend genug sein sollten. So hat sich zum Beispiel das Problem der Verfestigung von Armut im Lebenslauf in den letzten Jahrzehnten in Deutschland – anders als vielleicht angenommen – verschärft. Die Wahrscheinlichkeit, auch künftig der sozialen Lage „Armut“ anzugehören, lag in den 1980er-Jahren noch bei 40 Prozent, bei heute armen Menschen sind es 70 Prozent.[3]
Alltagsprobleme von Armutsbetroffenen werden sichtbar
Durchforstet man das Internet mittels des oben genannten Hashtags, werden Alltagsprobleme von Armutsbetroffenen sicht- und lesbar:
- Das Mittagessen in der Werkstatt für behinderte Menschen kostet zwei Euro, bei einem Verdienst von zwei Euro pro Tag.[4]
- Die Gebühren für den neuen Personalausweis sind zu hoch.[5]
- Das 9-Euro-Ticket lohnt sich nicht, weil die Einführung als Gewinn auf den Hartz-IV-Satz angerechnet wird und das Ticket damit 31 Euro kosten würde.[6]
- Ein Paar konnte in 18 Jahren Beziehung keinen Urlaub machen oder auch nur eine größere Feier veranstalten.[7]
- Die Teilnahme am Biergartenbesuch gemeinsam mit den langjährigen Freund*innen ist nicht mehr möglich.[8]
- Die schimmelige Ecke des Brotes wird wegschnitten und der Rest wird getoastet, weil kein Geld für den Einkauf vorhanden ist.[9]
- Das Sonnenspray gegen die Sonnenallergie kann man sich nicht leisten.[10]
- An der Kasse fehlt das Geld für die 20-Euro-Rechnung, sodass essenzielle Lebensmittel zurückgelegt werden müssen.[11]
- Hobbys, Freizeitgestaltung und der Besuch von kulturellen Veranstaltungen sind nicht möglich.[12]
Diese stichprobenartige Auswahl zeigt, wie komplex und vielschichtig der Bereich der relativen Armut ist. Anders gesagt: Armut bedeutet nicht nur finanziell-monetäre Einschränkungen, sondern hat auch massive Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche. Fehlt das Geld, leidet oft die Gesundheit und die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe darunter.
Das Bild weitet sich nochmals, wenn die Kritik des Deutschen Caritasverbandes am sechsten Armuts- und Reichtumsbericht (2021) der Deutschen Bundesregierung herangezogen wird. Menschen mit geringem Einkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle sind kaum repräsentiert, obwohl sich diese häufig in prekären Lebenslagenlagen befinden und bedroht sind, permanent in die sich verfestigende Armut abzurutschen. Die Pandemie führt darüber hinaus dazu, dass Menschen mit Migrationshintergrund besonders betroffen sind. Auch Menschen im Strafvollzug bleiben unberücksichtigt, obwohl sich ihre Situation durch die Kontaktbeschränkungen und die massive Erhöhung der Zelleneinschlusszeiten bedeutend verschlechtert hat. Zudem sind die Folgen von Armut für junge Menschen kaum berücksichtigt. Gerade die Kontaktbeschränkungen durch die Pandemie führen zu einer psychischen Belastung, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden sind die Folgen.[13]
Papst Franziskus zum Welttag der Armen 2021
Diese gesamtgesellschaftlich anzugehenden Problemlagen rühren auch an das Innerste christlichen Glaubens. Papst Franziskus stellt Armut nicht nur mit seiner Namenswahl in das Zentrum seiner Verkündigung, wenn er anlässlich des 5. Welttags der Armen 2021 in seiner Botschaft »Die Armen habt ihr immer bei euch« (Mk 14,7) verkündet:
„Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass die Armen wahrhaft evangelisieren, weil sie zuerst evangelisiert und berufen wurden, die Seligkeit des Herrn und sein Reich zu teilen (vgl. Mt 5,3). […] Die Armen sind keine ‚Außenstehenden‘ in Bezug auf die Gemeinschaft, sondern Brüder und Schwestern, deren Leid geteilt werden muss, um ihre Not und Ausgrenzung zu lindern, damit ihnen so die verlorene Würde zurückgegeben und die notwendige soziale Inklusion gesichert wird. Zudem ist bekannt, dass eine wohltätige Geste einen Wohltäter und einen Empfänger der Wohltat voraussetzt, während das Teilen Geschwisterlichkeit wachsen lässt. Das Almosen ist etwas Gelegentliches; Teilen ist dagegen dauerhaft.“
Die von Armut betroffenen Menschen als wahrhafte Evangelisier*innen sind nicht Außen- oder am Rand Stehende, sie gehören in das Zentrum kirchlichen Selbstverständnisses und kirchlicher Vollzüge. Aber wie lässt sich das umsetzen? Folgende Perspektiven scheinen von Bedeutung zu sein.
Armut ist relativ und intersektional.
Armut ausschließlich in absoluten Kategorien mittels ökonomischer Zahlenwerte zu fassen, wäre verkürzt gedacht. Ein weit gefasster Armutsbegriff, der die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe und die Relevanz subjektiver Armutswahrnehmung als Kriterien annimmt, hat den Vorteil, die relationale und intersektionale Pluralität von Armutsdimensionen in den Blick zu nehmen. Besonders die theologische Auseinandersetzung mit Intersektionalität steckt noch in den Kinderschuhen und bietet viel Potential für epistemologische Fortschritte hinsichtlich der strukturellen Bedingtheit und der Vielschichtigkeit von Armutsphänomenen und dem eigenen Anspruch, armutsbetroffene Menschen im Zentrum von Kirche zu verorten.[14] Darüber hinaus ist die theologische Rede von Armut auf die Gefahr hin kritisch zu hinterfragen, dass „nicht erneute Ausschließungen entstehen bzw. dass die alten Ausschließungen unter veränderten Vorzeichen nicht fortgesetzt werden“ und die Rede von der Option für die Armen nicht zu einer „paternalistisch-programmatischen Leerformel“ wird.[15]
Diakonie ist zentral, kein outgesourctes Nebenprodukt.
Die Diakonie, also die dienende, zuwendende Nächstenliebe und aktive Hilfe für Mitmenschen, ist als unverzichtbare Grunddimension kirchlichen Handelns zentral für kirchliche Handlungsvollzüge. Daher reicht es nicht, sich auf das Outsourcing der Hilfsleistung an den Caritasverband zu verlassen und sich mit der professionalisierten Caritasarbeit als kirchlichen Ort der Diakonie zu begnügen. Vielmehr ist zu fragen: Wie kann die Kirche als Institution diese professionalisierte Hilfsarbeit in ihre sozialen Kontexte einbetten und die Erfahrungen dieses professionellen Sektors permanent wahrnehmen?[16]
Fragen wie diese bedürfen einer armutssensiblen Bearbeitung und eines öffentlichen Eintretens und Ermahnens an der Seite von Armutsbetroffenen.
Armutssensible Verkündigung
Die Auseinandersetzung mit sozialpolitischen und kapitalistischen Asymmetrien zu Ungunsten benachteiligter Menschen und das Eintreten für diese ist essenziell für eine Kirche, die sich um die Möglichkeit des gelingenden Lebens aller Menschen sorgt. Wo ist Armut vorzufinden, wer sind die von dieser Armut Betroffenen und wo haben Sie einen Platz in unserer Kirche? Und wenn ja, welchen? Und in welchem Verhältnis steht die Kirche als Institution zu den kapitalistischen Strukturen der Gesellschaft von heute?[17] Fragen wie diese bedürfen einer armutssensiblen Bearbeitung und eines öffentlichen Eintretens und Ermahnens an der Seite von Armutsbetroffenen.
Einladen in kommerzfreie Räume
Gibt es Räume, in denen armutsbetroffene Menschen ohne finanziellen Einsatz aktiv am Sozialleben teilhaben können? Kommerzfreie Räume, die eine soziale Teilhabe losgelöst von kapitalistischen Marktmechanismen ermöglichen? Kirchliche Räume können mit einer kommerzfreien, niedrigschwelligen, passageren und ungezwungenen Einladungspraxis einerseits diese Lücke füllen und andererseits dem diakonischen Grundauftrag nachkommen. Besonders in den Formen und Räumen der Citypastoral scheint das Potenzial einer „Pastoral der solidarischen Präsenz“ angelegt zu sein, die „nicht im Sinne eines bloßen Daseins im Raum der Seelsorge“ zu verstehen ist, sondern mit einer „politisch-gesellschaftlichen Intention“ einhergeht. Es geht um die „Präsenz in Grenzbereichen, das Aufdecken von versteckter Marginalisierung und der Beitrag zu deren Überwindung“ in Räumen, die von breiter Zugänglichkeit geprägt sind.[18]
Die Auseinandersetzungen mit Diskriminierungserfahrungen, die in der Theologie aktuell geführt werden, bieten für den Armutsdiskurs einige Anknüpfungspunkte und Einbettungsmöglichkeiten. Und damit die Möglichkeit, in der Vielstimmigkeit der theologischen Fachrichtungen artikuliert zu werden.[19]
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Autor: Christoph Naglmeier-Rembeck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Fakultät für Katholische Theologie, Universität Regensburg
Beitragsbild: Andrew Khoroshavin auf Pixabay
[1] https://twitter.com/Finkulasa/status/1524689204520927237, alle Links zuletzt überprüft am 14.06.2022.
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/initiative-ichbinarmutsbetroffen-100.html
[3] Vgl. Fix, Birgit, Stellungnahme zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland, in: Neue Caritas Spezial (1/2021), 4-23, hier 4-5.
[4] https://twitter.com/livingwithbpd1/status/1535234148146741248
[5] https://twitter.com/VevalingJ/status/1535373047326203904
[6] https://twitter.com/deichtrote/status/1536579687232700417
[7] https://twitter.com/_ostseegoere_/status/1535247083996860416
[8] https://www.br.de/mediathek/video/ichbinarmutsbetroffen-armut-im-reichen-bayern-av:629f256476621e0009cae8f4
[9] https://twitter.com/STERNI_NMB/status/1533470290277281795
[10] https://twitter.com/livingwithbpd1/status/1533470616707383297
[11] https://twitter.com/ageofwitchcraft/status/1535246915473969154
[12] https://twitter.com/sewingowl123/status/1536735153678073857
[13] Vgl. Fix, Stellungnahme, 4-23.
[14] Werner, Gunda, Intersektionalität und Theologie, in: Heimbach-Steins, Marianne/Könemann, Judith/Suchhart-Kroll, Verena (Hg.), Gender (Studies) in der Theologie. Begründungen und Perspektiven, Münster 2021, 225-234.
[15] Leimgruber, Ute, »Unsere Chance … menschlich zu werden«. Anstöße aus der Lektüre Judith Butlers für die pastoraltheologische Rede von Menschen und Macht, in: Grümme, Bernhard/Wernder, Gunda (Hg.), Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption, Bielefeld 2020, 43-62, hier 47-48.
[16] Vgl. Bucher, Rainer, An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen und österreichischen katholischen Kirche, Würzburg 2014, 179-200.
[17] Vgl. Hoyer, Birgit, Gemeinwohlorientierung im Unternehmen Kirche, in: Bucher, Rainer, Pastoral im Kapitalismus, Würzburg 2020, 127-140.
[18] Karl, Katharina, Betteln und Predigen – Privileg oder Anstoß? Gedanken zu einer Pastoral solidarischer Präsenz, in: Möllenbeck, Thomas/Schulte, Ludger, Armut. Zur Geschichte und Aktualität eines christlichen Ideals, Münster 2015, 299-312, hier 307-308.
[19] Vgl. Pock, Johann/Polak, Regina/Sauer, Frank G.C./Tippow, Rainald, Kirche der Armen? Impulse und Fragen zum Nachdenken. Ein Handbuch, Würzburg 2020.