Gott oder Geld – ist es das, was Jesus sagen wollte? Jan-Hendrik Herbst untersucht im Rückgriff auf den Soziologen Georg Simmel diese Frage. Dabei konstatiert er, dass individuelle und kollektive Priorisierungen einer bewussten Reflexion bedürfen und die eigene To-do-Liste götzenkritisch zu hinterfragen ist.
Jesu bekannte Worte aus dem Matthäus-Evangelium provozieren zu einer Reaktion. Sie fordern eine Entscheidung zwischen dem Dienst am Gott Jesu und dem Dienst am Mammon. Dabei ist die Abgrenzung zwischen beiden eindeutig und radikal: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten.“ (Mt 6,24) Jesu Aussagen können dabei im Anschluss an die prophetische Tradition der Götzenkritik verstanden werden, deren Kritik auf der Unterscheidung zwischen dem „Gott des Lebens“ und den „Götzen des Todes“ fußt. Das Unterscheidungskriterium ist dabei die Frage nach dem Absoluten: Während im Glauben an den „Gott des Lebens“ die Subjektwerdung aller Menschen und ihr Selbstzweck inkludiert sind, zeichnen sich die „Götzen des Todes“ dadurch aus, dass sie das Absolute sind, denen sich der Mensch unterzuordnen hat.
Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. (Mt 6,24)
Eine götzenkritische Analyse gesellschaftlich-ökonomischer Strukturen wurde befreiungstheologisch wiederbelebt, wie ich es in zwei weiteren Artikeln auf feinschwarz.net bereits systematischer beleuchtet habe. Dabei habe ich die These vertreten, dass der Kapitalismus eine Religion im funktionalen Sinn darstellt. Diese Reflexionen sollen nun um eine Analyse der psychologischen Dimension des „Kapitalismus als Religion“ ergänzt werden.
In vielen Predigten zu der entsprechenden Bibelperikope wird behauptet, dass Jesus nicht Geld an sich kritisiere, sondern eine bestimmte Form des Geldes: Geld als alles bestimmendes Prinzip der Anhäufung („Götze Kapital“). Dabei wird argumentiert, dass der Begriff Mammon ursprünglich aus der aramäischen Sprache komme und so viel wie Reichtum oder Vermögen bedeute. Auf der einen Seite erscheint diese Argumentation mit Blick auf das dargelegte Unterscheidungskriterium plausibel, weil Geld erst einmal ein reines (Tausch-)Mittel ist, das das Zusammenleben der Menschen erleichtert. Gleichzeitig ist jedoch fraglich, ob der Zusammenhang zwischen dem materiellen Geld in unseren Portmonees und dem ideell-handlungsleitenden Prinzip der Akkumulation so leicht zu durchtrennen ist. Im Rückgriff auf den Soziologen Georg Simmel lässt sich sogar deutlich machen, dass beides unabdingbar miteinander zusammenhängt: Der Prozess – die Verabsolutierung des Geldes als Tauschmittel zum „Götzen Kapital“ – besitzt eine gewisse Notwendigkeit. Bei der (psychologischen) Analyse dieser Notwendigkeit wird nicht auf sein Hauptwerk „Philosophie des Geldes“ Bezug genommen, vielmehr steht sein 1889 (!) gehaltener Vortrag „Psychologie des Geldes“ im Zentrum, der wichtige Grundgedanken des Hauptwerks vorweggenommen hat.
Gilt es, eine bestimmte Art des Umgangs oder Geld an sich zu kritisieren?
Für Simmel symbolisiert das Geld die Ambivalenz der Moderne, es steht für die Entwicklung zu größerer individuell-negativer Freiheit bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung beziehungsloser Interdependenzen. Geld vereinfacht die Erreichung von Zwecken, indem es die (instrumentellen) Verbindungen und Abhängigkeiten der Gesellschaft vertieft. Die Begriffe Mittel und (absoluter) Zweck, für die götzenkritische Analyse maßgebend, sind auch für Simmel wesentlich, da er den Menschen als intentionales Wesen betrachtet: Die Einzelnen agieren in sozialen Zusammenhängen, in denen sie bestimmte Zwecke mit entsprechenden Mitteln zu erreichen suchen. Damit dies gelingt, müssen sie zum einen über sinnliche Erfahrung Erkenntnisse über Einzeltatsachen generieren, andererseits über die Verwendung ihres Verstandes die ursächlichen Zusammenhänge der Tatsachen erklären können. Wenn eine Person beispielsweise nach einem Arbeitsverhältnis sucht, wäre eine Anstellung der Zweck ihrer Handlungen. Über ihre (sinnliche) Erfahrung und die Verwendung ihres Verstandes kann sie erfassen, dass sinnvoll verbundene Einzeltatsachen – das Schreiben einer überzeugenden Bewerbung oder der persönliche Kontakt zu möglichen Arbeitgeber_innen – hilfreiche Mittel sein könnten, um dieses Ziel zu erreichen. Das Arbeitsverhältnis selbst jedoch muss sehr wohl kein Endzweck sein, vielmehr ist er wahrscheinlich selbst erneut ein Mittel, zum Beispiel zur eigenen Existenzsicherung.
Kapital: Tauschmittel oder universaler Endzweck?
Durch diese verwobenen Verbindungen der unterschiedlichsten Mittel und Zwecke entsteht ein teleologischer Bau von Zweck-Mittel-Relationen. Kennzeichnend für diesen Bau ist nach Simmel, dass die Umwandlung höherer Ziele langsam, während die Mittelbeschaffung schnell vonstattengeht. Im Zuge des Kulturfortschritts vertieft sich das Zweck- und Kausalbewusstsein des Menschen, neue Tatsachen werden entdeckt und letzte Willensziele wandeln sich. Zentral dabei ist, dass die Zahl der Glieder von Ursache-Wirkungsketten steigt und Mittel dadurch indirekter zum Zweck führen. Der Katalysator dieser Entwicklung schlechthin ist für Simmel das Geld, das als Mittel zum Tausch die Komplexität des teleologischen Baus von Zweck-Mittel-Relationen deutlich vielgestaltiger werden lässt. Simmel erklärt vor diesem Hintergrund – Personen handeln in sozialen Zusammenhängen intentional – wie Geld in gewisser Weise notwendig zum absoluten und universalen Zweck wird. Dafür führt er zwei zentrale Gründe an, der eine hängt mit der psychischen Konstitution des Menschen, der andere mit den Merkmalen des Geldes als Tauschmittel zusammen.
Simmel konstatiert, dass in der menschlichen Psyche das Prinzip der Kraftersparnis waltet. Darunter versteht er, „dass das Zweckbewusstsein sich auf die gerade vorliegende Stufe des ideologischen Prozesses konzentriert, während der weiter zurückliegende Endzweck für das Bewusstsein versinkt“. Für diesen Vorgang führt Simmel ein – zumindest für Wissenschaftler_innen – einleuchtendes Beispiel an: Ein Philologe verliert sich in seinen Forschungen im kleinsten Detail, obwohl er das große (Lebens-)Ziel besaß, eine ganze Epoche zu erforschen. Das Prinzip der Kraftersparnis führt nach Simmel dazu, dass Mittel – hier die Erforschung des historischen Details – zu einem Zweck werden, „wenn sie nur lange genug vor dem Bewusstsein gestanden haben oder wenn der damit zu erreichende Zweck in weiter Ferne liegt“. Diese Einrichtung der menschlichen Psyche hält Simmel für zweckmäßig, weil sie eine effektivere Bearbeitung der Mittel erreicht: „Müssten wir in jedem Augenblick die ganze teleologische Reihe vor Augen haben, die eine bestimmte Handlung rechtfertigt, so würde sich das Bewusstsein in unerträglicher Weise zersplittern“. Gleichzeitig ist sie folgenreich, denn der Wert der Mittel, der ursprünglich nur in der Abhängigkeit zum Zweck bemessen war, verselbstständigt sich und „haftet in psychologischer Unmittelbarkeit“ nun am Mittel, das Mittel wird zum Selbstzweck.
Der Wert der Mittel, der ursprünglich nur in der Abhängigkeit zum Zweck bemessen war, verselbstständigt sich.
Mit dem Prinzip der Kraftersparnis kann ein individuelles wie besonderes Abbrechen der teleologischen Kette erklärt werden. Der Grund für das universal-allgemeine Abbrechen der Kette und dem Wandel vom „Geld als Mittel“ zum „Geld als absoluten Zweck“ erklärt Simmel mit der Eigenschaft des Geldes farblos zu sein. Geld ist ein (fast) universales Mittel für Zwecke, die vielfältigsten und widersprüchlichsten Zwecke können alle damit erreicht werden. Das einzige, was diesen Zwecken dann gemeinsam ist, ist das Mittel Geld. Geld ist farblos, ohne bestimmte (inhaltliche) Qualität, ein abstraktes Prinzip, das alles mit allem vergleichbar macht und verbindet. Der gemeinsame Schnittpunkt verschiedener, gänzlich disparater Zweckreihen ist das Geld. Darin ist nach Simmel der „Prozess der psychologischen Emporhebung des Mittels zur Würde des Endzwecks“ fundiert. Durch die vielfältigen Zwecke, für die man Geld als Mittel verwendet, „wird es für unser Bewusstsein derart in seiner Notwendigkeit betont, dass sein Wert über den eines bloßen Mittels hinauszuwachsen scheint“. Das Mittel Geld wird zum Endzweck, weil „die damit zu erreichenden Zwecke sehr verschiedenartige und auseinanderliegende sind, weil sie sich dann gegenseitig in ihrer Verschiedenheit paralysieren und nur das ihnen Gemeinsame, das Mittel für sie alle, in umso hellerer Beleuchtung hervortritt.“
Geld ist farblos: selbst die vielfältigsten und widersprüchlichsten Zwecke scheinen durch Geld erreichbar zu werden.
Simmel begründet also mit dem psychischen Prinzip der Kraftersparnis und der sozialen Funktion des Geldes farblos zu sein, dass Geld zum universalen Selbstzweck wird. Resümierend lässt sich festhalten, dass mit Simmel die psychologische Dimension kapitalistischer Geldwirtschaft als Religion aufgedeckt werden kann, weil er erklärt wie Geld zum absoluten Selbstzweck der einzelnen Handlungen wird und dem teleologischen Bau eine Richtung und einen Sinn verleiht. Während die Geldanhäufung als religiöser Dienst angesehen werden kann, wäre der „Götze Kapital“ die angebetete Gottheit. Auch Simmel sieht eine klare Analogie zwischen Geld und Gott: „Der Gottesgedanke hat sein tieferes Wesen darin, dass alle Mannigfaltigkeiten der Welt in ihm zur Einheit gelangen, dass er […] die coincidentia oppositorum ist […]. Die psychologische Ähnlichkeit ihrer mit der des Geldes ist nach dem Vorhergegangenen klar“.
Ein Bewusstwerden über den religiösen Endzweck entzaubert den Götzen Kapital.
Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Verabsolutierung des Geldes nur eine gewisse Notwendigkeit besitzt, weil das psychologische Prinzip der Kraftersparnis bewusst reflektiert und damit relativiert werden kann. Dafür benötigt es eine aktive Auseinandersetzung mit dem teleologischen Bau von Zweck-Mittel-Relationen, die individuell wie gemeinschaftlich vollzogen werden kann. Wenn eine solche Auseinandersetzung (kollektiv) kultiviert wird, könnte der notwendige Zusammenhang zwischen dem Tauschmittel Geld und dem „Götzen Kapital“ aufgehoben werden. Damit gewinnen religiöse Praktiken wie individuelles Gebet, Gottesdienst oder tätige Glaubenspraxis eine neue Bedeutung, weil sie den – für die Gläubigen relevanten – Endzweck wieder vor das Bewusstsein stellen. Die Entscheidung, zu der Jesus provoziert, ist also eine zwischen zwei handlungsleitenden Prinzipien. Diese macht sogar die eigene To-do-Liste zu einem theologisch relevanten Gegenstand, weil die zugrundeliegende Priorisierung götzenkritisch zu hinterfragen wäre.
Jan-Hendrik Herbst, M.A. und M.Ed. (Mathematik und katholische Theologie); ausgebildeter Lehrer; promoviert an der TU Dortmund im Fach „Religionspädagogik“.
Bild: I_vista / pixelio.de