Das, was unter keinen Umständen passieren durfte, ist geschehen. Nicht nur bei den anderen, sondern hier, mitten in der eigenen Kirche. Und nicht einmal, sondern immer wieder – und wahrscheinlich fortlaufend, wie die Forscher der deutschen Missbrauchsstudie sagen. Eine Standortbestimmung versucht Daniel Bogner.
Lange habe ich an das Gute und Richtige der Kirche geglaubt, trotz aller Probleme und trotz ihrer notorisch langsamen Lernfähigkeit. Doch dieser Glaube verdunstet gerade im Zeitraffertempo: Die nicht endende Missbrauchskrise, Nihil-obstat-Herrschaft, „Abtreibung ist Auftragsmord“ et cetera. Wird etwas bleiben? Ich weiß es nicht. Für den Theologen stellt sich die Frage: Wie kann man selbst noch glaubwürdig bleiben angesichts des Glaubwürdigkeitsverlustes der Institution, für die man wirkt und mit der man verhaftet wird? Zuallererst, indem man die Lage analysiert, ehrlich und ungeschönt, so wie sie ist. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32) – eigentlich nicht mein biblischer Lieblingsvers. Aber er gewinnt gerade existenzielles Gewicht. Zehn Punkte zur gegenwärtigen Situation:
1. Echte Umkehr statt persönlicher Befindlichkeit
Reue zu zeigen, ist ein notwendiges Zeichen. Bleibt eine nachfolgende Verhaltensänderung aber aus, wird das Zeichen erst schal, dann trivial und irgendwann erzeugt es nur noch Wut und Ablehnung. So ist es mit der Zerknirschung, die Bischof Ackermann anlässlich der Veröffentlichung der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch von Priestern an Minderjährigen an den Tag legt. Er ist Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, und dies seit acht Jahren. Seit 2002 befassen sich die Bischöfe mit dem Thema Missbrauch, vor bereits vier Jahren wurde die Studie in Auftrag gegeben. Das hat zu keiner nennenswerten Verbesserung der Situation geführt, strukturelle Fragen wurden nicht angegangen, naheliegende Maßnahmen, etwa eine verbindliche bistumsübergreifende Bearbeitung der bekannt werdenden Fälle, bleiben aus.
Man muss den Bischöfen sagen: Die Zeit ist vorbei, in der das Zeigen persönlicher Befindlichkeit – und sei sie ehrlichen Herzens, woran ich nicht zweifle – noch etwas lindern könnte. Wo längst wirksames Handeln gefragt wäre, wird die persönliche Betroffenheit zum leeren Gestus und verschlimmert alles noch weiter. In der Situation höchster Not ist vom Amtsträger amtlich wirksames Handeln gefordert. Stattdessen demonstrative Hilflosigkeit. Das verquälte Sich-Winden verbindet sich bei Bischof Ackermann mit einer Undeutlichkeit, die sich nach Verschleierung anfühlt: „Ich hoffe…“, so seine häufige Antwort, etwa auf die Frage, ob die Missbrauchsopfer nun Akteneinsichtsrecht hätten. „Nur mit den Betroffenen“ wolle man weiter vorangehen in der Aufklärung – denen wäre es sicher lieber, nicht auch noch diese Rolle spielen zu müssen, wenn sie denn sähen, dass die Kirche entschiedene Schritte der Umkehr einleitet. „Im Zusammenwirken“ mit Akteuren von außen – aber bitte ohne dem Staat die Regie in der Aufklärung zu überlassen und sich damit – für einmal! – abhängig zu machen in der Suche nach der Wahrheit. „Extra ecclesiam nulla salus“, die Formel ist hintergründig weiter wirksam.
2. Gute Strukturen, nicht (nur) gute Menschen
Woher dieses so befremdlich erscheinende Verhalten einer Institution? Die Beharrungskräfte der römischen Kirche sind wohl so groß, dass selbst die wohlmeinenden unter ihren Bischöfen unsensibel werden für ihre problematische Rolle und den damit noch beschleunigten Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche. Die Problematik ist nicht personell, sondern strukturell: Nicht an Bischöfen mit einem guten Herzen fehlt es, sondern an Strukturen, die gut sind. Es ist ein seltsamer Spagat, den Kirchenführer heute bewerkstelligen müssen: Sie lenken eine Institution mit der Verfassung einer absolutistischen Monarchie, die ohne Gewaltenteilung auskommt. In ihr ist zwar von der gleichen Würde aller Menschen vor Gott die Rede, diese ist aber nicht – wie beim neuzeitlichen Verfassungsstaat – als Kriterium der gleichen Freiheit aller zum Rechtsmaßstab erhoben. Welch verhängnisvolle Inkonsequenz – wie nun dramatisch offenbar wird. Und dann haben es dieselben Kirchenführer (es sind ja nur Männer!) mit Kirchenmitgliedern zu tun, die – wie sie selbst – in der Welt von heute stehen. Es ist wahrlich keine perfekte Welt, aber eine Welt, in der Demokratie, gleiche Rechte auf Teilhabe und Mitgestaltung und das Kompetenzprinzip zu hohen Werten geworden sind, und das nicht erst gestern.
3. Moral sticht Recht – ein zweifelhafter Algorithmus
Die Struktur der Kirche entwickelt also Beharrungskräfte, so dass im Zweifelsfall der Selbstschutz den sachlichen Aufklärungswillen aussticht. Was muss kaputt sein, dass dies zugelassen wird? Martin Brüske sagt: Die Kirche ist geistlich krank. Fragen der Organisationshoheit (ihre diözesane Struktur) werden als Grund genannt, mit dem man ein übergreifendes, nationales Aufklärungs- und Meldewesen verweigert. Kirchengeschichtlich begründeter Regionalismus als Selbstschutzmechanismus. Sich auf bindendes Recht einlassen, gar staatliche – und das bedeutet rechtsstaatlich fundierte – Kontrolle zulassen? Der eigene, im frommen Herzen wurzelnde gute Wille wird immer noch höher geschätzt als rechtliche Verbindlichkeit. Moral sticht Recht – diesen Algorithmus kennen viele religiösen Traditionen. Wo die Religion aber als mitgliederstarker Sozialkörper auftritt, mit ausdifferenzierten Zuständigkeiten und Befugnissen, wird das Recht zur notwendigen Grammatik der Gemeinschaft.
4. Selbstheilung im Absolutismus – unmöglich!
Der Ausfall eines (freiheitlichen) Rechts, die Beharrungskräfte der Tradition, die Kultur des Selbstschutzes – all das zeigt etwas organisationssoziologisch Zentrales: In einer absolutistischen Monarchie gibt es quasi keine wirksamen Selbstheilungskräfte. Natürlich: Die vielen Aufbruchsbewegungen eines Reformkatholizismus waren und sind aktiv – aber haben sie es wirklich vermocht, das Gesamt in seinen tiefsten inneren Reflexen nachhaltig zu verändern? Die Missbrauchskrise und der Umgang der Kirche damit werfen Zweifel auf. Kein Vergleich zu den Reformimpulsen, die etwa von sozialen Bewegungen im gewaltenteilig organisierten Staat und seiner Gesellschaft ausgehen: Nach wenigen Generationen schon haben die Mitglieder das Gemeinwesen mit ihren im Modus des Protestes, der Reform, der Umgestaltung eingebrachten Werten geprägt.
Wie kann die Kirche als Organisation lernen? Kann sie es überhaupt? Ich verstehe jeden, der darüber frustriert ist. Nicht umsonst setzen so viele ihre Hoffnung auf den Papst. Aber was ist das für ein absolutistisches Modell von Veränderung: Einer muss es jetzt richten, alle Erwartungen werden in ihn gelegt. Wehe, wenn der scheitert oder dann doch anders agiert als erhofft. Wie ernüchternd: Dass man als katholisches Kirchenmitglied dem „Putsch von oben“ am meisten Erfolgsaussichten einräumt, nicht dem sozialen Handeln an der Basis.
5. Eine Leitung, die nichts mehr repräsentiert
Vor kurzem begann die Erstkommunionvorbereitung einer unserer Töchter mit einem Familientag. Bei einem Austausch der Eltern meinte dort ein Vater: „Ich will die Erstkommunion für mein Kind, weil Kirche ist für mich eh nicht das, was oben läuft, sondern die Gemeinde vor Ort.“ Man kann das so sehen, vielfach hat man gar keine andere Wahl. Aber keiner gebe sich Illusionen hin: Dass der Vater so formuliert, ist Folge einer dramatischen Krise, die in anderen Sozialkörpern schon zum Kollaps geführt hätte. Die amtlichen Strukturen repräsentieren für viele schon längst nicht mehr, was Kirche eigentlich ausmacht. Eine freidrehende Leitungsstruktur aber, die von der eigentlichen Erfahrungsebene der Menschen entkoppelt ist, wird zum Problem: „Leitung“ wird zwar rituell inszeniert, aber sachlich nicht wahrgenommen, weil man mit den Adressaten dieser Leitung nicht mehr organisch verbunden ist. Dass viele Bischöfe integre Personen und persönlich angenehme Menschen sind, ist noch nicht mal ein schwacher Trost.
6. Kirchenverlust durch Leitungsversagen
Es ist nicht mehr weit, dass Gläubige die Lage mehrheitlich so deuten wie kürzlich eine Frau, Gast in der Talksendung bei Sandra Maischberger: „Ihr macht uns die Kirche kaputt!“ Gemeint sind Bischöfe, die mit ihrer Machtfülle nach säkularem Verfassungsverständnis als der Souverän der Kirche zu bezeichnen wären, sich aber nicht in der Lage sehen, diese Kirche verantwortungsvoll zu reformieren, so dass Gläubige in einer Art Verzweiflungshoffnung auf den Papst setzen müssen. Wo der grundsätzliche Spurwechsel, der in einer hierarchischen Organisation wie der Kirche von oben ausgehen muss, ausbleibt, gibt es Leidtragende: Das sind, oft vergessen, auch viele engagierte Priester, die nach bestem Wissen und Gewissen und mit einem Einsatz an der existenziellen Schmerzgrenze gegen die äußeren Rahmenbedingungen zu retten versuchen, was zu retten ist. Und es sind die Laien, das „Kirchenvolk“, die gläubigen Menschen, diejenigen, die eigentlich Kirche „sind“. Ihnen wird das Kirche-sein-können quasi auf kaltem Weg entzogen – Kirchenverlust durch Leitungsversagen.
7. Der „tote Winkel“ gläubiger Existenz
Als Kirchenmitglied, das die Probleme und Skandale sieht, aber immer noch gläubiger Mensch bleibt, befindet man sich in einer schwierigen Lage. Vielleicht ist es der „tote Winkel“ gläubiger Existenz. Man kann – auch aus Überzeugung – „nicht ohne“ die anderen seinen Glauben leben. Nicht ohne das, was man biografisch als Kirche erlebt hat, was die Traditionen des Alltags, des Jahresverlaufs und des Lebens prägt. Zur Kirche zu gehören, ist für viele Menschen nicht eine Zugehörigkeit wie die Vereins- oder Parteimitgliedschaft. Nein zu sagen und auszutreten, ist nicht in derselben Weise eine Option, wie dies anderswo längst normal wäre.
Jenseits aller kämpferisch vorgetragenen Kirchenkritik ist es ein scheinbar unauflösbares Paradox – dass man bestehende Strukturen mit ihren lebensfeindlichen Effekten zutiefst ablehnt, aber dennoch nicht von der Kirche lassen kann. Gläubige sind nicht frei in ihrer Solidarität zur Kirche. „Dann geh’ doch rüber“ ist keine wirkliche Option. Kein Kirchenführer sollte meinen, bestehende Strukturen wären nicht längst stärkerer Kritik ausgesetzt und viele auch hinweggefegt, gäbe es nicht diese in der Sache begründete Bindung, die in der Stunde der Not zu einer problematischen Passivität des Kirchenvolkes führt.
Was also sollte geschehen? Drei Ebenen sind adressiert:
8. Die Verantwortlichen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden
Wer Verantwortung trägt, muss dazu stehen. Das kann sich vielfach ausdrücken: Zeichenhaft, durch einen Rücktritt vom Amt aufgrund besonderer Schwere des amtlichen Versagens. Es ist beschämend, dass auf einen so naheliegenden Schritt offenbar kein einziger der Bischöfe kommt, obwohl ihnen der Bericht der Forschergruppe nach eigenen Worten doch sehr nahe ging. Entscheidend ist nicht, ob die dokumentierten Taten in die persönliche Amtszeit eines Bischofs fallen, sondern die Tatsache, dass der aktuelle Amtsinhaber mit seiner Person für die Integrität der Institution bürgt. Ein Rücktritt ist so etwas wie eine Spielunterbrechung und macht eine Ansage: „Hier stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht und ich möchte, dass das gerade gerückt wird, nachhaltig und gründlich.“ Es geht vielleicht auch anders: Warum schließen sich nicht die jüngst ernannten Bischöfe einmal zusammen und unternehmen eine Initiative, die ihren Mitbischöfen vor Augen führt: So kann es nicht weitergehen – man ist nicht Bischof geworden, um jene Praktiken, Usancen und Gepflogenheiten weiterzuführen, die in die aktuelle Krise geführt haben.
Es gibt sicher noch andere Arten der Reaktion. Aber warum setzt sich nur der Eindruck fest, die Bischöfe sind zwar stark im Bedauern einer Situation, aber schwach in konkreten, nachhaltigen und verändernden Schritten, die dem Übel auf den Grund gehen? Mein Verdacht ist: Bischöfe in dieser Kirche werden in einen Amts-Habitus hinein sozialisiert, der schnell blind macht für das „kleine Einmaleins“ der politischen Moral, der dafür mit einem Gestus der Erhabenheit (Rainer Bucher) ausstattet, der aus einer anderen (monarchischen, vormodernen) Zeitrechnung stammt: Kritik, Kontrolle und die Rechtsunterworfenheit des Souveräns jedenfalls gehören nicht zu diesem Amtskleid.
9. Der Staat muss endlich handeln
Nach der Kirche selbst ist der Staat direkter Adressat in der Krise: Er muss aufwachen und etwas tun, der Kirche nicht mehr durchgehen lassen, was sie unter Aufbietung ihrer organisationshoheitlichen Rechtstitel zu bewältigen vorgibt. Aber was passiert hier augenblicklich: Ein gesellschaftlicher Akteur vermag es offenbar nicht, das von Seiten der Politik in ihn gesetzte Vertrauen zur selbständigen Aufarbeitung zu rechtfertigen. Die staatskirchenrechtlichen Arrangements dürfen in einer solchen Lage nicht dazu dienen, die kirchliche Organisation auf Kosten der Opfer zu schützen. Der Staat ist vielmehr aufgerufen, der Kirche autoritativ entgegen zu treten und eine Weise der Aufarbeitung durchzusetzen, die definitiv an den Interessen der Opfer und nicht an denen der Institution orientiert ist.
Warum nur kommt dieser Ruf nicht aus der Kirche selbst? Wäre es nicht Aufgabe der katholischen Laienorganisation (etwa des Zentralkomitees der deutschen Katholiken), eine solche Politik zu formulieren und innerhalb der Kirche dafür zu werben?
10. Das Denken muss sich ändern
Die langfristig entscheidende Ebene ist eine inhaltliche: Natürlich ist mit der Missbrauchskrise die traditionelle katholische Sexualmoral in ihre ultimative Krise geraten. Warum kennt die Kirche im Grunde keine Sprache für die kreative und identitätsstiftende Dimension gelebter und frei entfalteter Sexualität? Wann endlich gelingt es ihr, mit Homosexualität als natürlicher Form menschlicher Identität wertschätzend und würdigend umzugehen? Wie könnte die zölibatäre Lebensform wieder gelebte Zeichenhaftigkeit werden, nicht aber Anziehungspunkt für Menschen mit gestörter psychosexueller Prägung? Diese und andere Fragen gehören dringend offen diskutiert – in kirchlichen Ausbildungsstätten, Seminarien und Kirchenverwaltungen. Das alles muss nicht neu erfunden werden: Ideen und Konzepte für eine Erneuerung der „Sexualmoral“ im Blick auf eine Ethik der Lebens- und Beziehungsformen liegen in den Schubladen der Moraltheologen und christlichen Ethikerinnen. Wann wenn nicht jetzt ist der Zeitpunkt dafür, dass dies auch kirchlich rezipiert wird?
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Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.
Das Foto zeigt die Blüte der Bischofsmütze (Astrophytum myriostigma), eine Pflanze aus der Familie der Kakteengewächse, die in der mexikanischen Wüste vorkommt. Erwin Lorenzen / pixelio.de