Bezugsweise hätten sie sich entwickelt, Christentum und Judentum, so wird oft gesagt. Aber wie genau ging das vonstatten? Und was kann man wirklich daraus gewinnen? Helga Kaiser berichtet von ihren eigenen Lernerfahrungen.
Wer exegetisch arbeitet, zitiert selbstverständlich aus Talmud und Midrasch. Aber Hand aufs Herz: Wie selten habe ich den Talmud aufgeschlagen oder einen Midrasch gelesen … Zu unübersichtlich, zu wenig Ahnung, zu wenig Zeit. Kürzlich bot sich endlich eine Gelegenheit. Und ich lernte Vieles, was ich noch nicht wusste, nicht ahnte, nie gehört hatte – vor allem über die jüdisch-christlichen Austauschprozesse der ersten Jahrhunderte. Vier Punkte bleiben mir besonders haften.
Meine erste Erkenntnis: Der Bar-Kochba-Aufstand ist das einschneidende Ereignis
Im Jahr 70 n. Chr. zerstörte das römische Heer den Tempel in Jerusalem – ein tiefer Einschnitt in jüdisches Leben, Kult und Religion. In meiner simplifizierten Vorstellung wurde dadurch das rabbinische Judentum geboren. Doch es entsteht in einem langen Prozess als eine Lese- und Lerngemeinschaft der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Der Talmudforscher Daniel Boyarin sieht in der Niederlage des Bar-Kochba-Aufstands (im Jahr 135) das wichtigere Ereignis für das sich entwickelnde rabbinische Judentum. Mit der vollständigen Niederlage und dem Tod von Bar Kosiba (genannt Bar Kochba, „Sternensohn“, auf dem riesige Hoffnungen ruhten) waren alle Aussichten auf jüdische Unabhängigkeit, Selbstverwaltung und Tempelneubau gescheitert. Die Rabbinen nannten ihn nun desillusioniert Bar Koziba, „Lügensohn“. Die Niederlage muss eine Enttäuschung gewesen sein, deren Grad man kaum ermessen kann – und ein Katalysator. Wichtig wird nun dies: lesen, lernen, diskutieren, sich kennen lernen, die Gebote leben, Gemeinschaft entstehen lassen – und eben darin öffnet sich Raum für das Göttliche.
Die zweite wichtige Lernerfahrung: Nachfahren der Pharisäer – was heisst das?
Als nächstes muss ich die historischen Verhältnisse neu denken lernen. Die Rabbinen sind nicht einfach die Nachfolger und Erben der Pharisäer. Jens Schröter (Berlin) formuliert es viel offener: Das Judentum hat nach der Tempelzerstörung Bewährtes weitergeführt. Dazu gehörten auch die Lehren und die Toraauslegung der Pharisäer, aber nicht nur ihre. Die Pharisäerforschung versucht heute herauszufinden, welchen Einfluss die Pharisäer an Orten hatten, an denen das Johannes- und Matthäusevangelium entstanden sind, um deren antipharisäischen Reflex besser zu verstehen. Denn wenn sich Jesus mit den Pharisäern auseinandersetzt, könnte das ebenso Kontroversen des späten 1. Jahrhunderts vor Ort spiegeln.
Weil eben von diesen Konflikten mit den Pharisäern in den Evangelien eine Linie zum christlichen Antisemitismus führt – spätestens im Antisemitismus des 19. und 20. Jh. wurde sogar der Talmud, Kern der rabbinischen Gelehrsamkeit, als Waffe gegen die Juden in Deutschland eingesetzt – ist ein historisch angemessenes Bild von den Pharisäern nötig: Sie sind eine jüdische Gruppierung, die sich engagiert um die Auslegung der Tora für den Alltag bemüht hat.
Neu ist mir, dass die Pharisäer in jüdischen Gemeinden bis heute ein hohes Ansehen genießen: Man versteht sich als ihre Nachkommen, so Annette M. Boeckler (Bonn). Gerade weil die Pharisäer im Christentum lange Zeit negativ besetzt waren, betonten z. B. Leo Baeck oder Abraham Geiger und viele andere die positiven Errungenschaften der Pharisäer.
Ein weiterer Lernaspekt ist, die rabbinische Bewegung als eine Art Netzwerk zu denken. Ein Netzwerk, das nicht automatisch die Lehrer in den Synagogen stellte. Lehrhaus und Synagoge sind offensichtlich bis ins 4./5. Jh. hinein weniger eng verbunden, als ich dachte. Die Rabbinen hatten vermutlich auf Gebet und Gottesdienst in den Synagogen nur bedingt Einfluss. Günter Stemberger (Wien) meint dazu im Interview, „dass man als Rabbi manchmal höchstens sagen konnte: Lass sie machen …“. Es gibt rabbinische Texte, die raten, man solle sein Studium nicht unterbrechen, nur um in die Synagoge zu gehen, etwa zu Gebet und Predigt. Mit wachsender Akzeptanz nimmt die rabbinische Bewegung auch in den Synagogen mehr Raum ein. Toralesung, rabbinische Lehre, Schriftauslegung und Disput siedeln sich an, Lehrhaus und Synagoge ergänzen sich – bis heute. So schärft sich mein Bild nochmal: Die Autorität der Rabbinen setzt sich erst nach und nach, in Richtung 4./5. Jh., durch.
Mein dritter Aha-Effekt: Rabbinen & Kirchenväter
Gewöhnlich blickt man mit dieser Perspektive: Das Judentum entwickelt sich nach der Tempelzerstörung geradlinig weiter, unbeirrbar und unbeeinflussbar; das Christentum spaltet sich davon ab und arbeitet sich in antijüdischen Polemiken am Judentum ab. Es ist Zeit, auch dieses Einbahnstraßen-Bild zu revidieren. Der Judaist Peter Schäfer hat das bereits vor Jahren getan mit Forschungen wie „Die Entstehung des Judentums aus dem Geist des Christentums“ (2010). An anderer Stelle legt er dar, dass das Buch Bahir, das erste kabbalistische Werk, auch von südfranzösischer Marienfrömmigkeit inspiriert gewesen ist.
Man muss sich das klar machen: Die rabbinischen Gelehrten sind die Zeitgenossen der Kirchenväter der ersten Jahrhunderte! Sie reagieren auf Themen des Neuen Testaments und der frühen Kirche: auf Erzählungen der Geburt Jesu, seiner Wunder oder auch auf die Trinitätstheologie.
Besonders im Midrasch Genesis Rabba hat Matthias Morgenstern (Tübingen) untersucht, wie in subtiler Weise Reaktionen auf christliche Lehrsätze transportiert werden. Sichtbar wird das etwa dann, wenn Adam, dem ersten Menschen, im Midrasch kosmische Dimensionen zugeschrieben werden: Gott schuf ihn so, dass er die ganze Welt erfüllte. Das entzieht der Aussage aus Kol 1,15, dass Christus das „Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ ist, die Grundlage. Braucht die Menschheit einen zweiten kosmischen Adam, wenn der erste doch schon alles erfüllt? Morgenstern geht sogar so weit, zu sagen, dass in Talmud und Midrasch inzwischen Reaktionen auf so gut wie jedes Thema des Neuen Testaments ausfindig gemacht werden können.
Und last but not least: Der Weg der Frauen ist weit …
Mit einem geregelten und vertiefenden Torastudium für Frauen ist in der rabbinischen Zeit nicht zu rechnen. Das stellt die Theologin Tamar A. Avraham (Jerusalem) fest. In Familie und Haushalt mussten Frauen natürlich die relevanten Vorschriften der Tora kennen. Haben sie darüber hinaus am heimischen Tisch mitdiskutiert? Vereinzelt werden Bibelzitate von Frauen überliefert oder auch gelegentlich ein gelehrtes Wort. Diese Frauen waren zumeist Töchter, Schwestern, Ehefrauen oder Dienstmägde von Rabbinen, sie lebten also in einem Haus, in dem viel über die Tora gesprochen wurde. Vielleicht greift auch hier, wie in der christlichen feministischen Theologie, die Hermeneutik des Verdachts, nach der jeder Ausschluss von Frauen von Bildung auch als Hinweis auf ihr Interesse und ihr Einfordern von Bildung gelesen werden kann. Und wie immerhin in den meisten christlichen Kirchen ist es in einem großen Teil der jüdischen Richtungen heute selbstverständlich für Frauen, Tora oder Theologie zu studieren.
Auf die Frage an Günter Stemberger im Interview, was er die frühen Rabbinen gern fragen würde, wenn er sich in ein Lehrhaus der ersten Jahrhunderte zurückversetzen könnte, hat er geantwortet: „Ich würde mich freuen, einige Stunden einfach ihren Diskussionen zuhören zu können“. Das berührt mich: Einer der weltweit renommiertesten Judaisten würde dem Disput über die Schrift lauschen! Ein starkes Bild dafür, wie sich das Christentum vom Judentum inspirieren lassen könnte. Wie wäre es, wenn wir einfach viel mehr zuhören und immer weiter lernen würden?
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Die Theologin Helga Kaiser ist wissenschaftliche Referentin und Redakteurin im Katholischen Bibelwerk e. V. Sie berichtet hier über ihre Erfahrungen als Redakteurin der Ausgabe „Rabbinisches Judentum und frühes Christentum“ der Zeitschrift Welt und Umwelt der Bibel.
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