Monika Hungerbühler verbrachte im Sommer 2022 eine Auszeit im Kloster Monastero San Lorenzo. Feinfühlig nimmt sie die Lebensweise der Schwestern, Stimmungen, Liturgien und die prachtvolle Natur mit ihren Düften wahr. Ein Bericht mit Bildern.
Vom 13. Mai bis zum 26. Juni 2022 lebte ich in einem Kloster, d.h. eigentlich in einer Klostergemeinschaft im Exil. Im August 2016 wurden in Mittelitalien infolge von mehreren starken Erdbeben die Häuser ganzer Landstriche zerstört und verschüttet. Viele Häuser sind bis heute unbewohnbar, da einsturzgefährdet. Betroffen war auch das mittelalterliche Städtchen Amandola in der Region Marken am Fusse der Monte Sibillini und das dortige Kloster Monastero San Lorenzo.
Die 9 Schwestern mussten in ein Haus ziehen, ca. 6 km vom Kloster entfernt. Dieses Landhaus war bisher für Besucher*innen-Gruppen des Klosters vorgesehen und stand zufällig leer. Dort war ich zu Gast.
Warum ins Kloster?
Nach über drei Jahrzehnten im kirchlichen Dienst war mir eine persönliche Zäsur wichtig. Ich stellte mir eine Auszeit vor an einem schönen Ort, wo ich auf meine Berufsarbeit zurückblicken und sie nachklingen lassen könnte, wo ich aber nicht ganz allein wäre, sondern in einer Art loser spiritueller Gemeinschaft – ein halber Tag Mitarbeit, ein halber Tag für mich – leben könnte. Ora et labora. So kam ich aufs Kloster. Am liebsten in Italien – der Sprache, des Essens und vor allem des Lichts wegen. Das Frauenkloster wurde mir von einem Freund meines Bruders vermittelt, der den Ortspfarrer seit langem kennt. So einfach kam ich zu dieser Adresse. Während der Zeit im Kloster habe ich viel geschrieben. Hier einige Auszüge daraus.
Die Schwestern
Die Schwestern sind nett. Jede auf ihre Art. Am meisten unterhalte ich mich mit der Äbtissin. Sie ist etwa gleich alt wie ich – eine kleine quirlige Italienerin aus der Gegend. Sie betont immer wieder, dass sie die kleine Klostergemeinschaft ohne die vier Nigerianerinnen nicht halten könnte. Zwei italienische Schwestern sind sehr alt und zwei sind krank, können also nur wenige der anfallenden Arbeiten ausführen. Die Nigerianerinnen sind jünger (zwischen 48 und 52) und packen richtig an. Sie erledigen sämtliche schweren körperlichen Arbeiten.
Meine Casetta
Ich wohne vis-à-vis vom Haus der Schwestern in einem kleinen Container-Häuschen, das alles hat, was ich brauche: Tisch, Stuhl, Bett, Schrank, Dusche, Toilette. Das Häuschen ist erst zwei Jahre alt. In der ersten Woche gibt es kein heisses Wasser. Danach funktioniert aber alles gut. Ich bin sehr froh um meinen eigenen Ort.
Essen
Die nigerianischen Schwestern wechseln sich alle 2 Wochen ab beim Kochen. Gewisse Dinge kocht die Äbtissin. Sie kann das gut. Aber nie essen alle zusammen. Immer fehlen mindestens zwei, wenn nicht die Hälfte der Schwestern. Die Nigerianerinnen arbeiten abends lange in ihren verschiedenen Gärten und essen später. Sie kochen teils auch ihre eigenen Gerichte, z.B. einen hellen Brei aus Maniokmehl, den R. lang in einem kleinen Holzzuber mit einem dicken Holzstab stampft. Ich probiere, mag ihn aber nicht. Alle (ausser mir) essen viel Fleisch. Die Pasta ist immer gut. Alles andere variiert stark. Supergut waren die Barbadifratte und die Artischocken aus dem Garten. Je länger ich hier bin, gibt es frisches Gemüse und Früchte: Zucchini, Gurken, Tomaten und Pfirsiche.
Nach dem Essen wäscht jede Schwester ihr eigenes Geschirr und Besteck ab. Als ich einmal Geschirr einsammle, abwasche und über dem Trog abtropfen lasse gibt es eine grosse Konfusion. So geht das nicht! Jede Schwester wäscht ihr eigenes Geschirr selbst ab!
Messe und Gebete
Jeden Morgen kurz vor acht fährt der Priester vor. Die Messe, an der ich anfangs jeden Morgen teilnehme, ist bis auf die Bibeltexte immer genau gleich. Wie ich sie vor 50-60 Jahren als Kind kannte. Kein Wort des Grusses, kein aktuelles Wort von Flüchtlingen, vom Krieg gegen die Ukraine, von Armen hier und dort, von missbrauchten Ordensfrauen… Der Priester pflegt eine Frömmigkeit, die den Schwestern offenbar entspricht. Er kniet lange, sehr lange, schliesst immer wieder die Augen. Er spricht innig. Diiio omnipoteeeente, Maaaadre di Diiio, mia masssssimmmma cuuuuulpa…. Die afrikanischen Schwestern machen Musik. Alle vier haben ihr Instrument: Trommel, Bongo, Schellenringe…
In der 5. Woche kann ich plötzlich nicht mehr in die Messe gehen. Ich spüre einen tiefen Widerwillen und entscheide mich, nicht mehr hinzugehen. Stattdessen gehe ich in die Laudes und beginne den Tag mit schönen Gesängen und Psalmen. Für die Äbtissin ist das kein Problem, für die nigerianischen Schwestern jedoch schon.
Handy und Fernseher
Beim Hacken und Pflanzen, beim Abwaschen, Bügeln, Kochen, beim Nähen und Flicken – immer tönen ein oder mehrere Handys oder der Fernseher mit dem Rosenkranz oder einem nigerianischen Prediger mit unangenehm lauter Stimme oder es läuft eine Messe am Fernsehen. Dazwischen laufen doofe Quizsendungen jeden Abend dieselbe, als Fortsetzung auf Rai Uno! Diese Lärmquellen gehören für mich zum Unangenehmsten. Ich erlaube mir manchmal sämtliche Türen zu schliessen, wenn ich den Fernsehton nicht mehr ertrage. Oder ich bitte darum, die Handys leiser zu stellen. Die Stille draussen ist so unvergleichlich schön mit viel Vogelpfeifen und Froschquaken und weit entferntem sehr leisem Hundegebell!
Pflanzen
Der Garten ist eine wahre Pracht. Die Nigerianerinnen hegen und pflegen ihn und arbeiten sehr hart von Hand und mit verschiedenen Maschinen. Ich helfe beim Jäten. Auf dem grossen Platz vor dem Haus steht eine 200-jährige Eiche in voller Kraft. Ich liebe die Olivenhaine hinter, vor und neben dem Haus. Die Bäume sind kleinwüchsig. Es ist Blütezeit. Ich wusste nicht, dass sie ganz winzige gelbe Blüten haben. In ihnen summt es ununterbrochen. Das Haus ist auch umgeben von kleinen und grossen Artischockenpflanzen, deren Früchte wir ernten dürfen. Es hat Rosen in allen Grössen, Farben und Duftnoten. Wunderbar. Schwester G. hat vor einem Jahr auf dem gerodeten Hügel hinter dem Haupthaus div. Fruchtbäume gepflanzt: Pfirsiche, Aprikosen, Mandeln, Birnen, Äpfel, Kirschen. Auch ein grosser Ginsterstrauch steht dort und duftet wunderbar.
Wenn ich mit dem Velo unterwegs bin, berausche ich mich an vielfältigen Düften, durch die ich hindurchradle. Manchmal ist es geschnittenes Gras, das bei Hitze einen Duftschwall abgibt, dass ich betört bin, manchmal sind es ganze Landstriche voller Holunder (sambuca), Lindenblüten. Und gewisse Bäume lassen in warm-zarten, schneeflockenartigen Bällchen ihre Blüten fallen. Es ist wie ein sommerliches Schneien.
Das Patriarchat im Frauen-Haus
Dio Omnipotente und il Signore sind allgegenwärtig in den Psalmen und Gebeten. Sie sind die Herren im Haus. Ihnen und natürlich dem Spirito Santo haben sie ihr monastisches Leben gewidmet.
Der Priester ist Symbol und Garant dieser Männerherrschaft im Kloster-Frauen-Haus. Er spricht angesichts von 9 Nonnen, mir und dem Helfer für Alles nur von filii di Dio, von servi und so weiter. Wir alle sind Söhne und Knechte und Sklaven und Gott ist immer Herr, König, Herrscher, der Allmächtige, der Allgewaltige, der Allerbarmherzigste usw. Es ist ein altbekanntes und unerträgliches Korsett in unendlicher Wiederhol-Schlaufe. Einmal hat der Priester süffisant lächelnd doch filie e filii gesagt mit Hinweis auf mich, da ich interveniert hatte («oh, questa sensibilità»). Aber danach geht alles wie gewohnt weiter in der immer selben patriarchalen Manier. Ich spreche leise meine mütterlich-weiblichen Gebete in den Raum, wo sie nun gelandet sind und weiterflüstern.
Viele Regeln
Das Leben der Schwestern ist von Regeln geprägt gemäss der alten Ordensregel des Heiligen Benedikt. Die Schwestern stehen ca. um 5h morgens auf und das erste Gebet ist um 5.45h. Das Gebet dauert bis ca. 6.45h. Bis zur Laudes um 7.15h arbeiten sie. Die Laudes dauert bis kurz vor 8h, dem Beginn der Messe. Der Priester, ein Kapuziner, liest die Messe. Das Mittagsgebet ist um ca. 12.15h, die Vesper um ca. 17.30h und die Complet um 21.30h.
Die Kleiderordnung variiert ganz schwach. Der Schleier ist normalerweise schwarz, doch wegen des leichteren Stoffs und der Farbe können sie auch einen weissen Schleier tragen. Was jedoch immer getragen wird ist die vollständige Ohren- und Halsbedeckung und der anschliessende runde Kragen. Die Badessa hat oft ein völlig rotes Gesicht und schwitzt stark. Ebenso ist der Habit schwarz, doch in der Hitze gibt es ein mittelblaues Gewand aus leichter Baumwolle. Ab und zu sieht man nackte Füsse oder sogar Beine! Da kann der feine Wind dann die Beine umwehen. Doch meist tragen alle Schwestern schwarze Strümpfe oder Socken und geschlossene schwarze Schuhe. Einmal als der Wind stark weht, wird der Schleier von Suora S. vollständig auf die Seite geweht und ich sehe kurz ihre Haare. Es ist, wie wenn ich sie aus Versehen nackt sehe. Sehr berührend. Darauf zeigt mir auch Suora P. kurz ihre kurzen grauen Haare. Das rührt mich sehr!
Wallfahrten
In den sechseinhalb Wochen machen wir drei Wallfahrten: nach Assisi zu den Heiligen Franziskus und Clara, nach Loreto zur schwarzen Madonna und nach Cascia zur Heiligen Rita. F., der Helfer in allen Lebenslagen, leiht sich ein Büssli und kutschiert die Nigerianerinnen und mich sicher hin und zurück.
Gutes und Hilfreiches
Wenn ich an die Zeit im Kloster zurückdenke, kommt mir zuerst die Freundlichkeit der Schwestern in den Sinn. Trotzdem werde ich nicht mehr bei ihnen leben können. Einen Tages-Besuch machen schon. Die Spiritualität dieser italienischen Benediktinerinnen ist mit zu fremd. Genossen habe ich die Stille am Nachmittag, wenn alle ihren Riposo machen, die 200-jährige Eiche beim Tor, die Pasta lunga o corta, das abendliche Licht, wenn die Äbtissin zum jungen Kätzchen sagt: Amore!, das Zirpen der Grillen, das Rauschen des Bachs beim Santuario Madonna del’Ambro, der Schaum des Cappuccino in Amandola, der Mohn in allen Feldern, die Wärme, der Duft der Zitronenblüten, das Baden im Meer, das Velofahren, die immer neuen Worte, die ich lerne, das Wandern auf dem Monte Sibilla, die stille Kompetenz und Zuvorkommenheit des Apothekers und seine Umarmung zum Abschied, das Lächeln von Suora A.
Beitragsbild und alle Fotos: Monika Hungerbühler